Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte / Südlich der Grenze, westlich der Sonne (Roman) |
Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte |
Inhaltsangabe:
Hajime (das heißt "der Beginn" auf japanisch) wächst in einer gutbürgerlichen Vorortsiedlung verhätschelt als Einzelkind auf. "Ich war tatsächlich verzogen, schwach und egozentrisch." (Seite 9) Da seine Mitschüler alle Geschwister haben, "Musterfamilien" sind, kommt er sich immer vor, als sei er "kein ganz vollständiger Mensch". (Seite 8) Sie war ganz ohne Frage ein frühreifes Mädchen. ... Wir hielten uns nur ein einziges Mal bei der Hand. ... Unsere Hände waren, wenn's hoch kommt, zehn Sekunden lang umeinander geschlossen, aber mir kam es eher wie dreißig Minuten vor. Als sie mich losließ, fühlte ich mich plötzlich verloren. (Seite 19ff)
Nach einem Umzug von Hajimes Eltern besuchen die beiden verschiedene Schulen und verlieren sich aus den Augen. Sie legte ihre Hand flach auf mein Herz, und die Berührung ihrer Hand und das Pochen meines Herzens wurden eins. Sie ist nicht Shimamoto, sagte ich mir. Sie kann mir nicht geben, was Shimamoto mir gegeben hat. (Seite 32)
Über ein Jahr gehen sie miteinander, ohne dass es zum Koitus kommt. Zwei Monate lang trieben wir es so leidenschaftlich miteinander, dass ich befürchtete, uns würde das Hirn zerschmelzen. Keine Kinobesuche, keine Spaziergänge, kein Smalltalk über Romane, Musik, den Krieg, die Revolution. Vögeln war das Einzige, was wir taten. Ein paar Worte müssen wir wohl gewechselt haben, aber worüber, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. ... Ich stellte ihr nie eine Frage, und sie mir ebensowenig. (Seite 47ff) Sie waren nicht ineinander verliebt und hätten sich nach ein paar Monaten wahrscheinlich sowieso getrennt. Aber Izumi hat von dem Verhältnis erfahren und ist zutiefst verletzt. Aber nicht nur Izumi war verletzt worden. Auch mir selbst hatte ich eine tiefe Wunde zugefügt, wenngleich ich damals noch nicht wusste, wie tief. Ich hätte aus dieser Erfahrung vieles lernen müssen, aber wenn ich zurückblicke, habe ich daraus nur eine einzige, unumstößliche Erkenntnis gezogen: dass ich im Grunde ein Mensch bin, der fähig ist, Böses zu tun. (Seite 51) Hajime absolviert lustlos ein Studium. Vier Jahre College betrachtet er als vergeudete Zeit und sieht sich an einem Tiefpunkt. Nach dem Studienabschluss findet er eine Stelle als Lektor bei einem Schulbuchverlag. Die Arbeit füllt ihn nicht aus; ein paar Freundinnen hat er, aber nichts von Dauer. Er ist höchst unzufrieden. Ich betrachte diese Zeit als den dritten Abschnitt meines Lebens – die zwölf Jahre zwischen meinem Eintritt ins College und meinem dreißigsten Geburtstag. Jahre der Enttäuschung und der Einsamkeit. Und des Schweigens. Eine zwölfjährige Eiszeit, in der meine Gefühle tief in mir eingeschlossen blieben. (Seite 55) Hajime ist achtundzwanzig, als er an Silvester durch die Stadt schlendert. Er entdeckt im Gedränge eine Frau, die ein Bein ebenso nachzieht wie Shimamoto. Er läuft dieser elegent gekleideten Frau hinterher, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um seine angehimmelte Freundin aus Schultagen handelt. Aber wie sollte er sie erkennen? Es sind fast sechzehn Jahre vergangen! Die Frau fühlt sich wohl verfolgt und flüchtet in ein Café. Hajime geht ihr auch dorthin nach. Er wagt es nicht, sie anzusprechen, um sich zu vergewissern. Nach einem Telefonanruf verlässt sie hastig das Café und hält ein Taxi an. Hajime eilt ihr hinterher und will sie am Einsteigen hindern, als er von einem Mann am Arm gepackt wird. Dieser drängt ihn ins Café zurück und stellt ihn wegen der Verfolgung zur Rede.
