Andreï Makine: Die Frau vom Weißen Meer (Roman) |
Andreï Makine: Die Frau vom Weißen Meer |
Inhaltsangabe:Mit einer Verspätung von sechs oder sieben Jahren kommt der Mai 1968 auch nach Russland. Mitte der Siebzigerjahre haben dissidierende Künstler in einem Speicher am Stadtrand von Leningrad ein Untergrundatelier eingerichtet. Dort feiern sie wilde Partys. Auch der sechsundzwanzig Jahre alte Ich-Erzähler nimmt daran teil. Eigentlich ist er gekommen, um von seiner Reise nach Tallinn zu berichten, aber es dreht sich alles um einen Journalisten aus den USA. Der Erzähler hört die Frau, die er noch vor einer Woche selbst in den Armen hielt, hinter einer Wand aus Gemälden mit einem Künstler stöhnen. Kurz darauf kommt sie aus der Kulisse, und der Mann wischt sich den Penis mit einem nach Terpentin riechenden Lappen ab. Ohne das Recht auf Eifersucht. Sexuelles Eigentum, das war der Gipfel kleinbürgerlicher Lächerlichkeit! (Seite 27) Während jemand ein regimekritisches Gedicht vorträgt, amüsiert sich eine Betrunkene über zwei Männer, die sich im Nebenraum lieben. [...] die Freiheit jener Nächte blieb nicht immer straffrei. Viele Jahre später erfuhr ich, dass der Autor des Kreml-Zoo sein Gedicht mit fünf Jahren Lagerhaft bezahlte und dass einer der Homosexuellen in der Haft von Zellengenossen totgeschlagen worden war (Homosexualität wurde gesetzlich verfolgt). (Seite 30f) Als die Frau erneut hinter den Bildern verschwindet, diesmal mit dem Amerikaner, verlässt der Erzähler die Party mit dem Maler Arkadij Gorin, der eigentlich über seine bevorstehenden Reise nach Israel reden wollte, aber auch nicht zum Zug kam. Beim Abschiednehmen schlägt Arkadij seinem Begleiter vor, einen Auftrag zu übernehmen, den er in der kurzen Zeit bis zu seiner Abreise nicht mehr durchführen kann: Er soll in der Gegend von Archangelsk am Weißen Meer eine Reihe von Texten über die dortigen Sitten und Gebräuche schreiben. "Weißt du, in der Provinz brauchen sie immer einen Dozenten aus Moskau oder Leningrad. Für ihr Erinnerungsalbum. Zum Jubiläum ihrer Stadt, für irgendein Volksfest, oder was weiß ich. Fahr hin und sammle ein paar Märchen über ihre Waldschrate, vor allem aber wirst du dort jede Menge Material für deine antisowjetische Satire finden …" (Seite 41)
So kommt der Erzähler im August 1975 nach Mirnoje, ein kleines Dorf am Weißen Meer. Zuerst dachte ich, ich hätte ein Liebespaar überrascht. Im Gestrüpp, das am Seeufer wucherte, blitzte eine blendend weiße Hüfte auf, ich sah einen unter der Anstrengung gewölbten Oberkörper, ich hörte ein schweres Keuchen. Der Abend war klar geblieben, aber die tiefstehende und lohrote Sonne schraffierte den Anblick mit Schatten und Feuer, entflammte das Laub der Weiden. In diesem Schillern erschien plötzlich das Gesicht einer Frau, die mit dem Kinn beinahe den lehmigen Boden streifte, und mit einem Ruck warf sie ihren Kopf in den Nacken, dass ihr volles Haar nur so flog. Die Luft war warm, feucht ..." (Seite 12)
Das ist seine erste Begegnung mit Vera. Die Siebenundvierzigjährige zieht ein gefülltes Fischernetz aus dem See. "Verdammte Vera! Sie wartet und wartet! Immer und ewig … Hat ihr ganzes Leben weggeschmissen wegen dieser Warterei! Ist doch einerlei, ob er gefallen ist oder vermisst wird. Man weint, na klar, meinetwegen kippt man einige Wodkas, man trägt Trauer, schön und gut, so ist es Brauch, aber danach beginnt man wieder zu leben. Das Leben geht weiter, Himmel, Arsch und Zwirn!" (Seite 18)
Weil Otar in Moskau heimlich mit Fellen und Pelzen gehandelt hatte, nennt er sich ironisch "die erste Schwalbe des Kapitalismus". Seine Geliebte denunzierte ihn, und er wurde verhaftet. Inzwischen hat er sechs Jahre Lagerhaft verbüßt und muss nun seine vierjährige Bewährungszeit in dieser Einöde am Weißen Meer verbringen. "Das ist Anna", erklärte sie mir. "Sie ist vor drei Tagen gestorben." (Seite 44)
Vera rudert zur Insel im See, auf der sich der Friedhof befindet. Dort bestattet sie die Verstorbene. Mehr aus Angst um die Wahrheit denn aus jugendlichem Zynismus wollte ich ihr jede Aufopferungsbereitschaft, jede Emphase nehmen. Vera hatte nie wirklich die Wahl gehabt. Die Sachzwänge, dieses Verhängnis der Armen, hatten für sie entschieden. Zuerst hat es an heiratsfähigen Männern gemangelt, dann, als das Dorf sich neu belebte und man wieder Hochzeiten zu feiern begann, wurde sie schon als eine Art alte Jungfer betrachtet. Eine neue Generation war da, richtige Jugendliche, die sich um die Schatten des Krieges nicht kümmerten und sich beeilten, ihren Anteil am Glück zu ergattern, die sich in Acht nahmen vor dieser alleinstehenden Frau, halb Witwe, halb Verlobte, die immer einen langen Kavalleriemantel trug. (Seite 78) Trotz seiner Skepsis bleibt der Erzähler in Mirnoje, um das Geheimnis der rätselhaften Frau zu ergründen.
