Herta Müller: Atemschaukel (Roman) |
Herta Müller: Atemschaukel |
Inhaltsangabe:
Am 15. Januar 1945 um 3 Uhr nachts holen zwei Polizisten in Hermannstadt den siebzehnjährigen Leopold Auberg in der Wohnung seiner Eltern ab und bringen ihn zusammen mit anderen Siebenbürger Sachsen zu einem Sammellager.
Montags sah ich ihm zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen. Leopold ist froh, aus Hermannstadt fortzukommen, denn er ist homosexuell und lebte in ständiger Furcht davor, beim "Wildwechsel" im Erlenpark oder mit einem Partner im Neptunbad erwischt zu werden. Er wäre dann hart bestraft worden. Allerdings erwarten Leopold keine Ferien, sondern er wird wie die anderen zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahre alten Männer und Frauen im Viehwaggon zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht. [...] die Prozedur des Einsteigens habe ich vergessen, weil wir so lange Tage und Nächte im Viehwaggon fuhren, als wären wir schon immer drin gewesen. (Seite 16) In dem Waggon, der zwei Wochen lang unterwegs ist, sitzt Leopold neben Trudi Pelikan. Sie kommen in das Arbeitslager Nowo-Gorlowka und werden in eines der fünf Arbeitsbataillone eingeteilt.
Wir stellten uns auf in Reih und Glied – welch ein Ausdruck für diese fünf Elendsregimenter aus dicken Augen, großen Nasen, hohlen Wangen. Die Bäuche und Beine waren aufgepumpt mit dem dystrophischen Wasser. Ob Frost oder Gluthitze, ganze Abende vergingen im Stillgestanden. Nur die Läuse durften sich rühren an uns. Beim endlosen Durchzählen konnten sie sich vollsaufen und Paradegänge absolvieren über unser elendiges Fleisch, uns stundenlang vom Kopf bis in die Schamhaare kriechen. Meist hatten sich die Läuse schon satt gesoffen und in die Steppnähte der Watteanzüge schlafen gelegt, und wir standen immer noch still. Der Lagerkommandant Schischtwanjonow schrie noch immer. Seinen Vornamen kannten wir nicht. Er hieß nur Towarischtsch Schischtwanjonow. Das war lang genug, um vor Angst zu stottern, wenn man es aussprach [...]
Der Kapo Arthur ("Tur") Prikulitsch ist kein Russe, sondern er stammt aus dem Gebirgsdorf Lugi im Dreiländereck der Karpato-Ukraine, aber er gehört gewissermaßen zu den Russen. Er hat eine Geliebte im Lager, sie heißt Beatrice ("Bea") Zakel, kommt ebenfalls aus Lugi und saß als Kind mit Tur in derselben Schulbank.
Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da. Plötzlich ist ein gellender Schrei einer Zwangsarbeiterin namens Irma Pfeifer zu hören.
Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mussten alles aus den Händen fallenlassen. Ruki na sad, Hände auf den Rücken – mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen.
Der Bauleiter behauptet, Irma Pfeifer sei absichtlich in die Mörtelgrube gesprungen, aber die Häftlinge vermuten, dass sie einen nassen Zementsack vor dem Bauch trug und deshalb nicht sah, wohin sie ihren Fuß setzte.
Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus. Das Zimmer war niedrig, in der Wand das Fenster so tief wie mein Knie. Auf einem Hocker standen zwei magere, grauweiß gescheckte Hühner [...] Irgendjemand schleppt eine Kuckucksuhr an und hängt sie in der Baracke auf. Allerdings ruft der Kuckuck zu falschen Zeiten. Der Dreher Anton Kowatsch, der im Lagerorchester Schlagzeuger und Trommler ist, erklärt den anderen, in Bezug auf andere Weltzeiten seien die Kuckucksrufe korrekt. Der Kowatsch Anton war in die ganze Uhr vernarrt [...] Aber alle anderen in der Baracke wollten weder in den Weltgegenden des Kuckucks wachliegen noch schlafen. (Seite 98) Kowatsch will die Uhr reparieren. Aber bevor er die Gewohnheiten des Kuckucks in den Griff bekam, hatte jemand den Kuckuck aus der Uhr gerissen. Das Türchen des Kuckucks hing schief im Scharnier. Und wenn das Uhrwerk den Vogel zum Singen animieren wollte, ging das Türchen zwar halbwegs auf, aber es trat statt des Kuckucks ein Stückchen Gummi wie ein Regenwurm aus dem Gehäuse. (Seite 98) Die Zwangsarbeiter, die am Morgen von einer hässlichen Frau namens Fenja ihre Brotration für den Tag bekommen, können die paar Brocken sofort aufessen oder sich wenigstens einen Teil davon für den Abend aufsparen. Als Albert Gion von der Arbeit zurückkommt, fehlt unter seinem Kopfkissen das Brot, das er sich seit fünf Tagen aufgespart hat. Da Karli Halmen an diesem Tag frei hatte und sich allein in der Baracke aufhielt, gibt es keinen Zweifel, wer das Brot gestohlen hat. Das Brot war nicht da, und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte, ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm den Hals, bis Karls Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg, zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart die Hand, dass ich den Brotdieb beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand. Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim. (Seite 112f) Heimlich treffen sich einige der Zwangsarbeiterinnen mit deutschen Kriegsgefangenen zur "Katzenhochzeit". An Frauen ist Leopold nicht interessiert. Diskret schau ich mir nach der Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste. (Seite 117)
