Orhan Pamuk: Die weiße Festung (Roman) |
Orhan Pamuk: Die weiße Festung |
Inhaltsangabe:
Einem Studenten in der türkischen Provinz fällt 1982 ein jahrhundertealtes Manuskript in die Hände. Als er den Text durchsieht, fallen ihm zwar historische Ungereimtheiten auf, da ihn die Handlung an sich aber interessiert, transkribiert er die Vorlage. Der historische Rahmen der Geschichte ist Mitte des 17. Jahrhunderts in der Zeit als Sultan Mehmet IV. herrschte. [...] der Blick aus dem Fenster unseres Hauses auf den Garten dahinter: auf einem Tisch ein perlmuttverziertes Tablett mit Kirschen und Pfirsichen, hinter dem Tisch eine Ruhebank aus Rohrgeflecht, auf der Federkissen im grünen Farbton des Fensterrahmens ausgelegt waren, und weiter hinten ein Brunnen, auf dessen Rand ein Sperling saß, unter Oliven- und Kirschbäumen. Dabei bewegte sich ganz leise in einem fast unmerklichen Lüftchen eine Schaukel, die mit langem Strick am hohen Ast eines Walnussbaumes festgebunden war. (Seite 38)
Der Pascha respektiert einerseits die Entscheidung des Gefangenen, selbst unter Androhung des Todes bei seinem Glauben geblieben zu sein, andererseits wirft er ihm seinen Starrsinn vor, der bestraft werden sollte. Da er jedoch jemandem ein Versprechen gab, bewahrt er den Unbeugsamen von weiterem Übel: Der Pascha wird ihn dem Hodscha schenken, dessen Sklave er sein wird. Ich tat's und erkannte einmal mehr [...], wie sehr wir uns ähnlich waren. Als ich den Hodscha zum erstenmal gesehen hatte, [...] war ich, wie mir einfiel, in gleicher Weise überwältigt gewesen. Damals sah ich jemanden, der ich hätte sein müssen, nun aber meinte ich, er müsse auch jemand wie ich sein. Demnach wären wir beide eins. Jetzt schien das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein. Ich war wie gefesselt, stand wie gelähmt. Um mich zu befreien, um begreifen zu können, dass ich noch ich selbst war, machte ich eine Bewegung und fuhr mir rasch mit der Hand durch das Haar. Doch er tat das gleiche [...] (Seite 110) Als der Hodscha dann auch noch seinen Blick imitiert, die Haltung seines Kopfes und seine entsetzte Miene nachahmt, kann der Namenlose seinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen. Der Hodscha hingegen amüsiert sich über seine Parodie und triumphiert: Wir würden gemeinsam sterben! schrie er. Wie unsinnig, musste ich denken, fürchtete mich aber zugleich. Dies war die schrecklichste der Nächte, die ich mit ihm zusammen erlebte. (Seite 110)
Die Situation in der Abgeschlossenheit empfindet der junge Mann immer klaustrophobischer, und er will weglaufen. Mit erspartem und dem Hodscha gestohlenen Geld kann er einen Bootsmann zum Übersetzen auf eine Insel bezahlen. Bei einer griechischen Familie findet er Unterschlupf und nach einiger Zeit erwägt er seine Flucht in sein Heimatland. Der Hodscha sei bestimmt schon tot, an der Pest gestorben, redet er sich ein, und nichts sonst halte ihn zurück. "Weissagen ist Narrheit, doch gut dafür, den Toren zu imponieren!" (Seite 120)
Sie klügeln ein sogenanntes Kalendarium aus, dem sich angeblich ein vorhersehbares Ende der Epidemie entnehmen lässt. Außerdem hat sich zum Beispiel durch Einführung von Passagierscheinen für Fremde die Zahl der Pestkranken reduziert. Der Sultan ist jedenfalls zufrieden mit der Ausführung seines Auftrags und ernennt den Hodscha zum obersten Sterndeuter, wohingegen er den Beitrag des Namenlosen nicht einmal erwähnt. Hatte das Leben der Ungläubigen außer der Tatsache ihres Unglaubens überhaupt etwas Wissenswertes zu bieten? Konnte man eine Waffe bauen, mit der wir sie nach Belieben vor uns herzutreiben vermochten? (Seite 133) Sogleich zeichnet der Sultan die Skizze einer Waffe mit langen Rohren und selbstauslösenden Zündmechanismen, wie er