Nach einigen Wochen begriff ich, dass ich meine Suche nach den örtlichen Gebräuchen und Legenden auch sehr gut in der Bibliothek von Archangelsk hätte durchführen können. Das ganze Brauchtum der Hochzeits- oder Begräbniszeremonien war seit langem in Büchern festgehalten. Vor Ort hingegen, in den nahezu entvölkerten Dörfern, ging das Wissen um die Traditionen immer mehr verloren, da es an niemanden mehr weitergegeben werden konnte. (Seite 45f)
In der Bezirkshauptstadt schließt der Erzähler sich einem Dissidentenkreis an, der vom stellvertretenden Direktor des Kulturhauses, der Leiterin der städtischen Bibliothek, einem Chirurgen des Krankenhauses, einer Krankenschwester, zwei Lehrerinnen und einem Zeitungsreporter gebildet wird.
Ich konnte mich dem kleinen Fenster nähern, der Frau heimlich zusehen, die sich vielleicht gerade einseifte, oder vielleicht einfach die Tür aufstoßen, zu ihr gehen, ihren glitschigen, unnahbaren Körper in die Arme schließen, mich mit ihr auf die nassen Dielen fallen lassen, sie nehmen …
Unter dem Vorwand, ihm sei das Brot ausgegangen, klopft der Erzähler am nächsten Abend an Veras Tür. Auch an den nächsten beiden Abenden besucht er sie unangemeldet. Und als sie zur Friedhofsinsel hinüberrudert, um einen Kranz auf Annas Grab zu legen, begleitet er sie. "Ich begriff, dass mein Platz hier ist, das war alles. Oder vielmehr, ich dachte nicht einmal mehr an etwas anderes. Ich begann wieder zu leben." (Seite 104)
Vera leiht dem Erzähler ein Buch des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure, aber statt es zu lesen, lässt er es liegen. "Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft …" Unwillkürlich reizte mich das Wesen dieser Frau noch immer zu Formulierungen, mit denen ich es zu erfassen versuchte. Aber vor der fast gedankenlosen Einfachheit, mit der Vera handelte, liefen sie ins Leere. (Seite 108) Eine Woche später beobachtet der Erzähler, wie Vera zu der Abzweigung geht, bei der man als Anhalter auf einen Lastwagen warten kann, der in die Bezirkshauptstadt fährt. Weil sie statt des Soldatenmantels einen eleganten Regenmantel trägt, unterstellt ihr der Erzähler, dass sie sich mit einem Liebhaber verabredet hat. Nichts verletzt einen so sehr wie das banale Liebesleben einer Frau, die man idealisiert hat. Das Leben, das ich mir für Vera ausgemalt hatte, war eine hübsche Lüge. Die Wahrheit lag im Körper dieser Frau verborgen, einer Frau, die ganz vernünftig einmal in der Woche (oder öfter?) mit einem Mann schlief, mit ihrem Liebhaber (war er verheiratet? oder Witwer?), nach Mirnoje zurückkehrte und wieder ihre Aufgabe bei den Alten erfüllte … (Seite 117)
Aufgewühlt folgt er ihr und sieht gerade noch die Rücklichter des Lastwagens, der sie vermutlich mitgenommen hat. Zufällig kommt in diesem Augenblick der stellvertretende Leiter des Hauses der Kultur vorbei und nimmt ihn auf seinem Motorrad mit. Sie folgen dem LKW bis zum Stadtrand. Vera steigt dort aus, und der Erzähler geht ihr bis zum Bahnhof nach. Als der Zug aus Moskau einfährt, verliert er Vera in der Menge auf dem Bahnsteig aus den Augen. "Klar, eine Eremitin, eine Heilige. So ein Quatsch! Sie bumst doch mal hier und mal da. Was fragst du, 'mit wem'? Na, mit dem Bahnhofsvorsteher." (Seite 122)
Wegen eines Stromausfalls brennen Kerzen. Eine davon fällt vom Fensterbrett, rollt unter den Vorhang und setzt ihn in Brand. Verschlungene Paare und Frauen, die bereits ihre Röcke ausgezogen haben, schrecken hoch, aber das Feuer kann rasch gelöscht werden. Eine Frau wie sie, das unerschütterliche, von der Zeit ungebeugte und dem Schicksal gegenüber gleichgültige Idol, konnte also auch das sein: eine von zwei Gläsern Likör weichgestimmte Frau, deren Wangen rot glühten wie bei einem jungen Mädchen und die mit der Gefühlsseligkeit einer alten Provinzjungfer rückhaltlos ihr Herz ausschüttete. (Seite 134) Er glaubt, ihr näher zu kommen. Nichts trennte mehr unsere Körper, nur ihre weiße Seidenbluse, die von einem harmlosen Schnitt und völlig außer Mode war, und diese Schattengestalten, die sich langsam aus ihrem Blick zurückzogen. (Seite 136)
