Gudrun Lerchbaum: Lügenland (Polit-Thriller) |
Gudrun Lerchbaum: Lügenland |
Inhaltsangabe:In den USA herrscht eine Hungersnot, weil Schädlinge durch die jahrzehntelange Kultivierung genmanipulierter Monokulturen Resistenzen gegen Pestizide entwickelt und die Ernte vernichtet haben. Die Europäische Union zerbrach am Nationalismus der Mitglieder, und in Österreich brachte die angebliche Bedrohung durch Flüchtlinge die Aufrechten an die Macht. Mit Ausnahme von Staatsangehörigen der Republik Padanien schob das Wiener Regime alle Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund ab. "Ob schwarz ob braun, dein Land ist fern. Bei uns sehen wir dich nicht mehr gern. Chris! Ten! Heit! Zum! Kampf! Be! Reit!"
Gegen ein Versprechen der Sicherheit wurden die Grundrechte in Österreich abgeschafft. Man spricht jetzt von einer Demokratur mit einem Kanzler als starkem Mann. Die Bürger werden lückenlos überwacht, nicht nur mit intelligenten Videokameras, Drohnen und mikrobiotischen Schwarmkameras, sondern auch durch Fonbänder. Diese Armbänder, die als Smartphone, zum Bezahlen, zur Ortung und Identifikation benutzt werden, müssen von allen Bürgern getragen werden. Bargeld gibt es kaum noch. Über GPS in den Fonbändern und in jedem Auto werden Bewegungsprofile erstellt. Jeder ist dazu angehalten, verdächtige Beobachtungen anzuzeigen und dabei weder auf Nachbarn, Freunde oder Verwandte Rücksicht zu nehmen. Missliebige Postings im sozialen Netzwerk Mindmine überdauern nur wenige Sekunden, denn eine ganze Behörde ist damit beschäftigt, zu löschen, was der Propaganda widerspricht, die über die in allen Haushalten, Gaststätten und anderen öffentlichen Einrichtungen angebrachte Mediawand verbreitet wird. In jeder österreichischen Gemeinde steht ein Hologramm des Kanzlers. In Deutschland sorgen zwar die 80-jährige Kanzlerin und ein aus Syrien stammender Innenminister für einen Fortbestand der Demokratie, aber die österreichischen Grenzen sind mit Zäunen gesichert, und es gibt so gut wie keine Möglichkeit, das Land zu verlassen.
Ein Kleinkind taumelt mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, stolpert über den Rand der Decke und fällt auf alle viere. Ich drehe mich zu ihm, den Kopf in die Hand gestützt.
Ein Schuss kracht in einen Baum neben den drei Frauen. Ein 70-Jähriger in der Uniform der Bürgerwehr schreit: "Schert's euch weg, versoffenes Gesindel!" Kati geht langsam auf den Greis zu und versucht ihn zu beschwichtigen. Mühsam erhebt sich auch Mattea. Ein zweiter Schuss kracht. Kati bricht zusammen. Der Mann und die Milizionärin lassen ihre Waffen sinken.
"Lass, wir müssen weg, bevor die Miliz kommt!" Am nächsten Morgen gibt Mattea wie vorgesehen ihre Dienstwaffe ab und scheidet aus der Miliz aus. Kurz danach beginnt die Hochzeitszeremonie. Weil sich die Braut vor der Kirche übergibt, tuscheln Gäste, ob sie nervös, verkatert oder schwanger ist. Julia überreicht der Braut nach der Trauung den dornigen, aber blütenlosen Stängel einer Rose, und während des Hochzeitsmahls geht sie hinaus.
Ich muss ihr nach. Mein Kleid, die ungewohnten Stöckelschuhe behindern mich beim Gehen. Als ich die Tür aufstoße, sehe ich sie in der Sonne stehen, das Handgelenk am Mund. Ich stakse auf sie zu. Sie spricht die Adresse ins blinkende Band, sagt "Schnell!" und blickt dann auf.
Zum Weglaufen ist es zu spät, und jeder Winkel vor dem Restaurant wird mit Überwachungskameras kontrolliert. Mattea versucht es in der Küche. Rasch erklärt sie dem Koch, man habe ihr gerade im Rahmen eines verrückten Hochzeitsspiels die Aufgabe gestellt, innerhalb von zehn Minuten in männlicher Kleidung zu erscheinen. Hastig wechseln sie die Sachen. Dann geht Mattea unerkannt durch die Hintertür auf die Straße und an den beiden inzwischen eingetroffenen Mannschaftswagen vorbei. "Ich wohne nur ein paar Kilometer von Melk entfernt. Mein Auto steht am Bahnhof", sagt der Mann, der bald auf mir liegen wird im Austausch für meine sichere Weiterreise. In meiner Hochzeitsnacht.
