Michael Krüger: Die Turiner Komödie (Roman) |
Michael Krüger: Die Turiner KomödieBericht eines Nachlassverwalters |
Inhaltsangabe:
Nach dem Suizid seines sechzigjährigen Freundes Rudolf reist der Ich-Erzähler M. nach Turin, um ihm die letzte Ehre zu erweisen und im Auftrag der Witwe Elsa den umfangreichen Nachlass des Philologen und Schriftstellers zu sichten. Mit jeder Auszeichnung wurde seine Stimmung schlechter, sein Enthusiasmus für hypochondrische Lebensformen und pessimistische Weltbilder nahm entsprechende Ausmaße an. (Seite 20)
Zwei Tage nach dem Selbstmord ihres Mannes brach Elsa zusammen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. M. besucht sie dort. "Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit fortfahren, können Sie Ihren eigenen Nachlass noch dazupacken." (Seite 78)
Sie erinnert M. an die herrschsüchtige Haushälterin von Peter Kien in "Die Blendung". Er ist mir ja jahrelang mit hängender Zunge nachgeschlichen, und hätte ich ihn nur einmal ermutigt, hätte ich ihn, wie du, für immer und ewig am Hals gehabt. Vor langer Zeit, in seinem römischen Jahr, hat er mich auf seine täppische und unmännliche Weise (unter Tränen!) angefleht, bei ihm zu bleiben, und weil es so eisig kalt war in jenem Winter, wäre ich um ein Haar seinem Werben gefolgt. Er konnte mit seiner ungelenken Hilflosigkeit ein Klima schaffen, in dem meine mütterlichen Gefühle aufblühten, aber Gottseidank waren meine Instinkte schon damals so ausgeprägt, dass ich ihm nicht auf den Leim gegangen bin. (Seite 115) Marta schimpft über Eva: "Eine Hure, die uns das Leben vergällt hat." (Seite 110) Obwohl ihn Marta ständig stört, arbeitet M. weiter. Anhand eines Notizbuches findet er heraus, dass Rudolfs Romane zum größten Teil aus Plagiaten bestanden. Ausgerechnet Rudolf, der sich über die Einfallslosigkeit seiner Kollegen entrüstet hatte, bediente sich skrupellos bei anderen Autoren. An der gegenwärtigen Literatur, die er abschätzig Mittelstandsprosa nannte, ließ er kein gutes Haar. Besonders der amerikanische Roman mit seinen verzweigten Familiengeschichten war ihm zuwider. Eine dem Irrsinn verfallene Tante, ein ewig betrunkener Vater mit einer starken Neigung zum Inzest, eine verhärmte Ehefrau, die den Pfarrer liebt, eine gottverlassene Gegend und ein paar Kinder, die damit nicht zurechtkommen – normale Familienromane eben, die man nur bei den Nachbarn abschreiben musste, das war nicht das, was er unter Literatur verstand. (Seite 44)
Bei einer Trauerfeier der Akademie begegnet M. Eva, die auf die Nachricht vom Tod Rudolfs hin aus Zehlendorf angereist war. Beim anschließenden Restaurantbesuch in größerer Runde achtet M. darauf, dass sie nicht neben ihm sitzt, aber im Verlauf des Abends rückt sie immer näher, und er hat Mühe, sie loszuwerden. Er hatte ganz offenbar seine Zeit damit vertrödelt, mehrere Leben zu führen, und seinen wenigen Vertrauten das Gefühl gegeben, mit ihnen das wahre, wirkliche Leben zu teilen. (Seite 175)
Am Schalter, wo M. eine Fahrkarte nach Deutschland kauft, trifft er Eva, die sich freut, mit ihm zurückfahren zu können, aber es gelingt M., sie abzuwimmeln; er bleibt noch einen Tag in Turin.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, In einem der letzten Kartons entdeckt M. mehrere Mappen, darunter auch eine mit der Aufschrift "Das Testament. Die Turiner Komödie. Roman". Alle dachten, es handele sich bei Rudolfs letztem Werk um ein Opus magnum, aber nun hält M. eine dünne Mappe in der Hand. Das war also sein letzter Roman, mit dem er den Roman an sich "aus den Angeln" heben wollte, ein dünnes Mäppchen mit vielleicht fünfzig Seiten, an denen er angeblich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gearbeitet hatte, ein Nichts, eine magere Lächerlichkeit, ein Desaster, eine künstlerische Bankrotterklärung. (Seite 184) Die Mappe enthält jedoch kein Manuskript im herkömmlichen Sinn, sondern ein Inhaltsverzeichnis, aus dem eine Einteilung in zwanzig Kapitel hervorgeht, und Rudolf hat penibel aufgelistet, aus welchen Textsequenzen der Roman zusammengesetzt werden sollte:
[...] Verblüfft blättert M. in den Verweisen auf Notizhefte, Briefe, Dossiers, die in den vierundsechzig bereits gesichteten Kartons waren.
