Michela Murgia: Accabadora (Roman) |
Michela Murgia: Accabadora |
Inhaltsangabe:Im Dorfladen von Soreni auf Sardinien hört Bonaria Urrai, wie die Witwe Anna Teresa Listru sich darüber beklagt, dass sie vor sechs Jahren noch ungewollt ein viertes Kind bekam. Sie wisse kaum, wie sie ihre vier Töchter ernähren solle, denn ihr bei einem Unfall ums Leben gekommener Ehemann Sisinnio habe ihr nichts hinterlassen. Eine Woche später einigt Bonaria sich mit Anna Teresa darauf, Maria als "Kind des Herzens" zu sich zu nehmen.
Fillus de anima, Kinder des Herzens. Bonaria, die ihren Lebensunterhalt als Schneiderin verdient, hatte die Schule nur bis zur dritten Klasse besucht. Im Alter von zwanzig Jahren verliebte sie sich in Raffaele Zincu, aber der kam aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Der Krieg hatte ihr das Brautkleid geraubt, auch wenn einige im Dorf munkelten, dass Raffaele Zincu gar nicht wirklich in der Schlacht an der Piave gefallen sei: Eher glaubte man, er habe dort eine Frau gefunden und sich, schlau wie er war, Heimreise und lästige Erklärungen erspart. Vielleicht war das der Grund, warum Bonaria Urrai schon seit ihrer Jugend eine alte Frau war, und keine Nacht schien Maria so schwarz wie ihre Röcke. Das Dorf war voll von Witwen, deren Ehemänner in Wahrheit lebten, das wussten die Klatschweiber und das wusste auch Bonaria Urrai, und darum trug sie den Kopf stets hoch erhoben, wenn sie morgens frisches Brot kaufen ging. (Seite 10f)
Für Maria Listru ist es ungewohnt, in einem großen Haus mit offenen Türen zu wohnen und jemandem wichtig zu sein. Rasch fasst sie Vertrauen zu ihrer weisen und gerechten Pflegemutter.
"Die Schule ist vollkommen unnötig [...] Es reicht aus, im Laden das Wechselgeld zählen und etwas unterschreiben zu können, mehr braucht es nicht, denn man muss ja schließlich kein Doktor werden. Schaut mich an, ich bin nur bis zur dritten Klasse in die Schule gegangen, und trotzdem hat mich noch niemand übers Ohr gehauen, auch kein Studierter! Nachdem Bonacatta, Marias älteste Schwester, acht Jahre lang als Dienstmädchen bei Giuanni Asteri gearbeitet und ihre Aussteuer zusammengespart hat, verlobt sie sich mit Antonio Luigi Cau. Am Hochzeitstag schaut Maria sich heimlich das kunstvoll verzierte Hochzeitsbrot an, das bei einer sardinischen Trauung wichtiger ist als die Eheringe. Es wird beim Offertorium dargeboten und später – mit Holzpolitur gegen Schimmel und Käfer besprüht – von den frischgebackenen Eheleuten in einem Glasrahmen an die Wand gehängt. Ein Kunstwerk aus Mehl und Wasser, so filigran, dass nur wenige Frauen die Kunst seiner Herstellung beherrschten. (Seite 53) Maria weiß, dass sie ein Verbot übertritt, indem sie das Hochzeitsbrot heimlich anschaut. Das erregt sie ebenso wie der Gedanke an die Eheschließung ihrer Schwester und der Duft des Backwerks. Wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie betrachten würde? Und doch war das Mädchen im Spiegel noch keine Braut: Die kleinen Brüste drückten so sanft gegen die ausgebleichte geblümte Bluse, dass sie sich sogar unter dem dünnen Stoff kaum abzeichneten. (Seite 54)
Auf der Suche nach einer vielversprechenderen Weiblichkeit öffnet Maria ihre Bluse und setzt sich das Hochzeitsbrot wie eine Krone vorsichtig auf den Kopf. Da hört sie Schritte. Ihr erster Impuls ist es, die Brüste zu verhüllen. Dabei rutscht ihr das Hochzeitsbrot herunter und zerbricht auf dem Fußboden. "Am Ende haben sie dich also gerufen ..." (Seite 59)
