Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks (Roman) |
Kritik: "33 Augenblicke des Glücks", das sind 33 vorwiegend groteske und makabre, finstere und schauerliche Geschichten, mit denen Ingo Schulze die Bevölkerung von St. Petersburg nach der Abschaffung des Eisernen Vorhangs kaleidoskopartig porträtiert. ![]() |
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Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks |
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Inhalt: Im Zug nach Petersburg findet die Ich-Erzählerin eine Mappe mit Aufzeichnungen, die einer der Mitreisenden, ein gewisser Hofmann aus Deutschland, vor dem Aussteigen im Abteil liegen ließ. Nachdem sie die Texte gelesen hat, schickt sie die Blätter einem Verleger in Berlin und fordert ihn auf, die unterhaltsamen, in Petersburg spielenden Geschichten zu veröffentlichen. ![]() |
33 Augenblicke des Glücks |
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Ingo Schulze: 33 Augenblicke des GlücksAus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter |
Inhaltsangabe und Buchbesprechung
Ich will es Ihnen erklären: Vor einem Jahr erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch und fuhr mit der Bahn nach Petersburg. Ich teilte das Abteil mit einer frisch frisierten Russin, ihrem Mann und einem Deutschen namens Hofmann. Die Russen sahen in uns ein Paar, und Hofmann, als Übersetzer ihrer Fragen und meiner Antworten, ließ sie wohl in diesem Glauben. Ich weiß nicht, was er ihnen noch alles erzählt hat. Sie lachten unentwegt, und die Frau tätschelte meine Wange [...]
Zwei von Ingo Schulze ("I. S.") vorangestellte fiktive Briefe rahmen die in seinem Roman "33 Augenblicke des Glücks" zusammengefassten Geschichten ein, die jedoch vor allem deshalb zusammengehören, weil jede von ihnen als Bestandteil eines kaleidoskopartigen Panoramas der Bevölkerung von Sankt Petersburg nach der Abschaffung des Eisernen Vorhangs gelesen werden kann. Es ist eine Gesellschaft im Umbruch, und wir erleben, wie sich westliche Elemente in dieser bisher russischen und kommunistischen Kultur ausbreiten. Zwei oder drei Geschichten sind kürzer als eine Seite, eine ist 23 Seiten lang; manche sind in der Ich-Form geschrieben, andere in der dritten Person Singular und bei zwei oder drei Texten handelt es sich angeblich um Mitteilungen anderer Personen, die auf irgendeinem Weg in die Mappe gelangt waren, die Herr Hofmann im Zug nach Sankt Petersburg liegen ließ. Dass er den gleichen Namen wie der romantische Dichter E. T. A. Hoffmann (1776 – 1822) trägt, ist Programm: Bei den "33 Augenblicken des Glücks" handelt es sich vorwiegend um groteske und makabre, finstere und schauerliche Geschichten.
Mir war es peinlich, ihr Geld anzubieten, und sie nickte nur, wie man eben so nickt.
