Javier Marías: Alle Seelen (Roman) |
Kritik: Bei dem Roman "Alle Seelen " von Javier Marías handelt es sich um ein komisches Panoptikum schrulliger Figuren, seltsamer Gepflogenheiten und verstaubter Universitätsrituale. ![]() |
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Javier Marías: |
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Inhalt: Ein spanischer Literaturwissenschaftler kommt für zwei Jahre als Gastdozent nach Oxford. Er beobachtet die Riten der traditionsreichen Universität, die gesellschaftlichen Gepflogenheiten und eine Reihe von Egomanen, Spinnern und Genies. Bei einem "High Table Dinner" begegnet sein Blick dem der verheirateten Dozentin Clare Bayes, und für die Zeit seines Aufenthalts in Oxford werden die beiden ein Liebespaar ... ![]() |
Manuskript: 1988 |
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Javier Marías: Alle Seelen |
Inhaltsangabe:
Der mit seiner Ehefrau Luisa und dem gemeinsamen kleinen Sohn in Madrid lebende Ich-Erzähler erinnert sich an einen zweijährigen Aufenthalt in Oxford, den er vor zweieinhalb Jahren – kurz bevor er Luisa kennen lernte – beendet hatte. "Es genügt, wenn ich dir sage, dass ich gern mit ihm lebe, das weißt du schon. Es ist nicht nur angenehm, ich bin auch daran gewöhnt. Es ist das Leben, das ich gewählt habe, und ich wähle es weiterhin aus unter all den Leben, die mir möglich wären, vergessen wir die unmöglichen. Einen Liebhaber haben steht nicht im Widerspruch dazu [...]" (Seite 207)
In dieser Nacht erzählte Clare von ihren Eltern. Sie war als Tochter eines englischen Diplomaten mit dem Namen Newton in Delhi und Kairo aufgewachsen. In Indien hatte ihre Mutter, die ebenfalls Clare hieß, eineinhalb Jahre lang eine Affäre gehabt. Terry Armstrong hatte sich der Mann genannt, aber es blieb fraglich, ob es sein wirklicher Name war. Als Clare Newton schwanger wurde und zugab, nicht zu wissen, ob ihr Ehemann oder ihr Liebhaber das Kind gezeugt hatte, warf der Diplomat sie hinaus. Einige Tage später beobachtete ihre damals dreijährige Tochter Clare im Beisein ihres indischen Kindermädchens Hilla, wie sie mit einem fremden Mann auf eine Brücke ging, sich ins Wasser stürzte und ertrank.
Zwei der drei sind gestorben, seit ich Oxford verlassen habe, und das bringt mich auf den abergläubischen Gedanken, dass sie vielleicht gewartet haben, bis ich kam und meine Zeit dort zubrachte, um mir Gelegenheit zu geben, sie kennenzulernen und jetzt von ihnen sprechen zu können. Es mag daher sein, dass ich – im selben Aberglauben – gezwungen bin, von ihnen zu sprechen. Sie starben erst, als mein Umgang mit ihnen aufhörte. Wäre ich weiter in ihrem Leben und in Oxford geblieben (wäre ich weiter tagtäglich in ihrem Leben geblieben), dann würden sie womöglich noch leben. Dieser Gedanke ist nicht nur abergläubisch, sondern auch eitel. Aber wenn ich von ihnen spreche, muss ich auch von mir sprechen und von meinem Aufenthalt in der Stadt Oxford. Obwohl der, der spricht, nicht der gleiche ist, der dort war. Er scheint es zu sein, aber er ist es nicht [...] Wer hier erzählt, was er sah und erlebte, ist nicht der, der es sah und erlebte, aber auch nicht seine Fortsetzung, sein Schatten, sein Erbe oder sein Usurpator. (Seite 7) |
Buchbesprechung:
Im Vergleich zu poetischen Romanen von Javier Marías wie etwa "Mein Herz so weiß" fällt "Alle Seelen" ab. Es geht um eine Liebesaffäre vor dem Hintergrund eines komischen Panoptikums schrulliger Figuren, seltsamer Gepflogenheiten und verstaubter Universitätsrituale. Erzählt wird es in einer eher kühlen Sprache von einem namenlosen Ich-Erzähler in Madrid, der sich zweieinhalb Jahre nach der Beendigung eines zweijährigen Aufenthalts als Gastdozent in Oxford an seine damaligen Erlebnisse und Beobachtungen erinnert. Als Schauplatz bedient sich Javier Marías der Stadt Oxford. Ihr Raunen, ihre Mythenhaftigkeit verdichtet er zu einer staunenswert vitalen, durch und durch verlogenen und lachhaft, nämlich "wie in Sirup konservierten" Spielstätte eines so geistigen wie erotisierten Abenteurertums. (Gerhard Matzig, Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2007) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Javier Marías (Kurzbiografie) |