Sarah Kuttner: Mängelexemplar (Roman) |
Sarah Kuttner: Mängelexemplar |
Inhaltsangabe:Karo Herrmann ist sechsundzwanzig Jahre alt und immer auf der Überholspur unterwegs. Nach der Ausbildung in einer Event-Management-Agentur hatte man sie übernommen. Karo berät Unternehmen bei der Planung und Durchführung von PR-Veranstaltungen.
Ich bin ungeduldig. Sachen müssen schnell und ohne Wartezeit geschehen. Alles muss zackzack gehen. Ich kaufe Kleidung, ohne sie anzuprobieren, denn ich weiß, was mir steht und was mir passt, ich habe keine Zeit für Umkleidekabinen. Ich koche nicht. Nicht, weil ich nicht kann, sondern weil ich keinen Nerv für den Aufwand habe. Buffet ist meine liebste Art, auswärts zu essen, denn das Essen ist sofort verfügbar. (Seite 20) Vor drei Monaten kündigte ihr die Agentur. Seither überweist ihr die Großmutter heimlich das Geld für die Miete, und Karo kellnert in einer Kneipe. Ihr zwei Jahre älterer Lebensgefährte Philipp verdient selbst auch kaum etwas, denn er studiert noch Mediengestaltung. Sie lernten sich vor zwei Jahren auf einem Medientreff kennen. Ob es für die Beziehung eine Zukunft gibt, bezweifelt Karo immer stärker. Natürlich haben wir auch gute Zeiten, oder spielen uns gute Zeiten vor, aber eigentlich stolpern wir seit zwei Jahren nebeneinander her. (Seite 41) Und weil die Arbeitslosigkeit und die Beziehungskrise Karo verunsichert haben, beginnt sie bei der Psychologin Anette Görlich eine Kurzzeittherapie. [...] denke ich irre viel über mich nach, um einen schnellstmöglichen psychotherapeutischen Erfolg herbeizuführen. (Seite 37) Vor allem die Egozentrik Philipps stört Karo. Am liebsten sprach er über sich. Einmal habe ich während eines Telefonats mit Philipp masturbiert. Ich fand das sehr aufregend, weil er nicht wusste, was ich tat, während er sprach, und sehr romantisch, weil ich ja schließlich dabei seiner Stimme lauschte. Nachdem ich lautlos gekommen war, sagte ich es ihm. Philipp war sauer. Philipp war ernsthaft eingeschnappt, weil ich ihm "dann ja wohl überhaupt nicht zugehört" hätte. (Seite 41) Philipp fährt für fünf Tage in sein Heimatdorf und besucht seine Eltern.
Dort ist er [...] was Besonderes. Der Typ, der es geschafft hat, der in der Großstadt wohnt, was mit Medien macht, auf Partys mit C-Promis irgendwas mit Elektrolyten drin trinkt und ein Künstler ist. Ich frage mich, ob die ganzen alten Freunde wissen, dass Philipp nur mittelmäßige Graffiti an öffentliche Verkehrsmittel sprüht [...] Karo holt Philipp vom Zug ab, und sie gehen essen.
Wir bestellen, wir essen und wir reden. Über Philipp [...] Und darüber, wie ziemlich cool es alle fanden, ihn mal wiederzusehen in seiner Heimat. Und wie zurückgeblieben alle aus seinem Dorf sind. "Ich meine kulturell", sagt Philipp [...] Ich erinnere Philipp freundlich daran, dass er selbst vom Dorf kommt. Das bringt bei Karo das Fass zum Überlaufen. Sie dreht um.
"Was tust du?" Karo hält es für das Beste, wenn sie und Philipp sich ein paar Wochen lang nicht sehen. Ich gehe zu Anette, erzähle laut und schnell, wie fortschrittlich ich bin, dass ich mich endlich getraut habe, die Angst vor dem Alleinsein zu überwinden, schließlich habe ich so gut wie Schluss gemacht mit Philipp, und es ist gar nicht schlimm. (Seite 52) Aufgrund des Blicks, mit dem die Psychologin reagiert, durchschaut Karo die Selbsttäuschung: Sie hat sich nicht endgültig von Philipp getrennt, sondern die Hintertür offen gelassen. Doch als sie ihn anruft, kocht er gerade für zwei Kommilitoninnen und meint, Karo sollte es bei der Trennung belassen. [...] und kaum wacht man auf, rülpst einem die Realität mit ungeputzten Zähnen ins Gesicht (Seite 60) Karo verabredet sich mit Nelson. Sie hatten zusammen die Ausbildung bei der Event-Management-Agentur angefangen. Nelson brach sie allerdings ab und machte als Moderator Karriere beim Verkaufsfernsehen. Als echter Freund ist er jederzeit für Karo da. Seine Ehefrau Karin weiß das und akzeptiert es, weil sie ihm vertraut.