Der aus dem Westen stammende Resident einer Wochenzeitung richtet in einer frei gewordenen Wohnung Büroräume ein und wundert sich über seine Mitarbeiter, die nicht zulassen, dass er Handwerker kommen lässt, sondern die Renovierung in ihrer Freizeit selbst durchführen. Vorbei ist es mit der Unpünktlichkeit; im Gegenteil: einige der Sekretärinnen fangen an, im Büro zu übernachten. Sie bringen Wäsche zum Wechseln mit, kaufen von ihrem Gehalt Stoff, nähen Vorhänge und richten sich behaglich ein. Aus Geschichten wie dieser schöpfe ich jedesmal neuen Mut. (Seite 67) Herr Hofmann macht sich an den zweiunddreißigjährigen Pressefotografen Mitja heran, denn er möchte wissen, wie dieser es schafft, jeden Tag zwei, drei oder vier zerstückelte Leichen zu fotografieren. Kriegt er vorab Tipps, wenn die Mafia ein Killerkommando losschickt? Will die Mafia durch die Sensationsfotos erreichen, dass sie im Gespräch bleibt? "Es gibt keine Mafia!", unterbrach er mich schroff. "Ich bin die Mafia, Sie sind die Mafia, die hier sind die Mafia, jeder ist die Mafia, so ist das, nichts weiter!" (Seite 73) Noch während Mitja mit Hofmann spricht, wird er aus dem Hinterhalt erschossen. Ich wischte mir die Spritzer vom Mund und lachte unwillkürlich, obwohl ich wütend war. (Seite 76)
"Lass uns verschwinden", fordert Hofmann die Begleiterinnen Ada und Ida auf. Aber da werden die beiden Mädchen schon in den Kopf getroffen. Hofmann, der prinzipiell keine Waffe trägt, nimmt den drei Toten die Pistolen und Revolver ab. Damit erschießt er in dem nun losbrechenden Feuergefecht einen Mafioso nach dem anderen. Tanjuscha starb spätestens in jenem Moment, da derjenige, der darauf bestand, Palermo zu sein, drei-, viermal zuschnappend, ihr Herz in den Mund bekam, es mit einem wilden Kopfkreisen von den Arterien und Venen losriss und mit vollem Mund ungebärdig darauf herumkaute – eine blutige Angelegenheit. (Seite 127)
Während Leonid sein Geld im Straßenbau verdiente, arbeitete seine Frau Ira in der Kolchose. Sie heirateten, als Iras Tochter zwei Jahre alt war. Wer Sonjas Vater ist, weiß Leonid bis heute nicht. Ira ging dann mit dem ältesten Sohn des Kolchosvorsitzenden, der in Sibrien viel Geld gemacht hatte, nach Moskau und ließ Sonja bei Leonid zurück, der das Mädchen "in den Idealen des Kommunismus" (Seite 134) erzog. Einmal kamen Ausflügler mit neuen westlichen Autos aus Moskau, und Leonid ermutigte seine Stieftochter, ein Stück mitzufahren. Erst zwei Jahre später sah er sie wieder, in einer Zeitschrift, die jemand hatte liegen lassen. Auf fünf Seiten war sie abgebildet. Als der Krankenwagen kam, war Florian Müller-Fritsch bereits so weich geworden, dass man nach Plastiksäcken schicken musste. Das dauerte aber zu lange: Bei ihrem Eintreffen versickerten gerade die Reste von Florian Müller-Fritsch und hinterließen eine frische dunkle Erdfärbung und einen süßlich-schweißigen Geruch. (Seite 146) In das Restaurant kommt der Ich-Erzähler eigentlich nur, um die hübsche Bedienung betrachten zu können. Nachdem sie ihm beim Servieren eines Bieres einen Kussmund gemacht hat, wartet er nach der Schließung des Lokals auf sie und folgt ihr. Nach einer Weile merkt er jedoch, dass er sie verwechselt hat und kehrt zurück. Vor dem Restaurant sind inzwischen Passanten zusammengelaufen. Sie umstehen einen auf dem Trottoir liegenden zerlumpten Greis. Eine junge Frau hebt ihm den Kopf an und schiebt eine Mütze darunter. Dann zieht sie sich ungeachtet der Umstehenden aus: Cape, Bluse, Rock, Strumpfhose, BH, Slip. Ein paar Frauen fangen zu singen an. Die schöne Unbekannte kniet sich über den Greis, öffnet ihm die Hose und nimmt seinen dünnen, welken Penis in den Mund. Jemand verkauft Kerzen, die auch gleich angezündet werden, und das Publikum verehrt die Samariterin wie eine Heilige. Sobald der Penis ein wenig erigiert ist, hockt sie sich auf den Schoß des Sterbenden.
Im selben Moment erstarrten die hellblauen Augen des Alten, ein Schauer huschte über sein Gesicht. An seinen Lippen bildeten sich Bläschen und zerplatzten. Der Gesang brach ab, das Gebet verlor sich zum Murmeln [...] Erst als die Umstehenden sich zu einem Zug formieren, die nackte Heilige auf Schultern heben und forttragen, erkennt der Ich-Erzähler die Frau: Es ist die Bedienung aus dem Restaurant.
"33 Augenblike des Glücks" gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ingo Schulze (Audio Verlag, Berlin 2003, ISBN 3898132552, 140 Minuten). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Ingo Schulze: Neue Leben |