Ich erwiderte nichts. Sie hatte gemerkt, dass ich ihr folgte, war in dieses Café gegangen und hatte diesen Mann angerufen. Dann legt der Mann ein Kuvert auf den Tisch. "Kein Wort über das, was vorgefallen ist. Ihnen ist heute nichts Besonders widerfahren, und Sie haben mich nie gesehen. Verstanden? ... Wir möchten sicher beide jede Unannehmlichkeit vermeiden. Richtig?" (Seite 68) In dem Umschlag sind Zehntausend–Yen–Scheine. Hajime kann sich auf die Motive des Mannes keinen Reim machen. Es war und blieb ein Rätsel. Manchmal sagte ich mir. es müsse alles nur eine Einbildung gewesen sein ... Aber es war wirklich passiert. In meiner Schublade lag ein weißer Umschlag mit Zehntausend–Yen–Scheinen – der Beweis, dass es kein Traum gewesen war. (S.69 ff)
Mit dreißig heiratet Hajime eine fünf Jahre jüngere Frau: Yukiko. Ihr Vater ist ein vermögender mittelständischer Bauunternehmer. Nachdem er von der Unzufriedenheit Hajimes mit seiner Arbeit im Schulbuchverlag gehört hat, bietet er ihm an, beim Aufbau einer neuen beruflichen Existenz behilflich zu sein. Hajime eröffnet eine elegante Jazz–Bar, und zwei Jahre später eine zweite. Er und Yukiko bekommen zwei Kinder, haben eine komfortable Wohnung, ein schickes Auto und bald auch ein Ferienhaus. Er arbeitet gerne in seinen Bars, ist ein liebevoller Vater und er liebt seine sanfte, aufmerksame Frau, die lindernd und besänftigend auf ihn einwirkt. Während der Schwangerschaften Yukikos hatte er ein paar kurze Affären, maß ihnen aber keine Bedeutung bei. "Du müsstest sie mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Wer es nicht selbst gesehen hat, kann es gar nicht verstehen." (Seite 85) In einer Fachzeitschrift erscheint ein Feature über Hajimes Jazz–Bar. Das belebt das Geschäft, auch viele alte Bekannte kommen aus Neugier, und als das Interesse an dem Artikel längst abgeflaut war, betritt eine atemberaubend schöne Frau die Bar. Als Chef kümmert sich Hajime um den Barbetrieb und nimmt von ihr nur als Gast ohne Herrenbegleitung Notiz. Erst als sie von ihrem Barhocker steigt, sich neben ihn setzt und "Was für eine schöne Bar" sagt, begreift er langsam – Shimamoto! Durch seine Verlegenheit und Überraschung bringen sie nur eine verkrampfte Unterhaltung zustande, bis sie darauf zu sprechen kommen, warum er sie damals nicht mehr besucht hat.
"Ich hatte Angst", sagte ich [Hajime]. "Deswegen bin ich nicht gekommen." Als sie dann geht und er sie zur Tür begleitet, bemerkt er, dass sie ihr Bein nicht mehr so nachzieht wie früher: Sie hat es operieren lassen.
"Shimamoto–san, werde ich dich wiedersehen?" Es vergehen Monate, ehe Shimamoto wiederkommt. Auch diesmal ein regnerischer Abend. Ihr geheimnisvolles Lächeln zieht ihn abermals in seinen Bann. Shimamoto fragt Hajime, ob er einen Fluss kenne, "der ziemlich schnell direkt ins Meer fließt" (Seite 113), und ob er sie zu diesem Fluss begleiten könne. Er verspricht, mit ihr an den von ihm vorgeschlagenen Platz zu fahren. Mit dem Flugzeug könnten sie es an einem Tag hin und zurück schaffen. Natürlich muss er seine Frau wegen seiner Abwesenheit belügen. Der Grund für Shimamotos ausgefallen Wunsch erschließt sich ihm erst an Ort und Stelle. Sie hat eine kleine Urne dabei mit der Asche ihres Babys, das am Tag nach der Geburt gestorben war. Die Asche streut sie in den Fluss. "...Wird die Asche des Kindes in die See fließen, sich mit dem Meerwasser vermischen, verdunsten, sich zu Wolken sammeln und als Regen niedergehen?" (Seite 123) Während der Rückfahrt im Mietauto zum Flughafen verliert Shimamoto das Bewusstsein. In Panik findet Hajime schließlich ein Medikament in ihrer Tasche. Aber ohne Flüssigkeit kann sie die Kapseln nicht schlucken. Er sammelt auf dem Parkplatz Schnee, bringt ihn in seinem Mund zum Schmelzen und lässt das Wasser aus seinem Mund in ihren rinnen. Für sie war das wohl kein unerwarteter Anfall, während Hajime völlig durcheinander ist. Wegen des Zwischenfalls sind sie nun für den Rückflug spät dran. "Ich wusste, dass irgend