Cees Nooteboom: Allerseelen (Roman) |
Kritik: "Allerseelen" ist ein kosmopolitischer, einfühlsamer und grüblerischer Roman über eine unglückliche Liebe und zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst. ![]() |
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Cees Nooteboom: |
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Inhalt: Der niederländische Dokumentarfilmer Arthur Daane streift 1997 durch das verschneite Berlin und hängt dabei seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Er telefoniert mit seiner Freundin Erna, diskutiert mit dem Bildhauer Victor Leven, dem Philosophen Arno Tieck, der Physikerin Zenobia Stejn – und folgt schließlich der Geschichtsstudentin Elik Oranje nach Madrid ... ![]() |
Manuskript: April 1996 - Juli 1998 |
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Cees Nooteboom: Allerseelen |
Inhaltsangabe:Arthur Daane, ein vierundvierzigjähriger niederländischer Kameramann und Dokumentarfilmer, der hin und wieder auch Werbespots dreht, streift 1997 durch das verschneite Berlin und hängt dabei seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Mit seiner Kamera sammelt er seit Jahren Material für einen persönlichen Film, in dem er versuchen möchte, Momente vor dem Vergessen zu bewahren. Als er im Café "Einstein" nach der Zeitung "El País" greift, kommt er um Sekundenbruchteile einer jungen Frau zuvor, die ihn wütend anstarrt und sich dann stattdessen mit "Le Monde" zurückzieht. Ihr "Berberkopf'" und die beiden Narben im Gesicht und an der Hand sind ihm aufgefallen.
"Was willst du bloß in Deutschland?", fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat. Arthurs Ehefrau Roelfje und der vierjährige Sohn Thomas kamen vor zehn Jahren auf dem Flug nach Málaga durch einen Absturz der Maschine ums Leben. Darüber kommt er nicht hinweg, und Erna, seine ältere und beste platonische Freundin, durch die er auch seine Frau kennen gelernt hatte, wirft ihm vor, zu sehr in der Vergangenheit zu leben.
"Seit du ständig in Berlin bist, nimmst du alles so fürchterlich schwer. Fahr doch mal wieder nach Spanien. Geschichte wird ja langsam zur Obsession für dich. So lebt niemand, meiner Meinung auch die Deutschen nicht. Wo ein anderer Zeitung liest, liest du Geschichte. Bei dir wird eine Zeitung gleich zu Marmor, glaube ich. Das ist doch Unsinn! Und derweil vergisst du schlichtweg zu leben. Du hast viel zuviel Zeit zum Nachdenken." (Seite 111) In der Weinstube von Herrn Schultze trifft Arthur sich mit seinen Freunden, dem Philosophen Arno Tieck, dem Bildhauer Victor Leven und der russischen Physikerin Zenobia Stejn, der Zwillingsschwester von Arnos Ehefrau Vera, die als Wissenschaftsjournalistin für russische Zeitungen schreibt und nebenher eine auf deutsche Naturfotografie aus den Zwanzigerjahren spezialisierte Galerie in Berlin betreibt. Bei Saumagen, Blut- und Leberwurst, Handkäse und Roggenbrot, Wein und Wodka diskutieren die Freunde über deutsche Hausmannskost, Hildegard von Bingen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Nietzsche, die Autoritätsgläubigkeit der Deutschen, die auch an einer menschenleeren Kreuzung auf Grün warten und ihr Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit. Immer wieder geht es um philosophische Fragen.
"Es ist doch ein Unterschied, ob die Natur etwas erschafft oder ob du etwas erschaffst, stimmt's oder stimmt's nicht?"
Zufällig entdeckt Arthur die junge Frau mit dem Berberkopf und den Narben in einer U-Bahn-Station, folgt ihr in die Staatsbibliothek und legt ihr dort einen Zettel auf den Tisch, mit dem er sie zu einem Treffen in der Cafeteria einlädt. Sie heißt Elik Oranje, trägt also einen männlichen Vornamen, nimmt mit Hilfe eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an einer zehnteiligen Vorlesung über Hegels Geschichtsphilosophie teil und arbeitet an einer Dissertation über Königin Urraca von León-Kastilien (1109 - 1126), die gegen Alonso von Aragón, ihren eigenen Ehemann, Krieg führte. Nachdem Eliks Vater spurlos verschwunden war und man ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, wuchs sie bei ihrer Großmutter in den Niederlanden auf. Ihre Mutter habe sich zu Tode gesoffen, erzählt Elik. Dass ihr Vater sie als Achtjährige vergewaltigt hatte, erwähnt sie nicht. "Ich muss gehen [...] ich bin Weltmeisterin im Abschiednehmen." (Seite 240)
Allerdings meldet sie sich kurz darauf telefonisch bei Arno, erkundigt sich nach Arthurs Adresse, und als dieser heimkommt, wartet sie bereits im Treppenhaus auf ihn. Ohne ein Wort zu sagen, zieht sie sich in seiner Wohnung aus und geht ins Schlafzimmer voraus, wo sie darauf besteht, auf ihm zu reiten statt unter ihm zu liegen. Vier Tage später gleitet sie erneut wie eine Katze zu ihm in die Wohnung.
"Das erste Mal aus Neugier. Danach wegen der Herausforderung. Ich liebe Musik, die gegen mich ist. Vor allem wenn ich dazu tanzen kann."
Arthur fliegt zu Vorgesprächen mit Hugo Opsomer nach Brüssel und zu Dreharbeiten nach Kioto. Als er sechs Wochen später wieder in Berlin ist, sucht er Elik in ihrer Wohnung, aber sie hat die Stadt verlassen. Auf einem Abschiedsbrief an Arno findet Arthur die Adresse ihrer Großmutter Aaf Oranje in De Rijp. Er sucht die alte Dame auf, aber sie teilt ihm nur mit, dass ihre Enkelin nach Madrid reisen wollte.
"Du hattest Arno Tieck die Adresse gegeben."
Während Arthur in Japan war, stellte Elik fest, dass sie schwanger war und ließ eine Abtreibung vornehmen. Sie will frei sein, nur sich selbst gehorchen und ihre Autonomie behaupten. Deshalb stößt sie ihn von sich, obwohl oder gerade weil sie immer wieder an ihn denken muss: Ihr Trauma lässt Liebe nicht zu. Nach Hause? Er hatte kein Zuhause, nicht so wie andere Menschen. War dies ein Versuch gewesen, ein Zuhause zu haben? (Seite 360) |
Buchbesprechung:
"Allerseelen" ist ein kosmopolitischer, einfühlsamer und grüblerischer Roman über eine unglückliche Liebe und zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst. Die Geschichtsstudentin Elik Oranje flieht aufgrund eines Kindheitstraumas
Der Chor bei Sophokles hat eine Meinung. Wir nicht. Der Chor bei Heinrich V. bittet um ein Urteil. Tun wir auch nicht. (Seite 258) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Cees Nooteboom: Das Paradies ist nebenan / Philip und die anderen |