Wie alle anderen Dorfbewohner weiß Jusepi Vargiu, dass Bonaria Urrai als Accabadora tätig ist, also Sterbehilfe leistet. Als die Accabadora jedoch merkt, dass die Tochter des Kranken log und es noch nicht Zeit für Jusepis Tod ist, rät sie den Angehörigen, den alten Mann nicht verhungern zu lassen und verlässt grußlos das Haus. Die Ländereien der Bastíu waren ein wenig größer als die umliegenden, weil Gott es so gefügt hatte, dass es über die Jahre mehr Testamentsvollstreckungen als Erben gegeben hatte. (Seite 32)
Wann mit der Weinernte begonnen werden soll, bestimmt jedes Jahr der blinde Greis Chicchinu Bastíu. Er wird dazu in die Weingärten geführt, denn er erkennt den richtigen Zeitpunkt am Geruch. Es gibt Orte, an denen die Wahrheit gleichbedeutend ist mit der Meinung der Mehrheit. (Seite 68)
Weil sich die Wunde infiziert, öffnet Doktor Mastinu sie noch zweimal, aber er kann nicht verhindern, dass sich Nicolas Zustand weiter verschlechtert. Im Krankenhaus Mont'e Sali wird ihm das Bein amputiert. "Und ob Ihr versteht." Nicola senkte seine Stimme zu einem Flüstern, in seiner Verzweiflung war er erbarmungslos. "Santino Litorra hat mir erzählt, was Ihr mit seinem Vater gemacht habt. Ich verlange nichts anderes." (Seite 72) Bonaria sträubt sich: "Nicht einmal, wenn ich wollte, könnte ich tun, was du von mir verlangst. Es ginge nicht ohne die Zustimmung deiner Familie." (Seite 87f) Doch da weiß Nicola einen Ausweg: In der Nacht von Allerheiligen, wenn alle Türen für die Seelen offenstehen, soll die Accabadora sich einschleichen und unbemerkt Sterbehilfe leisten. Bonaria ist entsetzt: "Du verlangst von mir, dass ich mich schuldig mache, vor Gott und vor den Menschen. Du bist außer dir, Nicola." (Seite 88)
Der verzweifelte Zwanzigjährige droht damit, sich auch ohne ihre Hilfe das Leben zu nehmen [Suizid]. Für seine Eltern würde das viel schlimmer sein, als wenn sie glauben könnten, er sei im Schlaf eines natürlichen Todes gestorben. Als die Frau selbst um den Gnadenakt bat, war es für die anderen selbstverständlich zu handeln, und es wäre ihnen unrecht vorgekommen, es nicht zu tun. Niemand hatte Bonaria in dieser Situation etwas erklärt, aber das war auch nicht nötig gewesen, denn sie verstand, dass dem Leiden der Mutter mit derselben Natürlichkeit ein Ende bereitet wurde, wie die Nabelschnur des Kindes durchschnitten worden war. (Seite 99)
Maria will fort von Bonaria, aber auch nicht zurück zu ihrer Mutter. Deshalb wendet sie sich an Maestra Luciana, ihre frühere aus dem Piemont stammende, seit vier Jahrzehnten mit dem Großgrundbesitzer Giuseppe Meli in Soreni verheiratere Lehrerin. Luciana vermittelt sie an Attilio und Marta Gentili in Turin, die für ihre fünfzehn bzw. zehn Jahre alten Kinder Piergiorgio und Anna Gloria ein Kindermädchen suchen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Maria weiß, dass Piergiorgio sie begehrt, aber sie achtet darauf, dass es zu keinen sexuellen Körperkontakten kommt. |
Buchbesprechung:
