Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Bühnenfassung) |
Karl Kraus: Die letzten Tage der MenschheitBühnenfassung von Karl Kraus, herausgegeben von Eckart Früh |
1. AktDie erste Szene spielt 1914 an einer nach dem Lederwarengeschäft Sirk benannten Straßenecke in Wien (Ringstraße / Kärntnerstraße). Soeben traf die Meldung von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajewo ein.
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Einige Passanten grölen: "Die Russen und die Serben, die hauen wir in Scherben!" (Seite 24)
Der erste Verehrer der Reichspost: Hast glesen? Keine Teuerung durch den Krieg.
Dann fragt der erste Verehrer der Reichspost seinen Gesprächspartner, ob man ihn denn bereits einberufen habe, und es stellt sich heraus, dass sie beide ausgemustert wurden.
Ein Major (kommt): Exlenz melde gehorsamst, der Skolik is da. Skolik tritt auf. Conrad tut so, als studiere er eine militärische Karte und bemerke ihn erst nach einiger Zeit. Dann schützt er vor, sehr beschäftigt zu sein und keine Zeit für eine neue Fotografie zu haben. Conrad: [...] können S' nicht bissl später kommen, ich bin nämlich – ich sag's Ihnen im Vertrauen, Sie dürfen's nicht weitersagen, ich bin nämlich grad beim Studium der Karte vom Balkan – ah was sag ich, von Italien – (Seite 29) Scheinbar widerstrebend lässt er sich am Ende doch die Erlaubnis für eine Aufnahme abringen.
Conrad: [...] Wird's lang dauern? Auf dem Kohlmarkt erläutert ein Kurzwarenhändler, wie die Russen und ihre Verbündeten zu besiegen sind: Und ich sag Ihnen, ich weiß sogar von einen Herrn vom Ministerium, die Sache is so gut wie gemacht. Wir kommen von rechts, die Deitschen von links und wir zwicken sie, dass ihnen der Atem ausgeht. (Seite 31) Ein Patriot und ein Zeitungsabonnent diskutieren darüber, was der Krieg für die Wiener bedeutet.
Der Patriot: Der Wiener speziell is ein Prima-Durchhalter. Alle Entbehrungen tragen sie bei uns, als ob es ein Vergnügen wär.
Ein Feldgeistlicher, der die Soldaten im Schützengraben an der Front besucht, fragt: "Feuerts tüchtig eini in die Feind?" (Seite 36) Man macht aus Schrapnellkugeln Rosenkränze und dafür aus Kirchenglocken Kanonen. Wir geben Gott, was des Kaisers, und dem Kaiser, was Gottes is. Man hilft sich gegenseitig, wie man kann. (Seite 47) 2. Akt
Ein polnischer Jude: Extrosgabee – kofen Sie mir ab, meine Damen und Herrn – Anton Grüßer führt ein Restaurant in Wien. Dort wird ein österreichischer Offizier ungeduldig.
Bambula von Feldsturm (brüllend und auf den Tisch trommelnd): Sackrament noch amal, wird man denn heut gar nicht bedient? Sie, herstellt! Der Zeitungsabonnent setzt dem Patrioten auseinander, wie es zum Weltkrieg kam: Deutschland war also vollständig gerüstet für einen Verteidigungskrieg, den es schon lang führen wollte, und die Entente hat schon lang einen Angriffskrieg führen wollen, für den sie aber nicht gerüstet war. (Seite 71f) 3. Akt
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabe –! Venedig bombardiert! Schwere Niederlage der Italiena! [...] Frau Kommerzienrat Auguste Wahnschaffe: Ich habe nur zwei Kinder, die leider noch nicht militärtauglich sind, umso weniger als das eine zu unserem Leidwesen ein Mädchen ist. So muss ich mir mit 'nem Ersatz behelfen, indem ich mich der Vorstellung hingebe, dass mein Junge an der Front war, aber selbstverständlich bereits den Heldentod gefunden hat, ich müsste mich ja in Grund und Boden schämen, wenn's anders der Fall, wenn er mir etwa unverwundet heimgekehrt wäre. (Seite 102) 4. Akt
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Varnichtete Niederlage der Italiena! Aus dem Hotel Bristol in Wien kommen zwei Kommerzialräte. Ohne auf die Bettlerin neben ihnen zu achten, schimpfen sie darüber, dass kein Taxi zu sehen ist.
