Flavio Steimann: Bajass (Roman) |
Flavio Steimann: Bajass |
Inhaltsangabe:Kriminalkommissar Albin Justus Hektor Gauch geht am Dienstag nach Ostern von der Bahnstation Maria Zell die steilen Kehren des Karrwegs hinauf zu einer Stelle im Holz, an der das alte Bauernpaar aus dem Gandhof ermordet wurde. Entfernte Verwandte hatten die Leichen am Vorabend entdeckt. Der ehrgeizige Bezirkslandjäger, der Wäscheleinen von Baum zu Baum spannte und mit Stalllaternen behängte, zeigt Gauch den blutigen Spalthammer, mit dem der Mann und die Frau erschlagen wurden und äußert auch gleich einen Verdacht: Der Gandbauer sei das Opfer eines Raubmordes geworden, das könne man deutlich daran erkennen, dass man ihm die silberne Uhr von der Weste gerissen habe, zudem sei die Truhe in der Schlafkammer der Eheleute aufgebrochen und alles Wertvolle gestohlen worden. Man verdächtige die Fecker, die beim Zeller Moos am See lagerten.
Der Gandhof wurde bereits auf Anordnung der Amtsschreiberei versiegelt, und man hat auch das brüllende Vieh versorgt. Eines zeige sich immer wieder, meinte er [der Pathologe] sodann, das krumme Holz Mensch sei zu mancherlei fähig, und so sehe es eben aus, wenn mehr als Butterblumen ermordet würden.
Die Bauersleute wurden wahrscheinlich von einem Linkshänder erschlagen. Weil Abwehrverletzungen weitgehend fehlen, ist anzunehmen, dass sie den Mörder kannten und von dem tödlichen Angriff überrascht wurden. Das Herz der Bäuerin war übrigens verfettet: Adipositas cordis. Beim Verlassen des Seziersaals liest der Kommissar den Spruch: Mortui vivos docent (Die Toten lehren die Lebenden). Um der hiesigen Tradition nachleben zu können, hatte man die Gandbauern am Vortag für ein letztes Mal auf ihren Hof geführt und in einer unversiegelten, mit Efeu und Tannenreisig eiligst als Andachtsraum hergerichteten Vorratskammer für ein paar wenige Stunden im offenen Sarg aufgebahrt. Maskenhaft geschminkt und gepudert, die Mullkäppchen tarnend auf den zertrümmerten Köpfen und den Rosenkranz um die verknoteten Gichthände geschlungen.
Der Geistliche hebt in seiner Trauerrede hervor, dass die Gandbauern viele Jahre lang unversorgte Kinder aufnahmen. Aber die Gedanken der anwesenden Bauern kreisen um die versäumten Feldarbeiten, denn niemand trauert den beiden Toten nach; sie waren unbeliebt und als raffgierig verschrien. Gauch nickt ein und träumt, wie der Rappe des Leichenkutschers durchgeht und die Särge auf dem Pflaster zersplittern.
Als die ersten Geladenen eintrafen, saß Gauch bereits in der Ilge beim grünen Kachelofen, hielt den Seeboten mit dem Bericht über das dreiste Verbrechen am hölzernen Stock.