"Nein, ist alles nicht so schlimm", schluchze ich. Natürlich ist das Bockmist. Denn es ist sehr wohl alles ziemlich schlimm, ich bin seit Wochen dumpf und traurig, ich habe keinen Job und nun auch keinen Freund mehr. Aber so bin ich nicht. Ich kommuniziere das nicht. Nicht, weil ich mein Inneres nicht teilen will, sondern will ich anderen nicht zur Last fallen möchte. Ich will niemanden langweilen oder anstrengen. Also werden immer die Arschbacken zusammengekniffen, der Rotz hochgezogen, ein schiefes Grinsen aufgesetzt und ein Notfallwitz gemacht. Weshalb denn Hilfe beanspruchen, wenn man es auch allein schaffen kann? Nee, lass mal, Nelson, genug von mir, wir reden jetzt mal über dich! Was gibt's Neues? Was ist das Verkaufsobjekt der Woche bei euch im Sender? (Seite 64) Karo versucht sich vorzumachen, dass sie das Richtige getan hat. Ich treffe viele Freunde und Bekannte, erzähle stolz von meiner Trennung und der Therapie und dass es besser nicht hätte kommen können, natürlich täte es weh, aber das seien heilende Schmerzen. Wird schon wieder, alles halb so schlimm, und was gibt es bei dir eigentlich Neues? (Seite 67) In Wirklichkeit leidet Karo unter dem Alleinsein. Ich möchte nicht allein sein. Ich möchte meine Liebes-Flatrate zurück. (Seite 113)
Eine herumliegende Schere und eine offene Balkontür machen ihr Angst, rufen bei ihr "Gedanken über Suizidgedanken" (Seite 78) hervor. Karo bekommt Angst vor der Angst. Nach einer Panikattacke fährt Nelson sie zur Notaufnahme eines Krankenhauses. Der Arzt gibt ihr eine Beruhigungstablette. Karo hätte lieber eine Spritze oder wenigstens schnell wirkende Tropfen, aber sie fügt sich. Nelson nimmt sie mit in seine Wohnung, und Katrin schläft im Gästebett, damit ihr Mann auf Karo aufpassen kann. Da ist nichts mehr drin. Keine Angst, keine Traurigkeit, allerdings auch sonst keine Empfindungen. (Seite 83) Sie besucht ihre Mutter Claudia. Als diese merkt, was mit ihrer Tochter los ist, besteht sie darauf, dass Karo vorübergehend bei ihr wohnt. Mama und ihr Leben hatten es lange Zeit nicht leicht miteinander. Sie hat mit zwanzig geheiratet, ein Jahr später eine Tochter bekommen. Ich war ein Wunschkind, jedenfalls hatte man sich angeblich sehr auf mich gefreut. Leider war mein Vater wohl nicht so gut vorbereitet auf ein schönes Für immer: Er studierte noch und entdeckte bald den Reiz unverheirateter Frauen. Meine Eltern trennten sich, als ich acht war. Ich weiß nicht besonders viel über ihre Probleme, aber Mama war oft unglücklich. So unglücklich, dass sie irgendwie vergaß, ausreichend liebevoll zu mir zu sein. (Seite 88)
Claudia, die eigene Erfahrungen mit Depressionen hat, erklärt Karo, sie müsse die Depression wie eine Erkältung annehmen, statt sich dagegen zu wehren. Am nächsten Tag sucht sie mit ihrer Tochter zusammen nach einer Psychiaterin, die sofort einen Termin frei hat. So kommt Karo zu Frau Dr. Kleve. Die Ärztin erläutert ihr die physiologischen Hintergründe ihres Zustandes (Serotonin-Mangel) und verordnet ihr ein angstlösendes Antidepressivum. Kaum bin ich zu Hause angekommen, erhalte ich eine SMS von David: "O.K., O.K. ICH GEBE AUF UND MELDE MICH ALS ERSTER!" Ich freue mich und antworte: "PUH, UND ICH DACHTE SCHON, DU WÜRDEST DICH NIE MEHR MELDEN!" Dann schalte ich mein Telefon ab und ziehe mich aus. Weil ich mir dabei sehr aufregend vorkomme, behalte ich nur die hohen Schuhe an und rauche noch eine Gute-Nacht-Zigarette. Ich freue mich über mich und den Abend. Mein erster Ausgehabend danach war ein Erfolg. (Seite 149) David geht mit ihr ins Bett, will Karo aber davon abhalten, dass sie sich in ihn verliebt, weil er überzeugt ist, selbst nicht liebesfähig zu sein und befürchtet, am Ende als "Arsch" dazustehen. Karo macht das eine Weile mit, aber dann trennt sie sich von David. "David, du musst jetzt gehen. Es bringt nichts mehr, die Sache zu drehen und zu wenden. Ich möchte grade alles oder nichts, du genau die Mitte. Wir kommen nicht zusammen." (Seite 174)
Heiligabend feiert Karo wie jedes Jahr mit ihrer Mutter, der Großmutter und zwei verrückten Großtanten aus dem Ruhrpott. Zuerst essen sie Buletten mit Kartoffelsalat, und vor der Bescherung singen sie Weihnachtslieder. Dann legen sie die Büstenhalter ab, spielen Karten und trinken Kräuterschnaps.