Seine Wohnung in Wien habe er nach seiner dritten Scheidung der Frau und den Kindern überlassen, erklärt Schiele; er wohne deshalb in einem Jagdhaus im Dunkelsteinerwald. Während Mattea dort in der Badewanne liegt, steht er plötzlich in der Tür, mit einer Pistole in der Hand. Er habe soeben herausgefunden, wer sie wirklich sei, erklärt er; sie heiße Ina Matusek und werde als Terroristin von der Polizei gesucht. Statt sofort die Miliz zu rufen, öffnet er seine Hose. Mattea steigt aus der Wanne und beugt sich darüber. Er penetriert sie von hinten. Aber Mattea kriegt ihr vorsorglich unter dem Duschvorhang verborgenes, auf dem Badewannenrand abgelegtes Messer zu fassen und rammt es ihm in den Unterarm. Mit der zu Boden gefallenen Waffe erschießt sie ihn. Dann muss sie sich übergeben.
Irre ich mich und weiß selbst nicht, wer ich bin, oder irrt sie? Die alte Dame möchte von der Hilfesuchenden nicht mit "Oma" angesprochen werden, sondern mit ihrem Namen, aber Mattea beteuert, nicht die "Scheißverräterin" zu sein. Bitte, Oma, ich brauche deine Hilfe. Ich bin auf der Flucht wie sie, wie diese Matusek. Und ich war es, die den Schiele erschossen hat. Als Mattea am nächsten Morgen erwacht, sitzt Brigitte auf einem Stuhl und hat eine Waffe auf dem Schoß.
"Oma …" Brigitte, die früher wie ihr Sohn zur Opposition gehörte, zu den "Zecken", hilft ihrer Enkelin dann doch, allerdings in der Erwartung, dass diese sich als Ina Matusek ausgibt und sich festnehmen lässt, damit die Terroristin weitermachen kann. "Finde einen Weg, für den du dich nicht schämen musst, Mattea."
Mattea will nach Süden. In Kirchdorf an der Krems lässt sie sich von dem jungen Mann, der ihr in einem Straßencafé einen Becher Milchkaffee und einen Schinken-Käse-Toast serviert hat, ins Parkbad einladen. Sie könne einen Bikini seiner Schwester tragen, sagt Tom, und seine Mutter werde eventuelle Gäste bedienen. Mit einem Mal ist mir klar, woher die Panik der Leute rührt. Wir sind in der Mitte des Landes. Wie konnten Kampfdrohnen unbehelligt bis hierher kommen? Wo bleibt die angeblich unfehlbare Abwehr? Und wer greift hier an? Die russische Föderation kann es nicht sein, die Tage der Expansion sind vorbei, die neuen Machthaber üben sich im Händeschütteln auf allen Kanälen, in allen Ländern. Das Kalifat? Selbst wenn Bosnien seine bisher inoffizielle Unterstützung ausgeweitet haben sollte, hätten die Drohnen mehrere Grenzen passieren müssen. Wie soll das gehen? Bleibt nur eine Möglichkeit: Es müssen die Aufständischen sein, Omas geliebte Zecken, die irgendwie an unser Gerät gelangt sind und uns jetzt aus den Bergen attackieren.
Die Nachricht, dass die Landesverräterin Ina Matusek aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung in Tirol verhaftet worden sei, derzeit in Innsbruck verhört und bald nach Wien gebracht werde, scheint Matteas Vermutung zu bestätigen: Wollen die "Zecken" Ina Matusek freipressen?
"Mattea", antworte ich, "Inninger." Der Hauptmann hält sie für Ina Matusek, und das stellt ihn vor ein schwieriges Problem: "Nun, was meinen Sie? Will der Kanzler, dass ich ihm, so kurz nach diesem großartigen, öffentlich propagierten Fahndungserfolg, eine zweite Matusek präsentiere? Eine womöglich bessere Matusek. Eine, die, anders als die echte Matusek", er akzentuiert die Wörter mit in die Luft gezeichneten Anführungszeichen, "wirkliche Ähnlichkeit mit den Fahndungsbildern aufweist. Wird der Kanzler sich freuen, wenn ich ihm diese neue Matusek bringe?"
Schließlich lässt Hauptmann Redl die Festgenommene in eine Zelle sperren und ordnet an: "Standardbehandlung und keine Herrenbesuche". "Seit er dich gesehen hat, weiß er, dass sie einfach irgendein Mädel kassiert und als Ina Matusek ausgegeben haben. Solche Lügen machen ihn rasend."