so etwas passieren würde", sagte sie wie zu sich selbst. "Sobald ich dabei bin, passiert nie etwas Gutes, man kann sich drauf verlassen. Wenn ich im Spiel bin, geht grundsätzlich etwas schief. Alles läuft glatt, dann stoße ich dazu, und bums! bricht alles auseinander." (Seite 128 ff) Hajime denkt sich bereits Ausreden für seine Frau aus, sollte er am gleichen Tag nicht mehr zurückfliegen können. Das Flugzeug erreichen sie; es startet mit Verspätung und Hajime kommt deshalb erst spät am Abend nach Hause. Shimamoto lässt er in der Stadt aussteigen. Als ich davonfuhr, dachte ich: Wenn ich sie nie wiedersehe, werde ich wahnsinnig. Kaum war sie ausgestiegen und verschwunden, war meine Welt hohl und bedeutungslos geworden. (Seite 131)
Von seinem Schwiegervater erfährt Hajime erst jetzt, dass Yukiko früher versucht hatte, sich wegen einer unglücklichen Liebe umzubringen, und er legt ihm ans Herz, sie nicht zu vernachlässigen. "... die traurige Wahrheit ist die, dass bestimmte Dinge nicht rückgängig zu machen sind. Haben sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt, kann man tun, was man will, aber sie werden nie wieder zu dem, was sie einmal waren. Wenn nur eine winzige Kleinigkeit schiefgeht, dann bleibt es für immer so." (Seite 153) Im Frühjahr verschwindet Shimamoto erneut. Sie hinterlässt in der Bar lediglich eine Nachricht auf einem Streichholzbriefchen: "Wahrscheinlich kann ich eine Zeit lang nicht mehr kommen", las ich. "Ich muss jetzt heim. Leb wohl. Mach's gut". (Seite 156)
Hajime vertreibt sich ruhelos die Zeit: er baut seine Bars um, treibt intensiv Sport und versucht, sich mit seiner Familie im Ferienhaus abzulenken. "... Ich hätte mich bei dir melden sollen. Aber ich wollte gewisse Dinge so belassen, wie sie sind. Konserviert, sozusagen. Entweder ich komme her, oder ich komme nicht. Wenn ich herkomme, dann bin ich da. Wenn nicht, dann ... bin ich anderswo." (Seite 174)
Sie hat ihm diesmal ein Geschenk mitgebracht, eine Schallplatte von Nat King Cole, die sie damals beide so gerne abgespielt haben. Hajime schlägt vor, dass sie sich die Platte zusammen anhören; sein Ferienhaus hat eine Stereoanlage, sie könnten hinfahren – jetzt gleich. Er verständigt Yukiko, dass er diese Nacht nicht nach Hause komme; er brauche Zeit zum Nachdenken. Sie hatten nämlich Tags zuvor eine Meinungsverschiedenheit wegen einer aus Hajimes Sicht nicht korrekten Geldtransaktion, an der ihn sein Schwiegervater beteiligen wollte. In mir wuchs die Überzeugung, der Umschlag habe nie wirklich existiert, und sie verdrängte meine Überlegungen, zermalmte und verschlang gierig meine Gewissheit, dass der Umschlag real vorhanden gewesen war. (Seite 205) Zwei Tage später, meint er auf der Straße Shimamoto zu sehen, sie ist es aber nicht. Noch ganz verwirrt steht er da und schaut in ein Taxi, in dem eine Frau sitzt. Es ist Izumi, und nun begreift er, warum die Kinder vor ihr Angst haben. In ihrem Gesicht war nichts, was man Ausdruck hätte nennen können. Nein, das trifft es nicht ganz. Ich sollte es so beschreiben: Wie ein Zimmer, das man restlos ausgeräumt hat, war ihr Gesicht von allem entkleidet, was man als ausdrucksvoll hätte bezeichnen können, und nichts war übrig geblieben. Nicht der leiseste Anflug einer Regung streifte ihr Gesicht ... Und mit diesem vollkommen ausdruckslosen Gesicht starrte sie mich an. (Seite 208) Hajime bemüht sich, Yukiko wieder näherzukommen. Durch ihre verständnisvolle Art gelingt ihnen ein Neuanfang in ihrem Leben. |
Buchbesprechung:
Das Buch beginnt wie ein Entwicklungsroman. Die Thematik Einzelkind und die Angst vor Zurückweisung wird immer wieder aufgeworfen. Hajimes vorpubertäre Liebelei mit einer Gleichaltrigen, Shimamoto; die erste enge Beziehung mit einem Mädchen, Izumi, die sich ihm doch nicht ganz hingibt; die rein sexuelle Beziehung zu der Kusine Izumis und die Ehe mit Yukiko sind eigentlich nur Nebenstränge der Handlung.
|
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Das literarische Quartett |