Im Lauf der Zeit spielt die Sexualität allerdings keine Rolle mehr, und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nivellieren sich nicht nur, weil sie die gleiche Kleidung tragen und schon deshalb kaum zu unterscheiden sind. Der "Hungerengel" macht sie alle gleich. Hatten die beiden Sattgefressenen eine Ahnung, wie schwer sie meinen Hunger betrogen. Hatten nicht sie mich verelenden lassen, dass mein eigener Schal nicht mehr zu mir passte. (Seite 181)
Leopold stellt Bea zur Rede. Tur habe ihr den Schal abgenommen, klagt sie. Als er schon nicht mehr damit rechnet, etwas dafür zu bekommen, schickt Tur ihn für einen Tag zur benachbarten Kolchose. Gewiss will Tur ihn "auf der Flucht" erschießen lassen, um ihm nichts für den Schal geben zu müssen. Aber zunächst teilt ihn der Wachtposten dazu ein, den Frauen zu helfen, die mit bloßen Händen Kartoffeln ernten. Leopold befürchtet, dass man ihn erst noch einen Tag lang arbeiten lässt, bevor er erschossen wird. Am Abend ziehen alle ab und lassen ihn allein zurück – mit einem Haufen Kartoffeln. 273 Stück schleppt er ins Arbeitslager. Offenbar verständigte Tur sich nicht nur mit dem Wachposten der Kolchose, sondern auch mit der Wache des Lagers, denn diese winkt Leopold durch.
Den leeren Teller schob ich zur Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihren kleinen Finger stieß. Sie leckte ihren unbenutzten Löffel ab und wischte ihn an der Jacke trocken, als hätte sie gegessen, nicht ich. (Seite 225) Gleichgültigkeit macht sich unter den Zwangsarbeitern breit. Das ist auch nötig, wenn sie überleben wollen. Wie soll man sonst flink sein, wenn man den Toten als Erster entdeckt. Man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor sich ein anderer die Kleider nimmt. Man muss sein gespartes Brot aus dem Kissen nehmen, bevor ein anderer da ist. Das Abräumen ist unsere Art zu trauern. Wenn die Tragbahre in der Baracke ankommt, darf außer einem Leichnam für die Lagerleitung nichts zu holen sein. (Seite 148) Die Zwangsarbeiter dürfen zwar keine Briefe schreiben, können aber welche empfangen. So wird Leopold eines Tages zu Tur gerufen.
Ich habe Post von zu Hause. Die Rot-Kreuz-Karte, die Leopold von seiner Mutter erhält, war sieben Monate unterwegs. Auf die Karte hat sie mit der Maschine das Foto eines Säuglings genäht und darunter geschrieben: "Robert, geb. am 17. April 1947". Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. (Seite 213) Im fünften Lagerjahr erhalten die Zwangsarbeiter etwas Geld und dürfen damit auf dem Basar einkaufen. Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät. (Seite 250)
Anfang 1950 kommt Leopold nach Hause. Auf der Rückfahrt saßen er und Trudi Pelikan absichtlich in verschiedenen Viehwaggons. Ihr waren im ersten Winter die Zehen erfroren. Im folgenden Sommer war sie mit dem Fuß unter das Rad eines Kalkwagens geraten, und als sich im Herbst Würmer unter dem Verband geringelt hatten, waren ihr die Zehen amputiert worden. Als sie Leopold in Hermannstadt auf der Straße mit ihrem Gehstock entgegenkommt, tun sie beide so, als würden sie sich nicht kennen. In den nächsten Wochen habe ich das VORWORT verlängert, drei Hefte lang. (Seite 281)
Schließlich streicht er "Vorwort" durch und schreibt "Nachwort" darüber. |
Buchbesprechung:
Am 20. August 1944 begann die Rote Armee mit einem Großangriff gegen Rumänien. Drei Tage später wurde der Diktator Ion Victor Antonescu (1882 – 1946) gestürzt und von sowjetischen Agenten festgenommen. (Er wurde am 1. Juni 1946 hingerichtet.) König Michael I. erklärte am 25. August 1944 dem bis
Es ist ein erschütternder Roman, das beste Buch, das Herta Müller, die schon für so viele Prosa- und Essaybände zu rühmen war, geschrieben hat, ein verstörendes Meisterwerk, mutig und sprachschöpferisch, ein Versuch, aus dem Inneren der Hölle zu sprechen, einer ganz eigenen, bildstarken Sprache, die dort Worte finden muss, wo die herkömmlichen versagen, das Grauen nicht zu fassen vermögen. (Karl-Markus Gauss, Süddeutsche Zeitung, 20. August 2009)
"Atemschaukel" gehört zu den sechs Titeln auf der Shortlist mit den Nominierungen für den Deutschen Buchpreis, der am 12. Oktober 2009 verliehen werden soll. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Herta Müller: Herztier |