Helmut Krausser: Alles ist gut (Roman) |
Helmut Krausser: Alles ist gut |
Inhaltsangabe:
Der neotonale Komponist Marius Brandt wohnt in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg und verdient seinen Lebensunterhalt zwischendurch als Taxifahrer. Seine "Glitzernde Finsternis", ein Zyklus aus fünf neoimpressionistischen Kunstliedern, soll zwar in einem Tonstudio aufgenommen werden, und der Orchestermanager der Hamburger Kammersinfonie beauftragt ihn, für ein geplantes Konzert mit Werken mehrerer Komponisten eine siebenminütige Skizze zu schreiben, aber ein Honorar gibt es dafür nicht. Überwältigend. Ich hatte gute Arbeit geleistet. Vor fünfzig Jahren wäre ich mit dieser Musik schlagartig weltberühmt geworden.
Das Konzert sorgt für Schlagzeilen, nicht wegen der Musik, sondern weil am Ende von Marius Brandts Stück drei ältere Herren kollabieren und einer von ihnen im Hamburger Asklepios-Klinikum stirbt. Gleich darauf weint June um ihren Kommilitonen Carl. Er starb ebenso wie Winfried Bornstedter an einer Lungenquetschung. "Ich werde Ihre Musik promoten, wenn Sie es mir erlauben. Ich habe ein eigenes Verlagshaus gegründet, das sich einzig Ihren Werken widmen wird. Und eine kooperierende Plattenfirma ist auch schon gefunden. Bald läuft eine Großaktion." Einen dicken Mann stellt der Weißrusse als seinen Sekretär vor: Helmut Krausser.
"Der Schriftsteller? Im Ernst?" Vitali Baraschimov berichtet, wie er Helmut Krausser kennenlernte: Ich hatte seinen Roman Melodien mit Begeisterung gelesen. Nun stand dieser wunderbare Autor vor mir, verarmt, denn er hatte sein gesamtes Geld für Recherchen ausgegeben. Und diese Recherchen hätten einiges ans Licht gebracht, das ist eine lange Geschichte, die darin mündete, dass ein gewisses Lederbeutelchen, das mir nichts sagte, von einem gewissen Tralala, der mir nichts sagte, an einen gewissen Schubidu, der mir noch weniger sagte, weitergegeben wurde und schließlich bei einem gewissen Dmitry landete, der mir auch erst nichts sagte. Dieser Dmitry sei von der SS gefasst und in Ostpolen ermordet worden mit neunundsiebzig anderen, die meisten davon unschuldige Zivilisten. Und jetzt kommt's: Krausser teilte mir mit, dass jener Dmitry, der mir nichts gesagt hatte, mein Großonkel Dmitry Apolinary gewesen ist. [...] Ich stellte Krausser alle Geldmittel zur Verfügung, die er brauchte, und tatsächlich fand er nach und nach heraus, wer die einzelnen Mitglieder dieses SS-Tötungskommandos waren, wo ihre Nachkommen wohnten, und nach fünf Jahren Forschung in meinen Diensten übergab er mir das Lederbeutelchen.
Der Lederbeutel enthielt Notenblätter. Als Marius sie sieht, erschrickt er. Die Noten, die dem alten Jerzy gehört hatten, ließ er zwar in einem sicheren Versteck in Berlin zurück, aber er hat sie im Kopf und erkennt sie sofort wieder. Baraschimov möchte, dass Marius Brandt das Material in seine Opern einarbeitet – was dieser bereits getan hat – und ihm diese dann widmet.
"Hallo, Marius. Ich bin Helmut Krausser. Gratuliere. Sie haben den finalen Sinn Ihres Daseins erreicht. [...]
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Helmut Krausser klärt Marius Brandt über die Geschichte der von Castiglio erfundenen und von Pasqualini pervertierten Noten auf. Eine Abschrift gelangte um 1690 nach Warschau, wo der Rabbi sie für schwarzmagisch hielt und deshalb beschloss, die Blätter zwar nicht zu zerstören, aber eine Aufführung der Musik zu verhindern. Sie wurden von Generation zu Generation vererbt und wegen ihrer Brüchigkeit nach hundert Jahren von Rabbi Mordechai Gershon abgeschrieben. Über viele Umwege gelangte der Lederbeutel mit den Notenblättern Ende Juni 1944 zwischen Lublin und Bychawa an den SS-Oberschützen Tilman K. Er nahm ihn einem von achtzig Partisanen ab, die man erhängt hatte, um Munition zu sparen. Nun liegen Beutel und Notenblätter vor Marius Brandt auf dem Tisch. "Lieber Herr Krausser, entschuldigen Sie, wenn ich ein Spielverderber bin. Bei allem Respekt für Ihr Buch, aber das ist doch nur, und ich meine dieses 'nur' nicht abschätzig, aber es ist ein – Roman?! Diese Melodien aus dem 16. Jahrhundert haben Sie erfunden, die gab es nie wirklich. Krantz und Täubner und Castiglio und Pasqualini sind Romanfiguren!" Helmut Krausser erwidert:
"Woher können Sie die letzte Gewissheit beziehen, daß Sie", er deutete pistolenartig, also mit Zeige- und Mittelfinger auf mich, "nicht auch nur eine Romanfigur sind? [...] |
Buchbesprechung:
Beim Protagonisten des Romans "Alles ist gut" handelt es sich um einen erfolglosen Komponisten. Das ist selbstironisch, weil Helmut Krausser selbst Opern geschrieben hat, die noch niemals aufgeführt wurden. Mit "Alles ist gut" nimmt er zugleich den Kulturbetrieb und die Entscheidungsträger satirisch aufs Korn. Andere Männer hätten den Unterschied womöglich nicht bemerkt. Aber ein Komponist spürt die organische, tripelfugenartige Abfolge der komplexen Rhythmen, die Verkürzung der Metren, die Übergänge von Sechzehntelkeuchern zum Zweiunddreißigstelwinseln, dann die Klimax, verschärft von Triolen und Quintolen mit synkopierten Beckenbewegungen der Lust darunter, bis alles ins große Finale mündet, in den gewaltigen Schlußakkord, von jetzt völlig wilden, unregelmäßig gesetzten Bassfiguren durchwoben. Drüber die Fanfaren, die Blitze im Gehirn. Und das Gleiten ins Meer der Ruhe, in die lange Fermate am Ende, der Triumph der Befriedigung, während ein durchgedrehtes Kontrafagott noch ein paar akustische Fähnchen der Begeisterung hisst.
Mit dem neuen, höchst unterhaltsamen Buch knüpft Helmut Krausser an seinen 1993 veröffentlichten Roman "Melodien" an, und wieder geht es um die geheimnisvolle Macht der Musik. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Helmut Krausser (kurze Biografie) |