Günter Kunert: Die Waage (Erzählung) |
Günter Kunert: Die Waage |
Inhaltsangabe: Es ist eine Waage: In der einen Schale steigt die menschliche Spreu nach oben, zu leicht befunden, in der anderen sitzen wir; wir hier um unseren Stammtisch, goldrichtig, schwergewichtig, zukunftsträchtig. Sitzen und reden, bis die zweizeigrige Pflichtmahnerin spricht: Vergiss nicht deinen Dienst. Keine Lage, keine Runde mehr, sondern zahlen. Die Männer brechen auf, um rechtzeitig zur Nachtschicht zu kommen. Einer von ihnen fährt mit seinem Motorrad los. Dahin auf der Maschine, die Geschwindigkeit und Lebensgefühl produziert. Auch vom Motorrad aus betrachtet ist alles einfach, weil es immer vorangeht, immer voran. Plötzlich torkelt ein betrunkener alter Mann in den Scheinwerferkegel. Es erfolgt der Zusammenprall, der Aufschluss gibt, wie weich, wie nachgiebig, sackartig ein Körper wirkt, fährt man mit dem Motorrad in ihn hinein. Der Motorradfahrer überlegt: Es gibt keine Zeugen, und in der Schaltzentrale der Fabrik wartet der Kollege, den er ablösen soll. Er lässt den Sterbenden liegen, steigt wieder auf und trifft gerade noch pünktlich zu Schichtbeginn ein. Stunde um Stunde, Zigarette um Zigarette wird die Zeit von ihrem eigenen Fortschritt dahingerafft und verschwindet spurlos [...]
Am nächsten Morgen warten neben dem verbeulten Motorrad zwei Polizisten und bringen ihn aufs Revier. Unter einem Wandbild von Karl Marx wird seine Aussage protokolliert. Dann sperrt man ihn ungeachtet seines Protests in eine Zelle. |
Buchbesprechung: Wer wie Kunert hartnäckig und in immer neuen Bildern die Sinnlosigkeit unserer Welt beschwört, der verrät damit, dass er nicht aufhören kann, nach dem Sinn dieses Daseins zu fragen. (Marcel Reich-Ranicki 1980)
Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren. Weil der Vater sich weigerte, seine jüdische Ehefrau zu verstoßen, schlossen die Nationalsozialisten Günter vom Besuch einer höheren Schule aus.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 Textauszüge: © Carl Hanser Verlag Seitenanfang |
Günter Kunert: Alltägliche Geschichte einer Berliner Straße |