Tom hält Mattea aufgrund des Fahndungsfotos ebenso wie sein Onkel für die wahre Ina Matusek, und sie lässt ihn in dem Glauben, weil sie befürchtet, dass er ihr sonst nicht weiter helfen würde.
"Wer zum Teufel bist du?!", faucht Ruth. Mattea nennt ihren richtigen Namen, gesteht, am Abend vor ihrer Hochzeit im Alkohol- und Drogenrausch eine Freundin erschossen zu haben und berichtet, wie sie im Zug auf Schiele traf. "Schiele hat mich nur mitgenommen, weil er mich für Ina hielt. Wollte mich, eigentlich sie, eigenhändig zur Strecke bringen, Held des Vaterlandes und so weiter, mit einem kleinen Bonusfick garniert."
Ruth kannte Lukas Inninger, und Mattea weiß Einzelheiten über Schieles Leiche, die nicht über die Medien bekannt gegeben wurden. Das wirkt sich zu ihren Gunsten aus. "Hätte ja auch funktioniert, wenn nicht in Tirol einer unserer eigenen Leute Ina ans Messer geliefert hätte."
Mattea bleibt nichts anderes übrig, als Ruths Aufforderung, sich den Rebellen anzuschließen, nachzukommen. Ihre Aufgabe wird es sein, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Damit sollen Zweifel an der Identität der verhafteten Frau genährt und die Autorität des Kanzlers untergraben werden. Ihre Hinrichtung am Tag der Nation könnte dann einen Aufstand auslösen. "Ich tue euch nichts und bleibe nur, bis es dunkel ist", sage ich. "Machen Sie mir keine Schwierigkeiten und ich mache Ihnen auch keine."
Tom und sein Onkel Hannes Redl holen Mattea ab und bringen sie zum Karkogel, wo Tom eine Woche lang mit dem Mountain Bike für die Europameisterschaft im Downhill trainieren wird. Er ist Sportpädagoge und Vize-Landesmeister; im Café seiner Mutter in Kirchberg hilft er nur nebenbei. "Eine Frage, die uns alle bewegt: Was trieb die gewissenlose Killerin dazu, sich als Ina Matusek auszugeben?" Während es im Untertitel heißt "Mattea hat meinen Glauben an Freundschaft zerstört", schaut Julia in die Kamera und sagt: "Mattea! Wenn du irgendwo da draußen zuschaust – und ich weiß, das tust du, ganz egal, was sie sagen –, dann nimm …", sie beißt sich auf die Unterlippe, "… bitte! … meine Entschuldigung an. Nie hätte ich dich verraten dürfen. Deine Mutter hat es mir erzählt, das mit Kati. Dass sie deinen Vater denunziert hat und er untertauchen musste, obwohl er niemandem etwas getan hatte, dass er letztlich wegen ihr gestorben …" Das Mikrofon wird abgedreht, und Pia Hofstetter weist Julia darauf hin, dass deren Freundin anstelle von Ina Matusek in der Todeszelle sitze und wohl kaum fernsehen dürfe. Tom, der die Sendung mit Mattea zusammen anschaut, glaubt, dass Julia Angst vor ihr habe. Und bei einer Blitzumfrage noch in der Sendung meinen 84 Prozent, Julia sei in Lebensgefahr, wenn es zuträfe, dass Mattea Inninger noch auf freiem Fuß ist. Pia Hofstetter erhält über den Knopf im Ohr die Information, dass die Identität der einsitzenden Verbrecherin inzwischen durch Gen-Tests zweifelsfrei geklärt sei, und sie wendet sich ans Publikum: "Es handelt sich um …", mit Handbewegungen deutet sie einen Trommelwirbel an, "die Mörderin Mattea Matusek – entschuldigen Sie, unsere Frau Rattner hier hat mich mit ihren wirren Theorien schon völlig durcheinandergebracht –, natürlich Mattea Inninger." 71 Prozent der befragten Zuschauer treten dafür ein, der hilfsbereiten, tier- und kinderlieben Ina Matusek eine zweite Chance einzuräumen. Darauf springt der Kanzler an, obwohl er selbstverständlich weiß, dass es sich bei der Inhaftierten um Ina Matusek und bei der von den meisten für die Terroristin gehaltenen Flüchtigen um Mattea Inninger handelt. Er bietet "Ina Matusek" freies Geleit für ein Gespräch mit ihm vor der Fernsehkamera an. Offenbar deckt sich inzwischen das Interesse der Regierung an der Vertauschung der Identitäten mit dem der "Zecken". Mattea hat keine Wahl und muss das