Um den debilen, stummen und gehörlosen Bruder der ermordeten Bäuerin, der als Knecht auf dem Gandhof arbeitete, kümmert sich der Waisenvogt, und weil der Verwalter des Ledigenheims im Amtshauptort die Aufnahme verweigert, wird er in die geschlossene Abteilung der Irren- und Heilanstalt für Gemütskranke Mater Domini eingeliefert. Vor Gauchs Augen lag die von Handschweiß und Melkfett dunkel glänzend gewordene Stelle des Türpfostens, an dem Generationen von Bauern sich in jüngeren Jahren gestützt und in fortgeschrittenem Alter gehalten hatten, um beim Ausziehen der Stallstiefel nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
In einem Bottich aus Zinkblech ist abgeräumtes, aber noch ungespültes Geschirr mit angetrockneten Resten einer Hafersuppe gestapelt. Die Rosshaarmatratze wurde aufgeschlitzt. Gauch findet einen abgerissenen münzengroßen vierlöcherigen Knopf aus dunklem Horn. Aus der aufgebrochenen Truhe nimmt er einen Aussaatkalender, und als er sich müde auf eine Stabelle setzt, um darin zu blättern, rutscht ein alter Barytabzug heraus, auf dem ein zwölf oder dreizehn Jahre alter Junge abgebildet ist. Auf die Rückseite hat jemand mit einem Bleistift in ungeübter Sütterlinschrift "Bajass" gekritzelt. In der Schublade des Nachttischs, die klemmte und wahrscheinlich deshalb vom Gehilfen des Waisenvogts als einzige nicht geöffnet worden war, stieß Gauch auf ein Neues Testament, dessen Goldschnitt wohl als Folge eines Gewitterregens arg gewellt auseinanderklaffte, darin fand sich beim Einlegebändchen ein Andachtsbild mit dem Heiligen Antonius von Padua und dahinter, halb daran klebend, eine abgegriffene Künstlervorlage mit einer kolorierten drallen Frau darauf, die nackt vor einem gemalten Lustgarten mit gesenkten Augen in ihren Handspiegel schaute und deren kraus behaartes Schamdreieck zwischen den kräftigen Schenkeln mit einer Sattlerahle oder einem Hufnagel mehrfach durchstochen worden war.
Die übel riechende Stallkluft des Knechts hängt über einer Stabelle. Seinen Ekel überwindend, durchsucht Gauch die Taschen und findet in der Drillichjoppe einen Ausriss aus einer Zeitung mit einer Annonce, in der unbemittelten Auswanderungswilligen eine billige Überfahrt nach New York angeboten wird. Eines der Abreisedaten ist mit einem abgeleckten Bläuel dick eingekreist. Der Dampfer, die S/S Liberté, läuft in zwei Tagen von Le Havre aus.
Seit heute früh waren sie nach ihm auf der Suche – erst auf der Kommandantur, später im Feld und auf die Nacht hin, nach vergeblichem Warten, in seiner verlassenen Wohnung – nach Anbruch des Tages dann flussabwärts bis zum Rechen des Wehrs.
Nach dem Ablegen des Dampfers wird Gauch seekrank und kotzt sich die Kehle wund. Das Zeichen auf der Sohle, ein Sonnenrad aus drei geschweiften Strahlen, die gleicherweise drehend in Spiralen endeten, las Gauch, war eine Triskele, seit Urzeiten das Sinnbild für den Kreislauf des Lebens. Außerdem studierte er Artikel über Hinrichtungsmethoden, Stenose, Thrombose und Schlaganfall.
Gauch hielt inne. Der bucklige Inspekteur des Zwischendecks, dessen linkes Augenlid gelähmt ist, verweigert Gauch einen Einblick in die Passagierliste und nutzt dessen Anfrage zu Ausfällen gegen die Reisenden der dritten Klasse, die er allesamt für Ganoven hält.
Nicht weniger als ein gutes halbes Tausend solch zweifelhafter Subjekte, fünfhundertvierzig, um genau zu sein, würden im Zwischendeck reisen – ein eigentliches Gesindel, Nestflüchter aus allen Ländern, und das meiste davon Luftmenschen, Häusler und Deserteure, Flickschneider, Schuster und Häuteljuden, deren Jiddisch kaum einer verstehe, abgetakelte Schankwirte und was immer über die Stränge haue oder andern die Köpfe blutig schlage, und mit ihnen geschwängerte Weiber oder solche mit schreienden Bälgen, Franzosen, Deutsche, Italiener, Tschechen und Slowaken, Magyaren, dazu Polacken, die, man glaube es kaum, die Freiheitsstatue allen Ernstes für ihre heilige Muttergottes hielten, zunehmend Volk auch aus allen Ecken der Donaumonarchie und aus dem Kronland Galizien, da immer mehr inzwischen gewarnt seien vor den betrügerischen Winkelagenten des Lloyd und der Hamburger Packet-Gesellschaft und sich nicht von denen ausnehmen lassen wollten, dazu gewiss auch das Essen auf französischen Schiffen vorzögen, wenn auch nicht Escoffier persönlich am Herd stehe, fast durchwegs aber Schmutzfinken, die er, ehrlich und offen gesagt, nur allzu gerne der Konkurrenz überlassen würde, am saubersten seien noch die Schweizer, aber auch nur gerade jene, die eine Art Deutsch sprächen.