Kein Zweifel, diese penible Aufzählung, die er für alle zwanzig Kapitel angefertigt hatte, war das Gerüst des Romans, der vor mir, auf Kästen verteilt, auf seine Zusammenfassung wartete (und den ich wahrscheinlich unwillentlich zerstört hatte). (Seite 186) Außerdem findet M. einen von Rudolf zwei Tage vor dem Suizid geschriebenen und an ihn adressierten Brief:
[...] Elsa [...] wird dich angerufen und gebeten haben, meinen Nachlass durchzusehen, und wie ich dich kenne, bist du ihrer Aufforderung sogleich nachgekommen. Mach dir keine Mühe mit den Papieren in meinen Büros im Institut und in der Uni, das ist alles wertloses Zeug, das jeder hinterlässt, der ein Leben lang in Büros geschuftet hat. Wahrscheinlich hat der Präsident der Uni, den du kennen gelernt haben wirst, ein Interesse daran, den Krempel zu konfiszieren, weil er (zu Recht!) Unterlagen über ein paar Skandale vermuten wird, die ich aufgedeckt habe. Es geht nur um die grauen Kartons [...] Im Deckel der Kartons habe ich jeweils die Nummer notiert, es müssen vierundsechzig sein. Sollte einer fehlen, wäre es eine Katastrophe für mein Buch [...] M. steckt die Mappe in seine Reisetasche, damit niemand außer ihm etwas davon erfährt und begibt sich am frühen Morgen zum Bahnhof, ohne sich von Marta verabschiedet zu haben. |
Buchbesprechung:
"Die Turiner Komödie" ist ein amüsanter, ironischer Roman von Michael Krüger. Ich habe als Begleiter von Rudolf auf dessen Lesereisen selbst in mittelgroßen Städten scharenweise Schriftsteller getroffen, die mit fünfzig praktisch arbeitslos waren, weil ihnen entweder die Verleger wegen des ausgebliebenen Interesses seitens der Kritiker und des Publikums gekündigt hatten oder weil ihnen buchstäblich der Stoff ausgegangen war. Mit Pathos und Inbrunst erzählten sie von ihrem Scheitern. Manchmal hatte ich den Eindruck, ihr Scheitern, die große Erzählung des endgültigen Scheiterns sei wahrer als all die so genannten geglückten Erzählungen, die sich die gewieften Prosaschriftsteller nach Belieben aus den Rippen schneiden konnten. Ehe kaputt, Weltverständnis zertrümmert, Hoffnung auf bürgerlichen Erfolg aufgegeben – nur durch exaktes Beschreiben dieser Missstände ließe sich noch eine Lebenswende herbeiführen. Da den meisten dieser Autoren aber jede Art von Selbstironie fehlte, wurden die Beschreibungen des Unglücks trostlose Fallstudien [...] (Seite 158f) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Michael Krüger: Das falsche Haus |