Andrzej Stasiuk: Die Welt hinter Dukla (Roman) |
Kritik: "Die Welt hinter Dukla" ist kein Roman mit einer Handlung, sondern eine Sammlung von Episoden und Erinnerungen, Beobachtungen und Beschreibungen, wobei sich die Miniaturen zu einem poetischen Ganzen fügen. ![]() |
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Andrzej Stasiuk: |
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Inhalt: Der Ich-Erzähler wuchs in Dukla auf, einem Dorf im Süden Polens. Als Erwachsener kehrt er immer wieder nach Dukla zurück, sucht nach Spuren der Vergangenheit, erinnert sich bruchstückhaft an frühere Erlebnisse und beobachtet die Bewohner. Mitte der Neunzigerjahre macht er sich Sorgen, weil immer mehr Touristen aus dem Westen kommen und nach Coca-Cola und Lavazza-Kaffee verlangen ... ![]() |
Die Welt hinter Dukla |
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Andrzej Stasiuk: Die Welt hinter Dukla |
Inhaltsangabe:Dukla ist ein Dorf im Süden Polens, am Rand der Karpaten.
Im Wörterbuch bedeutet "Dukla" – "kleiner Schacht zur Erkundung und zur Suche nach einer Lagerstätte, als Belüftungsöffnung oder zur primitiven Erzgewinnung." (Seite 51) Hier wuchs der Ich-Erzähler in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf. Sein Großvater war Feuerwehrmann und Dorfschulze in Dukla. Als Erwachsener kehrt er immer wieder zurück, allein oder mit einem Freund, selten mit dem Auto, meistens mit Bahn und Bus.
Ich komme immer wieder in dieses Dukla zurück, um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten anzusehen. (Seite 14) In Dukla sucht der Erzähler nach Spuren der Vergangenheit und erinnert sich bruchstückhaft an frühere Erlebnisse. Jetzt versuche ich, das alles in eine Reihenfolge zu bringen, obwohl ich mich nur an Bruchstücke erinnere, an Abdrücke von Dingen in jenem Raum schließlich nicht an die Dinge selbst mit ihrer unwiederholbaren Struktur aus Kratzern, Rissen und Falten. Was mich jetzt erreicht, sind nur ihre Spuren, Phantome des Bezeichneten, aufgehalten auf halbem Wege zwischen Existenz und Benennung. Sie ähneln nach dem Tode retuschierten Fotos. (Seite 78) Mit dreizehn verliebte er sich in ein Mädchen, das in Dukla die Ferien verbrachte. Samstags, wenn Tanz in Dukla war, tanzte sie ohne Partner selbstvergessen im kurzen weißen Kleid, und der Autor schaute ihr hingerissen zu, hörte eine alte Frau "Flittchen" sagen. Immer wieder schlich er an dem Ferienhäuschen vorbei, in dem sie wohnte. Er dachte schon, sie sei abgereist, aber dann hingen ihr weißes Kleid und ein weißer Slip auf der Wäscheleine. In dem vom Wind geblähten Slip stellte er sich ihren Körper vor. Ich war dreizehn und begriff kaum etwas. Ich spürte nur, dass meine Liebe von einem Augenblick auf den anderen kein unschuldiges und verschämtes Spiel mehr war und etwas Verbotenes wurde. Ich war dreizehn und spürte, dass die Schönheit immer eine Drohung enthält, dass sie im Grunde eine Abart des Bösen ist, eine Abart, die wir ebenso sehr begehren können, wie wir das Gute begehren. (Seite 43f)
Eines Tages hatte er Durst und betrat einen Betonbunker, in dem es Waschbecken und Duschen gab, um Wasser zu trinken. In einer der Duschen rauschte Wasser.