Am dritten Abend auf See wird im Prunksaal der ersten Klasse eine Abendgala veranstaltet, zu der auch die Passagiere der zweiten Klasse zugelassen sind, wenn auch nur auf der Galerie. Die Auswanderer auf dem Zwischendeck organisieren parallel dazu eine eigene Veranstaltung. Am Ende des derben Stücks lag das hässliche Paar mit offenem Mund tot und verkrümmt auf den Planken.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Vorzeitig zieht Gauch sich in seine Kabine zurück und schläft ein. Er träumt, wie der Dieb von zwei bulligen Männern auf einen elektrischen Stuhl gefesselt und hingerichtet wird. Es ist eine grausame Prozedur.
Die Avisierung der heimischen Kommandantur mittels der transatlantischen Verbindung und des neu errichteten nationalen Radiofunksystems erlaubte ohne Zeitverlust die telegraphische Anforderung der Beweisschrift und die Depeschierung des Auslieferungsantrags zu Handen der konsularischen Vertretung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in New York. Statt einen Funkspruch absetzen zu lassen, nutzt Gauch jedoch die Gelegenheit zu einer Schachpartie mit dem jüngeren der drei Komödianten, und das, obwohl er ungern spielt, weil er es hasst, zu verlieren und Siege ihn beschämen. Er vergewissert sich, dass der Ringfinger des Mannes verstümmelt und auf den Sohlen der rissigen Lederschuhe mit aufgenähten Kappen eine Triskele eingeprägt ist. An der Joppe des Verdächtigen fehlt ein dunkler vierlöcheriger Hornknopf wie der, den Gauch unvermittelt auf eines der Felder des Schachbretts legt.
Der Junge lachte auf, verstummte jäh, lachte wieder und wurde still.
Als dann vom Oberdeck der kleine mit Schwimmern versehene, leinenbespannte Aeroplan startet, um die mitgeführte Post so schnell wie möglich zum Festland zu bringen, springt der junge Mann auf und schaut sich an, wie der Sternmotor angeworfen und das Flugzeug von den Radschuhen befreit wird. Dann trafen sich ihre Augen. Es war der Blick des Knaben auf dem Bild; wieder war es der Blick eines gefangenen Tiers.
Gauch zieht das Päckchen mit den Beweismitteln aus einer Manteltasche, hält es über die Reling und lässt es nach langem Zögern fallen. |
Buchbesprechung:
Die Handlung des Romans "Bajass" von Flavio Steimann spielt um 1900 in der Schweiz und auf einem Ozeandampfer. Erzählt wird in der dritten Person Singular aus der subjektiven Sicht des Protagonisten, eines älteren und desillusionierten Kriminalkommissars. Albin Gauch ist ein wortkarger Einzelgänger, der befürchtet, dass es sich bei der Taubheit seines Beins um das erste Anzeichen einer schweren Krankheit handelt. Bei der Aufklärungsarbeit nach einem Doppelmord geht er alles andere als zielstrebig vor. Stattdessen hängt er seinen Gedanken nach, nickt mitunter ein und träumt dann heftig. Allerdings beobachtet er, was um ihn herum geschieht und sieht sich mehrmals im abgelegenen Haus der Ermordeten um. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Flavio Steimann: Aperwind |