Die Sardinierin Michela Murgia erzählt in ihrem Debütroman eine erschütternde Geschichte über eine Accabadora und ein "Kind des Herzens". Anthropologen sind sich nicht einig, ob sie tatsächlich existiert hat oder ob es sich um eine mythologische Figur handelt. Einigen Quellen zufolge wirkte die letzte Accabadora 1952 in Orgosolo. Sie ist Gegenstand vieler sardischer Legenden, in denen sie häufig zugleich auch die Funktion der Hebamme bekleidet. (Seite 172) Bei der fillus de anima bzw. fill'e anima handelt es sich um ... ... eine in Sardinien seit langem praktizierte Form der Adoption, die mit dem Einverständnis der beteiligten Familien – und ganz ohne behördliche Formalitäten – geschieht. Sie beruht allein auf Zuneigung. Eine kinderreiche Familie gibt eines ihrer Kinder an ein Paar, das keine Kinder hat. Das Kind bleibt aber in engem Kontakt zu seiner ursprünglichen Familie. – Wörtlich übersetzt "Kind der Seele", im Unterschied zum leiblichen Kind. Wir haben die Bezeichnung "Kind des Herzens" gewählt, weil sie den Sinn dieser Tradition im Deutschen besser wiedergibt. (Seite 172f) Eine weise alte Frau, die in ihrem Dorf als Accabadora fungiert, und das ihr anvertraute Mädchen stehen im Mittelpunkt des Romans. Mit wenigen Worten gelingt es Michela Murgia, die beiden Figuren einprägsam zu charakterisieren. Stringent und wuchtig veranschaulicht die katholische Theologin, wie Maria von ihrer Pflegemutter lernt, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht immer einfach ist. So kann Sterbehilfe ein Akt der Barmherzigkeit sein. Die Dinge passieren eben nicht mit göttlicher Fügung, sondern erfordern menschliches Handeln; Schicksalsergebenheit ist eine Sache von feigen Männern in Soutanen. (Jutta Person in ihrer Rezension von "Accabadora", Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2010)
Dabei räsoniert Michela Murgia nicht über ihr Thema, sondern setzt sich in einer packend inszenierten Handlung damit auseinander. Abwechselnd erzählt sie aus verschiedenen Perspektiven, vor allem aus den Blickwinkeln Marias und der Accabadora. In einer Schlüsselszene (Seite 92ff) wechselt sie gleich mehrmals zwischen den Perspektiven Andrías, Nicolas, der Accabadora und eines neutralen Beobachters. In diesem bäuerlichen Kosmos ist wenig Platz für sentimentale Wallungen, aber jenseits des kargen Taglebens blühen Zaubersprüche und magische Kräfte. Ganz ähnlich klingt auch de Sprache, die Michela Murgia für diese ebenso verschwiegene wie anspielungsreiche Welt erfunden hat: Nüchtern und zugleich poetisch sind – auch in der gelungenen Übersetzung von Julika Brandestini – ihre Sätze, die einen Metaphernfächer aufklappen und sich im nächsten Moment doch wieder hinter eine ironische Andeutung zurückziehen [...] (Jutta Person a. a. O.)
Dass es im Deutschen nicht "ein neues Paar Hosen" (Seite 15) heißt, sondern "eine neue Hose", sei nur kurz angemerkt. Und: Gab es Anfang der Sechzigerjahre in einem sardischen Dorf bereits Jeans und Fernsehgeräte? Originaltitel: Tutta la vita davanti – Regie: Paolo Virzì – Drehbuch: Francesco Bruni, Paolo Virzì, nach dem Buch "Il mondo deve sapere" von Michela Murgia – Kamera: Nicola Pecorini – Schnitt: Esmeralda Calabria – Musik: Franco Piersanti – Darsteller: Isabella Ragonese, Sabrina Ferilli, Elio Germano, Valerio Mastandrea, Massimo Ghini, Micaela Ramazzotti, Giulia Salerno, Sabrina Ferilli u.a. – 2008; 115 Minuten |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Michela Murgia: Murmelbrüder |