Plötzlich klopft eine Alte ans Fenster: Katerina geht es schlecht. Sie gab sich mit einer Besessenheit hin, als ob sie einen Mann um Verzeihung bitten oder ihn verhöhnen wollte. (Seite 166)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Eine Tageszeitung aus Archangelsk berichtet über einen Ingenieur, der aus einem Dorf am Weißen Meer stammt. Auf dem dazugehörigen Foto sieht man Boris Koptew mit zwei Enkelkindern. An seinem Jackett hängen schwere Orden. 1945 wurde er im Umland von Berlin verwundet. Seine Mutter, die einzige Angehörige, starb 1946 bei einer Hungersnot. Seine Verlobte erhielt irrtümlich die Nachricht, er sei vermisst. Boris Koptew erholte sich im Lazarett, und als er es verließ, fühlte er sich wie neugeboren. In Moskau feierte man ihn als Helden. Frauen umschwärmten ihn. Daraufhin wollte der Sohn eines Kolchosbauern aus der Provinz von seiner Herkunft nichts mehr wissen. Inzwischen ist er Sekretär des Parteikomitees einer großen Moskauer Fabrik, für die er Raumfähren entwirft. Zoja, eine Greisin, die dem Erzähler die Zeitung brachte, bestätigt dessen Verdacht, dass es sich bei Boris Koptew um den Mann handelt, auf den Vera seit dreißig Jahren wartet. Gleich wird sie an die Tür klopfen, sich setzen, Platz nehmen zu einem endlosen Gespräch, unterbrochen von Schluchzern, Umarmungen, denen mich zu entziehen mir der Mut fehlt, abgenötigten Versprechungen. Alles wird himmelschreiend falsch und völlig wahr sein, voller unvollständiger und reiner Wahrheiten über ihr zuschanden gemachtes Leben. Sie braucht tausendmal mehr Hilfe als die alten, die sie pflegt. (Seite 177) Vera geht zwar an seinem Haus vorbei, aber er rechnet damit, dass sie auf dem Rückweg bei ihm klopft. Sie wird dich auf dem Rückweg besuchen, sich zu dir setzen, wahrscheinlich wortlos, als Frau auftreten, die nicht an deinem Edelmut zweifelt. Du sitzt in der Klemme. Sie wird dich in Leningrad besuchen. Sie wird dir nicht mehr von den Fersen weichen. Die Liebe alternder Frauen. Und dann noch einer solchen Frau! Du wirst für sie den anderen ersetzen. Du bist schon der andere, auf den sie vergeblich gewartet hat … (Seite 177) Am nächsten Morgen will er mit seinem Koffer heimlich verdrücken. Doch am Seeufer trifft er überraschend auf Vera. Sie versucht, das festgefrorene Boot ins Wasser zu stoßen. Er stellt seinen Koffer ins Boot, hilft ihr und steigt unversehens mit ein. Schweigend rudert Vera zur Insel. Sie hat ein Grabkreuz für Anna dabei. Nachdem sie von der Insel abgelegt haben, nimmt der Erzähler sich vor, am Ufer sofort seinen Koffer zu nehmen und loszulaufen. Doch als er hochblickt, merkt er verwundert, dass Vera ihn nicht nach Mirnoje zurückgerudert hat, sondern zu einer Anlegestelle auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Sie sieht mir in die Augen, lächelt mir zu, dann küsst sie mich auf die Wange und steigt wieder ins Boot. Mit dem ersten Ruderschlag richtet sie das Wort an mich: "Jetzt haben Sie es nicht mehr weit in die Stadt und können noch den Elf-Uhr-Zug erreichen … Gott sei mit Ihnen." (Seite 189) |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Die Frau vom Weißen Meer" erzählt Andreï Makine eine schlichte, ruhige und melancholische Liebesgeschichte. Er legt sie einem namenlosen Ich in den Mund, einem Schriftsteller, der sich nach langer Zeit an seine Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau in einem Dorf am Weißen Meer erinnert. Natürlich ist er inzwischen nicht nur älter, sondern auch klüger geworden. Deshalb kommentiert er die von ihm zitierten bruchstückhaften
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Andreï Makine (Kurzbiografie / Bibliografie) |