[...] kommt ein paar Tage später ein sehr geknickter Max in unser Büro. Er und sein Mädchen haben sich getrennt. Karo will sich nicht aus Sehnsucht nach einem Lebensgefährten in Max verlieben. Und sie erklärt Nelson, dass man in der Regel nach einer gescheiterten Beziehung einen Übergangspartner benötige. Erst dann sei man wieder in der Lage, einen Menschen richtig zu lieben. Sie wolle aber keine Übergangsfrau, sondern der Hauptgewinn für Max sein. Nelson rückt ihr den Kopf zurecht: "Du bist kein Hauptgewinn. Du bist ein Mängelexemplar. Ein zauberhaftes und liebenswertes Mängelexemplar." (Seite 213) Nach einiger Zeit fangen Karo und Max an, miteinander zu schlafen. Alles ist wunderbar, und damit kann ich überhaupt nicht umgehen. (Seite 221) Als Karo ihr Antidepressivum absetzt, wankt ihre Stimmung wie ein Betrunkener. Sie beginnt Max zu kritisieren, wirft ihm vor, unpünktlich und konfliktscheu zu sein. Außerdem schärft sie ihm ein, dass es sich bei ihrem Verhältnis um nichts weiter als eine Affäre handele und sie nicht gewillt sei, einen Exklusivvertrag mit ihm zu unterschreiben. Sechs Wochen nachdem Karo die Tabletten abgesetzt hat, schlägt Max ihr einen gemeinsamen Kurzurlaub auf Mallorca vor. Beim Packen gerät sie seit Monaten zum ersten Mal wieder in Panik.
Das Monster Angst kriecht langsam und bedrohlich auf mich zu [...] Ruhe bewahren!, befehle ich mir. Das Problem orten! [...]
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Max verhält sich sehr verständnisvoll, obwohl Karo sich erst in letzter Sekunde entscheidet, doch mit ihm nach Mallorca zu fliegen. "Depression ist ein fucking Event!" (Seite 7 / 250) Seine Diagnose:
"Sie können alles andere, aber nicht sich selbst spüren!" (Seite 256)
Ungerührt verschreibt ihr der Psychiater ein Antidepressivum. |
Buchbesprechung:
In ihrem Debütroman "Mängelexemplar" geht Sarah Kuttner ein bedrückendes Tabuthema – Depression – auf unterhaltsame Weise an. Bei der überdrehten
"Sie sind sehr intelligent. Sie scheinen auch über einen sehr hohen emotionalen Intelligenzquotienten zu verfügen, und Sie sind über die Maßen empathisch, haben ein ausgezeichnetes Gespür für die Stimmung anderer. Nur bei sich selbst versagen diese Fähigkeiten total." (Seite 255f) Die Beobachtungen und Selbstreflexionen der Protagonistin ermöglichen es uns Lesern, ihre Entwicklung nachzuvollziehen. Das Besondere an "Mängelexemplar" ist die Sprache, mit der Sarah Kuttner die Verbiegung des Deutschen durch Anglizismen persifliert und den "Gegenwarts-Jargon aus E-Mail-Gestammel, Stanzen aus der Werbung und studentischem Emotionsgeschwätz [...] launig als uneigentlich vorführt" (Arne Willander, Die Welt, 10. April 2009).
Sarah Kuttners Bestseller lebt vom Jargon [...] Ein riskant exaltiertes Innenleben äußert sich im Tonfall exaltierter Rotzigkeit. Diese wiederum versteht sich als literarischer Nonkonformismus [...]
Die Autorin handelt zwar wie die Protagonistin, die lieber einen Kalauer als gar keinen Witz macht, aber es sind ihr auch eine ganze Reihe funkelnder Formulierungen gelungen. "Mängelexemplar" ist ein sehr unterhaltsamer tragikomischer Roman, in dem Sarah Kuttner trotz ihrer aufgekratzten Attitüde auch ein Stück weit in die Tiefe vordringt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Sarah Kuttner (Kurzbiografie) |