Andrzej Szczypiorski: Die schöne Frau Seidenman (Roman) |
Kritik: In 21 Episoden schildert Andrzej Szczypiorski eine Reihe von zum Teil miteinander verknüpften Schicksalen. Er porträtiert Polen, Juden und Deutsche, Täter und Opfer, unterschiedliche Charaktere und wirft dabei die Frage nach der individuellen Schuld bzw. Bewährung vor dem Hintergrund kollektiver Verbrechen auf. ![]() |
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Andrzej Szczypiorski: Die schöne Frau Seidenman |
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Inhalt: Die 35-jährige Witwe Irma Seidenman, eine elegante, gut aussehende Blondine mit blasser Haut und blauen Augen, wird sich ihrer jüdischen Herkunft erst richtig bewusst, als die Deutschen in ihrer Heimatstadt Warschau einmarschieren. Sie verschafft sich eine nichtjüdische Identität, aber ein jüdischer Spitzel denunziert sie bei der Gestapo. Da bittet einer ihrer Nachbarn Freunde um Hilfe, die sich beherzt für Irma Seidenmans Freilassung einsetzen. ![]() |
Originalausgabe: Poczatek |
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Andrzej Szczypiorski: Die schöne Frau Seidenman |
Apolinary Kujawski:Der Warschauer Schneider Apolinary Kujawski hat keine Anstellung und verdient deshalb seinen Lebensunterhalt, indem er für die Nachbarn flickt und bügelt. Einer seiner Kunden, der Richter Romnicki, vermittelt ihm kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein festes Arbeitsverhältnis in der Schneiderei von Benjamin Mitelman, bei dem Romnicki seit dreißig Jahren arbeiten lässt. Kujawski zögert zuerst, dann nimmt er das Angebot an und tritt als einziger Christ in die Dienste des jüdischen Schneidermeisters. Es erwirbt das Vertrauen Mitelmans, und als dieser 1940 ins Ghetto ziehen muss, vertraut er Kujawski seinen Besitz an. Im Frühjahr 1942 stirbt Mitelman, und sein einziger Sohn, der Zahnarzt Mieczyslaw Mitelman, wird wenige Tage später auf der Straße erschossen. Kujawski bleibt mit der erfolgreich von ihm geführten Schneiderei zurück. Ein halbes Jahr nach dem Aufstand im Ghetto, im Herbst 1943, wird Kujawski festgenommen, und als er dem Gendarm erklären will, dass er für die deutschen Offiziere Uniformhosen näht, rammt dieser ihm seinen Gewehrkolben zwischen die Schulterblätter, dass ihm die Luft wegbleibt. Also fügt er sich in sein Schicksal und wird mit anderen zusammen aus irgendeinem Grund füsiliert. Pawelek Krynski:Pawelek Krynski besuchte Untergrundschulen. Mit dreizehn begann er, für die fünfzehn Jahre ältere Nachbarin Irma Seidenman zu schwärmen. Seit sein Vater in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, lebt Pawelek mit seiner Mutter Elzbieta allein in einer Mietwohnung. Im Spätherbst 1942 verliebt sich der Achtzehnjährige in die gleichaltrige Kommilitonin Monika, die ebenfalls die Untergrund-Universität in Warschau besucht. Er liebte Monika, liebte aber auch Frau Irma. Das waren zwei verschiedene Lieben. Mit Monika wollte er das ganze Leben verbringen, mit Frau Irma ein paar Stunden. (Seite 15) Henryk Fichtelbaum:
Krynskis bester Freund heißt Henryk ("Henio") Fichtelbaum. Henryks Vater, der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, stammt aus einer orthodoxen Judenfamilie, aber nach dem Jurastudium hatte er das alte Milieu verlassen, sich von der mosaischen Religion gelöst und war nach Warschau gezogen, um eine Anwaltskanzlei zu gründen. 1940 muss die Familie Fichtelbaum die schöne Wohnung verlassen und ins Ghetto ziehen. Einige Zeit später stirbt die Mutter. 1942 flieht der achtzehnjährige Henryk aus dem Ghetto und lässt seinen Vater mit seiner kleinen Schwester Joasia zurück. Pawelek besorgt seinem Freund ein Versteck, aber der hält es in der Einsamkeit auf dem Dachboden nicht aus und irrt im Frühjahr 1943 wieder durch die Straßen von Warschau. Wiktor Suchowiak:Im Frühjahr 1943, bevor sein Sohn ins Ghetto zurückkehrt, lässt Jerzy Fichtelbaum seine vierjährige Tochter Joasia aus dem Ghetto schmuggeln. Die Aufgabe übernimmt der Kriminelle Wiktor Suchowiak. Zu der Zeit, von der die Rede ist, zählte Wiktor Suchowiak dreiunddreißig Jahre und kam langsam auf den Hund. Das lange Leben, das ihm bestimmt war, sollte sich als verfehlt