sich das vorstellt. Die zwei Männer befassen sich dann jahrelang mit nichts anderem, als sich dieses Kriegsgerät auszudenken. Die Pläne sind längst gezeichnet, bis sich der Sultan entschließen kann, den Befehl zum Bau des "unglaublichen Geschützes" zu erteilen. Nach mehreren Jahren können sie dem Herrscher die Maschine endlich vorführen. Obwohl der Sultan mit seinem Heer nach Polen zieht, nimmt er die Waffe nicht mit. So wird immerhin Zeit gewonnen, um Leute zum Bedienen des komplizierten Mechanismus zu finden. Niemand mochte sich in das Innere dieses so schrecklich anzuschauenden Vehikels von ungewisser Wirkung begeben. [...] Die meisten, die ihre Furcht überwanden und sich in den eisernen Hügel hineinwagten, um das Räderwerk anzuwerfen, hielten der Enge und Hitze des bizarren Insektes nicht stand und liefen wieder fort. (Seite 165) Endlich soll die Waffe nach Edirne zum Sultan geschafft werden. Auf dem zehn Tage währenden Zug dorthin stehen sich der Hodscha und sein Gefährte so nahe wie schon lange nicht mehr. Vor allem der Hodscha ist hocherfreut, wie die Neugierigen in den Dörfern die Hälse nach der Maschine recken. Unsere als Monstrum, Käfer, Teufel, wehrhafte Schildkröte, laufender Turm, Riesentölpel, Eisenhaufen, rollender Kessel, Gigant, Zyklop, Ungeheuer, finsterer Kerl bezeichnete Waffe, deren Anblick [...] bei jedermann Entsetzen auslöste, machte sich mit seltsam fürchterlichem Knirschen und Lärmen schwerfällig auf den Weg [...]. (Seite 168ff) In Edirne ergeht der Befehl zu einem erneuten Vorstoß nach Polen, obwohl die Jahreszeit für einen Krieg eigentlich zu weit fortgeschritten ist. Während des Feldzugs reitet der Sultan immer wieder zu Jagdausflügen aus, bei denen sein Gefolge, und allen voran der Hodscha, mit der Landbevölkerung Kontakt sucht. Seine schon immer bestehende Besessenheit "in das Innere der Köpfe" der Menschen sehen zu wollen, veranlasst ihn, Dorfbewohner – sowohl christliche als auch moslimische – zu befragen. Zum Beispiel: Welches war die größte Sünde, die schlimmste Übeltat, die er im Leben begangen hatte? (Seite 176)
Die slawischen Bauern in den Karpaten verstehen meistens die Frage nicht richtig und selbst mit einem Dolmetscher ist die Verständigung schwierig, sodass sie irgendwelche Antworten stammeln, die den Hodscha jedoch nicht zufriedenstellen. Von Dorf zu Dorf werden seine Verhöre aufdringlicher und rücksichtsloser. Das geht soweit, dass er die Dorfbewohner schlägt, und diese falsche Geständnisse ablegen und Nachbarn denunzieren. Diese inquisitorische Befragung nimmt erst ein Ende als das Heer in Polen einfällt. Sie lag auf einem steilen Hügel, die sinkende Sonne warf eine zartschimmernde Röte auf die wimpelbesetzten Türme, doch sie war weiß, strahlend weiß und wunderschön. Mir kam der Gedanke, etwas so Schönes und Unerreichbares könne man eigentlich nur im Traum sehen. (Seite 190) Allerdings sind alle die Festung umgebenden Flächen und Hügel morastig und deshalb mit dem wuchtigen Kriegsgerät nicht zu überwinden. Unser namenloser Berichterstatter begreift, dass die Soldaten die weiße Festung niemals erreichen würden, und er ist sich sicher, dass der Hodscha genauso denkt. Wenn wir morgen früh zum Angriff übergingen, würde die Waffe im Sumpf versinken, mitsamt der dem sicheren Tode preisgegebenen Männer drinnen und draußen, und später würde man fordern, dass den Soldaten mein Kopf vor die Füße rollte, um sie und die Furcht und das Gerede vom Unheil zu besänftigen, und ich wusste sehr wohl, dass auch der Hodscha all dies voraussah. (Seite 191)
Der Hodscha kommt lange nicht zurück vom Zelt des Sultans, und der Namenlose vermutet schon, man habe ihn gleich an Ort und Stelle hingerichtet und sie würden den Henker dann auch zu ihm schicken.