Der Erste: Ich hab kürzlich auch meiner Frau auseinandergesetzt, weil sie immer treibt, wenn nur der Krieg schon zu End wär, die Soldaten im Schützengraben tun ihr Leid. Ich sag immer, dafür ham sie das Bene, der Nachruhm in den Annalen! Was ham wir? Die Kriegsgewinnsteuer! Das vergessen die Leute immer. Bei einem Ärztekongress in Berlin weist einer der Professoren auf die Vorteile des Krieges für die Volksgesundheit hin: Wir haben mit steigender Wohlhabenheit und Zunahme der Luxusernähung Raubbau an unsrer Gesundheit getrieben; jetzt haben Millionen von Menschen unter dem Druck der Entbehrungen den Weg zur Natur und Einfachheit der Lebensführung zurückzufinden gelernt. Sorgen wir dafür, dass die heutigen Kriegslehren unsrer zukünftigen Generation nicht wieder verloren gehen. (Seite 129) Der Patriot und der Zeitungsabonnent diskutieren wieder einmal:
Der Abonnent: Wissen möchte ich, was an den Gerüchten dran is! Im Kriegsministerium spielt sich währenddessen folgende Szene ab:
Ein Fähnrich (tritt ein): Herr Hauptmann melde gehorsamst, der Herr Oberst verlangt den Bericht über die russischen Kriegsgefangenen. Im Dorf Postabitz schreibt eine Frau einen Brief an ihren Mann:
Inigsgelibter Gatte! 5. AktStimme eines Zeitungsausrufers: Der Aabeend, Aachtuhrblaad! [...] Friedensversuche der Eenteentee! [...] Blutige Abweisung im Naakaamf – [...] Extraausgabee –! Die Millionenverluste der Eeenteentee! (Seite 177f) Bei Udine begegnen sich zwei Generale, von denen jeder mit einem über und über bepackten Auto unterwegs ist:
Der erste General: Jetzt fahr i's letzte Mal. Mehr is nicht zu holen. Deutsche Offiziere sind bei ihren österreichischen Verbündeten zu einem so genannten Liebesmahl in Wien eingeladen. Sie feiern bei Musik und Tanz, obwohl die Front näher rückt. Als eine heftige Detonation zu hören ist, meint ein Artilleriereferent: "Das war a schwarer Pumperer!" (Seite 204) Alle paar Minuten stürzt ein Telefonoffizier auf den österreichischen General zu und flüstert ihm eine neue Meldung ins Ohr. Der General reagiert immer ungehaltener: "Was? Die elendigen – die elendigen – diese Frontschweine –!" (Seite 203) – "Was?! Die Gasgranaten gehen auch nicht?! Sauwirtschaft überanand!!" (Seite 208) Schließlich springt der General mit hochrotem Kopf auf und schlägt mit der Faust auf den Tisch: Kruzi!! Ich habe doch ausdrücklich –!! Das is wirklich nur bei uns möglich – Was – hab ich derer Bagasch eingeschärft?! (brüllend) Wenn eine Patrone fehlt, kannibalisch strafen! – Mit kräftigem Hurra ungestüm auf Gegner stürzen! – Ihm noch auf kurze Distanz eins unter die Nasen brennen, dann sofort mit dem Bajonett in die Rippen! – [...] Und was haben s' gemacht – diese Frontschweine [...] diese – (jammernd) verderben einem alles – [...] diese Schkribler! [Journalisten] – [...] Dieser boden-lose Leichtsinn – unausrottbar – nix als fressen und Menscher [Frauen] – demora – (er bricht zusammen.) (Seite 211) Ein preußischer Offizier versucht, den österreichischen General zu beruhigen: Nich doch, Exzellenz, Kopf hoch! Meine Herrn – wir dürfen und können den Mut nicht sinken lassen – jetzt vor dem Endsieg – können und dürfen wir erhobenen Hauptes – Seien sie überzeugt, meine Herrn, dass es sich nur um den typischen Anfangsgewinn einer jeden feindlichen Offensive handelt – Bange machen gilt nicht. (Seite 212) |
Besprechung:
"Die letzten Tage der Menschheit" ist eine "Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog" von Karl Kraus (1874 - 1936). Das Stück hat weder eine überschaubare Anzahl von Protagonisten noch eine fortlaufende Handlung, sondern besteht (in der Originalfassung) aus zweihundertzwanzig Szenen, in denen hunderte von Figuren aus allen Gesellschaftsschichten auftreten: Hofbeamte, Offiziere, Soldaten, Kriegsberichterstatter (darunter Alice Schalek), Zeitungsverkäufer, Kleinbürger, Adelige, Spekulanten und Kriegsgewinnler, Händler, Blumenfrauen, Bettler, ein Patriot und ein Nörgler (Karl Kraus' Alter Ego).
Historische Aufnahmen von "Die letzten Tage der Menschheit":
|
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Karl Kraus (Kurzbiografie) |