Da fällt mir meine Großmutter ein, die an Geister glaubte. Sie sah oft welche. Das Haus stand in einem alten Obstgarten am Ende des Dorfes. Sie erzählte von ihren Erscheinungen völlig ruhig und selbstverständlich. Sie kamen am Tage oder in der Nacht, öffneten ganz normal die Tür und gingen in die Küche. Sie überraschten sie bei ihren täglichen Geschäften im Hof oder in der Küche. Sie waren ziemlich menschlich, wenn auch aus einer etwas leichteren Substanz. Meistens ähnelten sie jemandem aus der Familie. Alle glaubten diese Erzählungen. Ich auch [...] In Großmutters Erzählungen berührte sich die Welt der übernatürlichen Wesen niemals mit der Welt der Heiligen, der Kirche oder dem Ritus. Die erste gehörte zum Alltag, die zweite diente als Zeitmaß, als Gegenstand der Fürbitte und sonntäglichen Muße [...] Ich mochte meine Großmutter sehr. Sie war eine heitere, pragmatische Frau ohne eine Spur von Frömmelei und religiösem Wahn, ohne mystische Neigungen. (Seite 107f)
Als die Großmutter starb, war er gar nicht traurig, denn er nahm an, dass sie zwar ihre Gestalt auf dem Bett zurückgelassen hatte, aber als Geist weiter existierte und in der Nähe blieb. Entsetzt reagierte er nicht auf die Leiche, sondern erst auf die schwarze im Wind flatternde Trauerfahne. Die Frauen tragen Plastiktüten. Sie kommen in Kniestrümpfen, Latschen und Sandalen. Sie steigen aus Bussen, bilden dichtgedrängte Herden, ziehen in Richtung Marktplatz [...] Die Händler breiten ihre Ware aus. An der Maria Magdalena bekommt man fluoreszierende Rosenkränze, phosphoreszierende Gottesmütter, ein ägyptisch-chaldäisches Traumbuch, und an der Parkowa-Straße wird Fleisch am Rost gebraten [...] Der Tag glitscht über die Oberfläche der Zeit. (Seite 97) |
Buchbesprechung:"Es wird keine Handlung geben, keine Geschichte", versichert Andrzej Stasiuk auf der zweiten Seite seines Romans "Die Welt hinter Dukla" und bekräftigt es zwei Seiten später: "Es wird keine Handlung geben mit ihrem Versprechen eines Anfangs und der Hoffnung auf ein Ende." Tatsächlich handelt es sich bei "Die Welt hinter Dukla" um eine Sammlung von Episoden, Beobachtungen und Beschreibungen. Die Erinnerungen lassen sich nur in Einzelfällen chronologisch einordnen, und das ist auch nicht nötig, denn Gegenwart und Vergangenheit sind in "Die Welt hinter Dukla" nicht klar geschieden, und die Miniaturen fügen sich auch so zu einem poetischen Ganzen. Eigentlich tue ich nichts, als die eigene Physiologie zu beschreiben. Die Veränderungen des elektrischen Feldes auf der Netzhaut, Temperaturschwankungen, die unterschiedliche Konzentration von Geruchspartikeln in der Luft, das Oszillieren der Schallwellenfrequenz. Daraus setzt sich die Welt zusammen. Alles übrige ist formalisierter Wahnsinn oder die Geschichte der Menschheit. Und wenn ich so gegenüber der Post von Dukla stehe, eine Zigarette rauche und den breitschultrigen Typen mit Spiegelreflexkamera zusehe, kommt mir der Gedanke, dass das Sein Fiktion sein muss, wenn wir überhaupt eine Chance haben sollen. (Seite 101)
Der Text ist in drei mit römischen Zahlen überschriebene Kapitel gegliedert. Von Seite 115 an fließen die Bilder und Beschreibungen nicht mehr, sondern Andrzej Stasiuk reiht unvermittelt einzelne mit Überschriften versehene Aufsätze aneinander: Wasyl Padwa, Sonntag, Frühlingsfest usw. Dieser Bruch zerstört die Form des Romans. Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen. (Seite 5) Zu der teilweise pathetischen Sprache passen Vulgärausdrücke wie "pinkeln" und "Polypen" (für Polizisten) überhaupt nicht. (In direkter Rede wäre nichts dagegen einzuwenden; da steht hier übrigens "Bullen" für Polizisten.) Ärgerlich sind auch Sprachschnitzer in der deutschen Übersetzung wie dieser: Dann starb meine Großmutter. Ich wachte im Nebenzimmer auf, und die Tanten, die bei ihr wachten, sagten zu mir: "Du hast keine Oma mehr." (Seite 109) Andrzej Stasiuk wurde am 25. September 1960 in Warschau geboren. 1980 musste er zur polnischen Armee, aber er desertierte nach einem dreiviertel Jahr und wurde deshalb zu einer Haftstrafe verurteilt. 1992 veröffentlichte er unter dem Titel "Mury Hebronu" ("Die Mauern von Hebron") einen ersten Band mit Erzählungen. Zwei Jahre später folgte "Wiersze milosne i nie" ("Nicht nur Liebesgedichte"); 1995 erschienen "Opowiesci Galicyjskie" ("Galizische Erzählungen") und der Roman "Bialy Kruk" ("Der weiße Rabe"), 1996 der Erzählband "Przez rzeke" ("Über den Fluss"). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 |