Gegen Morgen meinte ich, diese Geschichten hätten mich wohl deshalb betört, weil ich annahm, sie könnten sich schließlich doch einmal an der Stelle fortsetzen, wo sie unterbrochen worden waren. Ich wusste, dass der Hodscha das gleiche dachte und meiner Geschichte mit Freuden glaubte. (Seite 193) Die Männer wechseln die Kleider; der Namenlose schenkt dem Hodscha einen Ring und ein Medaillon mit dem Bildnis seiner Großmutter. Der Hodscha verschwindet allmählich im Nebel. Es begann hell zu werden, ich war todmüde, schlüpfte in sein Bett und fiel in friedlichen Schlaf. (Seite 193)
Was wurde aus dem Namenlosen? Es kursierten Gerüchte: Er sei von einem Pascha in Kairo aufgenommen worden, um dort Entwürfe für eine Waffe zu ersinnen. Bei der Niederlage vor Wien sei er in der Stadt gewesen und habe den Feind beraten. Als Bettler verkleidet habe er in Edirne einen Mann erstochen und sei dann verschwunden. Als Imam war er womöglich tätig. In Spanien habe er mit dem Verfassen von Büchern viel Geld verdient. Aber auch in Anatolien und in Dörfern der Slawen soll er gesehen worden sein. Die höfischen Intrigen, die den Sultan um den Thron brachten, werden ihm zugeschrieben. – Der Hodscha hatte von all dem nie etwas geglaubt. Was ich erzählte, schien nichts Erfundenes, sondern wirklich Erlebtes zu sein, es war, als ob mir ein anderer all diese Worte behutsam zuflüstern würde, und bedächtig reihten die Sätze sich aneinander: "Von Venedig nach Neapel ging unsere Fahrt als wir von türkischen Schiffen aufgebracht wurden..." (Seite 205)
Obwohl ihm die Geschichte gefalle, sagt der Fremde, habe er doch einige Einwände. Wir müssten nach dem Wundersamen, dem Erstaunlichen, draußen in der Welt suchen, nicht in uns selbst. Das lange, tiefgründige Nachdenken über uns selbst mache uns unglücklich. Das sei auch den Menschen in der Geschichte so ergangen, und deshalb konnten sie ihr eigenes Selbst nicht ertragen und wollten ein anderer sein. Außerdem würde "das ständige Suchen des Merkwürdigen in uns selbst zu jemand anders werden". (Seite 206) Nein, sicherlich haben meine klugen Leser verstanden – so töricht, wie ich angenommen hatte, war er nicht. Begierig begann er, die Seiten des Buches umzuschlagen, er suchte, wie ich's vorausgesehen, und ich wartete wohlgelaunt, bis er's fand und las – was auch letztlich geschah. Noch einmal schaute er dann aus dem Fenster in den Garten auf das, was der Blick ihm darbot. Und ich wusste natürlich, was er zu sehen bekam: auf einem Tisch ein perlmuttverziertes Tablett mit Kirschen und Pfirsichen, hinter dem Tisch eine Ruhebank aus Rohrgeflecht, auf der Federkissen im gleichen grünen Farbton ausgelegt waren; dort saß ich, nunmehr fast siebzig Jahre alt; und weiter hinten ein Brunnen, auf dessen Rand ein Sperling saß, unter Oliven- und Kirschbäumen. Dabei bewegte sich ganz leise in einem fast unmerklichen Lüftchen eine Schaukel, die mit langem Strick am hohen Ast eines Walnussbaumes festgebunden war. (Seite 215) |
Buchbesprechung:Vordergründig handelt der Roman "Die weiße Festung" von zwei Männern aus unterschiedlichen Kulturkreisen und verschiedenen Religionen. Einen jungen gebildeten Mann aus Italien verschlägt es durch widrige Umstände nach Istanbul, wo er gefangen gehalten und dann an den Hodscha verkauft wird. Herr und Sklave (die sich im übrigen äußerlich ähnlich sind) ersinnen zusammen alle möglichen Konstruktionen und tauschen sowohl ihr Wissen als auch ihre Gedanken aus. Was die Geschichte dann reizvoll macht, ist einerseits der Konflikt der beiden Charaktere miteinander und andererseits, wie nicht mehr auseinanderzuhalten ist, wer Herr und wer Knecht ist. Mit unvermuteten Wendungen gelingt Orhan Pamuk in "Die weiße Festung" eine facettenreiche Illustration von Persönlichkeitsspaltung und Widerspiegelung im Anderen. Wie in einem Vexierbild muss herausgefunden werden, wer nun wer ist. Das ist eine Interpretation. Man kann aber auch unterstellen, dass es sich überhaupt nur um eine Person handelt, die auf der Suche nach ihrem Ego verschiedene Stadien der Selbstfindung durchlebt. Die parabelhafte Darstellung ist durch die ausschweifende Erzählweise in der Art eines orientalischen Märchens unterhaltsam und originell. Orhan Pamuk, der sich selbst zwischen zwei Kulturkreisen bewegt – seine familiären Bindungen wurzeln in Istanbul, wohingegen seine Lebenweise weitgehend nach westlichen Kriterien ausgerichtet ist – setzt sich mit dieser Ambivalenz in einer für den Leser ungewohnten Form bildhaft auseinander. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2008
Orhan Pamuk (Kurzbiografie) |