Risiko eingehen, dass der Kanzler sie trotz seiner Zusicherung verhaften lässt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Sie sitzt bereits in der Maske, als Liliana ihr mitteilt, dass der Kanzler einen Überraschungsgast eingeladen hat. Liliana vermutet, dass es sich entweder um Julia Rattner oder die echte Ina Matusek handelt: "Original und Kopie in einem Raum." Unmittelbar vor dem Beginn der Sendung werde sie Mattea eine Pistole neben dem Sender fürs Mikrofon hinten in den Hosenbund schieben, kündigt Liliana an. Läuft der ganze Plan darauf hinaus, dass sie den Kanzler ermordet, fragt Mattea sich. Oder soll sie mit der Waffe Ina Matusek befreien, wenn der Kanzler sie zum Gespräch dazuholt? Liliana schärft ihr jedoch ein: "Wichtig ist zunächst einmal, dass du erst handelst, wenn eine ernsthafte Bedrohung erkennbar ist, damit du deine Sympathien nicht verspielst. Wenn du ihn einfach abknallst, können wir dir nicht mehr helfen." Vor laufender Kamera drängt der Kanzler die als Ina Matusek vorgestellte Frau, mit ihm zu kooperieren und ihm zu helfen, "das Krebsgeschwür des Aufstandes aus dem Volkskörper zu schneiden". In diesem Fall werde er sich nachsichtig zeigen und sie amnestieren. "Nur ein gezogenes Schwert hält das andere in der Scheide", sagt der Kanzler.
"Schiele", stoße ich heiser hervor. "Der hätte mich auch gern mit seinem Schwert in meiner Scheide erzogen. Mit der Pistole in der Hand hat er mich vergewaltigt." Ich schlucke, doch es ist zu spät, die Worte sind draußen. Ohne Absicht bin ich aus meiner Rolle gefallen und kann nicht mehr zurück. Also vorwärts. "Die Frau, die Sie gefangen halten, hat den Mord an Schiele nicht begangen. Sie hat überhaupt keinen Mord begangen. Ihr einziges Verbrechen war es, sich eine bessere Welt zu wünschen."
Da hält der Kanzler den Zeitpunkt für den Auftritt des Überraschungsgasts für gekommen, und er begrüßt "Frau Inninger". Aber es ist nicht Ina Matusek, sondern Matteas Mutter! Und die bestätigt, dass es sich bei der anderen Gesprächspartnerin des Kanzlers nicht um ihre Tochter handelt. Mattea begreift, dass ihre Mutter sie auf diese Weise vor einer Mordanklage bewahren möchte. Aber der Kanzler hat noch einen zweiten Überraschungsgast, den er ebenfalls mit "Frau Inninger" begrüßt. Diesmal handelt es sich um die inhaftierte Terroristin. Ina Matusek umarmt Mattea und zieht ihr von anderen unbemerkt die Pistole aus dem Hosenbund. Damit schießt sie auf den Kanzler. Soldaten stürmen ins Studio. Während Ina Matusek den Kanzler mit einem zweiten Schuss tötet und im nächsten Augenblick selbst tödlich getroffen wird, zerrt jemand Mattea hinaus und in ein Milizfahrzeug. Hauptmann Hannes Redl bringt sie zum Karkogel zurück. |
Buchbesprechung:
Die Handlung des dystopen Polit-Thrillers "Lügenland" von Gudrun Lerchbaum spielt in naher Zukunft. Die Wiener Schriftstellerin veranschaulicht am Beispiel Österreich, was geschehen könnte, wenn fremdenfeindliche Populisten vom Unmut der Bevölkerung über die anderen Parteien profitieren und die Regierung übernehmen. Mit überbordendem Einfallsreichtum malt Gudrun Lerchbaum das "Was-wäre-wenn" aus. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie Intoleranz, Indoktrination und undemokratische Regime ablehnt, prangert die Verlogenheit der Politiker im "Lügenland" (!) an, deckt aber auch die Manipulation Einzelner und der Öffentlichkeit durch die Widerstandskämpfer auf. Die Protagonistin Mattea Inninger hatte zwar einen Oppositionellen als Vater, wurde aber dennoch in einem von den Aufrechten beherrschten Staat sozialisiert. Erst als sie sich zwischen System und Widerstand entscheiden muss, denkt die ehemalige Milizionärin über die politischen Verhältnisse nach und stellt sich die Frage, wohin sie gehört. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016 |