erweisen, denn Suchowiak hatte in seiner Jugend die Karriere des Berufsbanditen gewählt, was in der Epoche der großen Totalitarismen, die ihn bis ins hohe Alter begleiten sollten, zu einem beklagenswerten Anachronismus werden musste. Die großen Totalitarismen betreiben selber das Banditentum in der Majestät des Rechts, wobei – zur Verwunderung der individuellen Profis – dieses Verfahren Hand in Hand geht mit dem Fehlen jeglicher Alternative, während doch gerade die Alternative einst das philosophische Fundament des Banditentums gewesen ist. Wiktor Suchowiak arbeitete immer nach dem Grundsatz "Geld oder Leben!", was seinen Kontrahenden die Möglichkeit der Wahl ließ. Die Totalitarismen betreiben den Raub der Ehre, der Freiheit, des Eigentums, ja sogar des Lebens, und lassen weder den Opern noch sogar den Banditen die geringste Wahlmöglichkeit. (Seite 79)
Als Suchowiak mit Joasia auf dem Bürgersteig dahineilt, wird "der schöne Lolo" auf sie aufmerksam. Der lebt davon, Juden alles zu rauben und sie dann der Polizei zu übergeben. Weil er auf den ersten Blick erkennt, dass Joasia ein Judenmädchen ist, hält er auch Suchowiak für einen Juden und zerrt die beiden in einen Hauseingang. Dort schlägt Suchowiak ihn jedoch zusammen und stiehlt ihm nun seinerseits das Geld aus der Brieftasche. Ein paar Minuten später klingelt er bei Elzbieta und Pawelek Krynski, die Joasia bereits erwarten. Schwester Weronika:
Pawelek Krynski bringt Joasia zu Richter Romnicki, der das Kind der Klosterschwester Weronika anvertraut. Joasia Fichtelbaum:Schwester Weronika erzieht Joasia im katholischen Glauben und gibt ihr den Namen Marysia Wiewióra. Marysia will Zahnärztin werden, aber mit zwanzig ändert sie unvermittelt ihre Pläne, übersiedelt nach Israel, nennt sich dort Miriam Wewer und bewundert israelische Soldaten, die mit einem einzigen Fußtritt die Türen palästinensischer Häuser aufstoßen und verstörte Männer, kreischende Frauen und verschüchterte Kinder ins Freie zerren. Irma Seidenman:
Irma Seidenman, die junge Witwe des 1938 an Krebs gestorbenen Röntgenologen Dr. Ignacy Seidenman, ordnet den wissenschaftlichen Nachlass ihres Mannes und beschäftigt sich eingehend mit dessen Forschungen. Sie ahnt, dass der höfliche Nachbarjunge Pawelek Krynski auf kindliche Weise in sie verliebt ist. Das Judentum assoziiert sie nur mit ihrem Großvater, der starb, als sie fünf oder sechs Jahre alt war. Doch aus Furcht vor den Nationalsozialisten verschafft sie sich eine nichtjüdische Identität als Maria Magdalena Gostomska, Witwe eines 1939 gefallenen polnischen Artillerieoffiziers, und weil es sich um eine elegante, schlanke und gut aussehende Blondine mit blasser Haut und blauen Augen handelt, wird kein Fremder in ihr eine Jüdin vermuten. "Stuckler ist Deutscher, und die Deutschen sind gradlinig [...] ohne Fantasie, ohne Heuchelei, ohne Unaufrichtigkeit. Man hat Stuckler befohlen, die Juden auszurotten, also tut er's [...] Disziplin, Genauigkeit, Redlichkeit bei jeder Arbeit. Bei der verbrecherischen leider auch!" (Seite 114) Irma begreift, dass ihre Rettung "das Ergebnis von Bemühungen und Ängsten vieler Menschen" war. Mein Gott, dachte sie, ich habe geglaubt, eine einsame, ungeliebte Frau zu sein. Ich habe mich geirrt. Ich bin nicht allein. Hier ist niemand allein. (Seite 194)
Am frühen Morgen nach ihrer Rückkehr in die Wohnung klingelt Dr. Korda und bringt ihr heiße Milch. |
Buchkritik:
Die entscheidenden Ereignisse finden 1942/43 in Warschau statt. In einundzwanzig unsentimentalen und trotz des ernsten Themas auch ironischen Episoden schildert Andrzej Szczypiorski eine Reihe von zum Teil miteinander verknüpften Schicksalen. Er porträtiert Polen, Juden und Deutsche, Täter und Opfer, unterschiedliche Charaktere und wirft dabei die Frage nach der individuellen Schuld bzw. Bewährung vor dem Hintergrund kollektiver Verbrechen auf. In Rückblenden skizziert Andrzej Szczypiorski die Vergangenheit der Figuren, und er erwähnt in den meisten Fällen auch, was in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihnen wird. |
Inhaltsangabe und Rezensionr: © Dieter Wunderlich 2004
Andrzej Szczypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras |