Daniel Tammet: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt |
Daniel Tammet: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt |
Inhaltsangabe:
Ich wurde am 31. Januar 1979 geboren – einem Mittwoch. Ich weiß, es war ein Mittwoch, denn in meiner Vorstellung ist der Tag blau, und Mittwoch ist immer blau – wie die Zahl Neun oder der Klang lauter, streitender Stimmen. Mir gefällt mein Geburtsdatum, weil ich die meisten Zahlen darin als glatte, runde Formen vor mir sehen kann – so wie Kieselsteine an einem Strand. Das liegt daran, dass es Primzahlen sind: 31, 19, 197, 97 und 1979 lassen sich alle nur durch sich selbst und durch eins teilen. Ich kann jede Primzahl bis 9973 an ihrer "kieselsteinartigen" Beschaffenheit erkennen. So arbeitet mein Gehirn. Mit diesen Sätzen beginnt Daniel Tammet seine Autobiografie "Elf ist freundlich und Fünf ist laut". Wenn jemand meinen Eltern vor zehn Jahren gesagt hätte, dass ich einmal völlig selbstständig leben, eine Partnerschaft führen und einen Beruf ausüben würde, hätten sie es bestimmt nicht geglaubt, und ich bin nicht sicher, ob ich es selbst geglaubt hätte. Dieses Buch erzählt, wie ich dieses Ziel erreicht habe. (Seite 26)
Dem siebenundzwanzigjährigen britischen Buchautor fällt es zwar schwer, rechts und links zu unterscheiden, und er besitzt keinen Führerschein, weil er das
Immerhin entwickelte ich mich von einem brüllenden, weinenden Kind, das mit dem Kopf gegen die Wand schlug, zu einem stillen, zurückhaltenden, völlig in sich gekehrten Jungen. (Seite 34) Im Alter von vier Jahren erlitt Daniel Tammet einen heftigen epileptischen Anfall, an dem er gestorben wäre, wenn ihn nicht sein Vater sofort ins Krankenhaus gebracht hätte. Mit dem Antiepileptikum Carbamazepin gelang es den Ärzten, weitere Anfälle zu verhindern, und nach drei Jahren ließen sie den Patienten das Medikament absetzen. Vermutlich kam Daniel Tammet nicht mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten auf die Welt, sondern erwarb sie durch die Epilepsie in der Kindheit.
Man weiß nicht, ob und wie sich Epilepsie langfristig auf das Gehirn auswirkt. Meine Kindheitsanfälle gingen vom linken Temporallappen aus, und nach Ansicht einiger Forscher liegt eine mögliche Ursache der Savant-Fähigkeiten darin, dass eine Schädigung der linken Hirnhälfte von der rechten Hirnhälfte kompensiert wird. (Seite 55) Im September 1984 wurde Daniel Tammet eingeschult. Dass in den Rechenbüchern alle Zahlen schwarz und gleich groß waren, sah für ihn wie Druckfehler aus, denn in seiner Welt ist die Acht größer als die Sechs, und die Neun ist beispielsweise blau. Lange Zeit begriff er nicht, wieso ihn der Lehrer immer wieder ermahnte, die Ziffern und Zahlen bei Rechenaufgaben gleich groß zu schreiben. Daniel Tammet blieb auch in der Schule Einzelgänger, nicht nur, weil er schüchtern und in sich gekehrt war, sondern vor allem auch, weil er aufgrund des Asperger-Syndroms – einer leichteren Form von Autismus – nonverbale Signale nicht zu deuten vermochte.
Ich verstand nicht, dass Gespräche noch einen anderen Zweck haben können, als über die Themen zu sprechen, die einen am meisten interessieren [...] Für Autisten wie Daniel Tammet ist es schwierig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Beispielsweise rief er einmal seine Mutter aus einer Telefonzelle an, und als ihm die Münzen ausgingen, bat er sie um einen Rückruf – ohne ihr die Telefonnummer durchzugeben. Ich hatte einfach angenommen, dass sie wusste, was ich wusste. (Seite 101) Aufgrund seiner Unfähigkeit, nonverbal zu kommunizieren kam er in der Schule mit dem Mannschaftssport nicht zurecht.
Ich [...] erkannte nicht, ob ich ausweichen, einen Pass spielen oder den Ball an jemand anderen abgeben sollte. (Seite 119)
Im Sommer 1990 wechselte Daniel Tammet von der Grundschule (Dorothy Barley) auf eine weiterführende Schule (Barking Abbey), und fünf Jahre später erhielt er das dem deutschen Realschulabschluss entsprechende General Certificate of Secondary Education. Seine Mutter war enttäuscht, als er sich entschloss, nicht zu studieren, sondern sich stattdessen beim Jugendzweig der Volunteer Services Overseas bewarb und für ein Jahr als ehrenamtlicher Englisch-Lehrer nach Litauen ging. Als er von dort nach London zurückkam, gab er Kindern Nachhilfestunden in Rechnen, Schreiben und Lesen. Von dem Geld, das er damit verdiente, kaufte er sich einen Computer. Weil bei E-Mails und in Chatrooms keine Körpersprache zu beachten ist, fällt Daniel Tammet diese Art der Kommunikation sehr viel leichter als persönliche Gespräche.
Wenn ich mir die Ziffernfolge ansehe, habe ich eine Fülle von Farben, Formen und Strukturen im Kopf, die sich spontan zu einer visuellen Landschaft verbinden. Das ist immer ein sehr schönes Erlebnis für mich. (Seite 196) Jede Zahl zwischen 1 und 10 000 löst bei Daniel Tammet eine visuelle Vorstellung aus, einige davon auch eine emotionale Reaktion. Zahlen sind meine Hauptsprache, in der ich oft denke und fühle. Es ist manchmal schwierig für mich, Emotionen zu verstehen oder darauf zu reagieren, deshalb helfe ich mir oft mit Zahlen. Wenn ein Freund sagt, er sei traurig oder niedergeschlagen, stelle ich mir vor, dass ich der dunklen Leere der Zahl Sechs sitze, um seine Gefühle nachzuempfinden und zu begreifen. Wenn ich in einem Artikel lese, dass jemand sich durch etwas eingeschüchtert fühlt, stelle ich mir vor, neben der Zahl Neun zu stehen. Wenn jemand seinen Besuch an einem wunderschönen Ort beschreibt, erinnere ich mich an meine Zahlenlandschaften und welche Glücksgefühle sie in mir auslösen. Auf diese Weise tragen Zahlen tatsächlich dazu bei, dass ich andere Menschen besser verstehe. (Seite 21) Um zwei Zahlen zu multiplizieren, rechnet Daniel Tammet nicht, sondern er sieht zwischen den Formen der beiden Ausgangszahlen innerhalb von Sekunden eine neue Form: das Ergebnis. Es ist, als würde man rechnen, ohne nachdenken zu müssen. (Seite 19) Mit Algebra tut er sich dagegen schwer; da fehlen ihm die Zahlen. Meine Synästhesie beeinflusst auch, wie ich Wörter und Sprache wahrnehme. Das Wort "ladder" (Leiter) zum Beispiel ist blau und glänzend, während "hoop" (Reifen) ein weiches, weißes Wort ist. (Seite 24)
Nachdem Daniel Tammet am 14. März 2004 den europäischen Rekord im Aufsagen der Zahl Pi gebrochen hatte, nahm ihn eine Filmcrew mit in die USA. In Las Vegas gewann er im Blackjack gegen das Casino, und in Salt Lake City traf er den Savant Kim Peek (1951 – 2009) vor der Kamera, das Vorbild die für von Dustin Hoffman in "Rain Man" gespielte Filmfigur Raymond Babbit. Anschließend an die Amerika-Reise, im September 2004, dokumentierten die Filmemacher, wie der "Brainman" Daniel Tammet innerhalb von einer Woche so gut Isländisch lernte, dass er in Reykjavik Live-Interviews in dieser Sprache geben konnte. Der Film mit dem Titel "The Boy With The Incredible Brain" wurde am 23. Mai 2005 erstmals ausgestrahlt. |
Buchbesprechung:
In seinem Buch "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" erzählt der am Asperger-Syndrom leidende Engländer Daniel Tammet (* 1979), wie er in London aufwuchs und an sich arbeitete, um trotz seiner Behinderung ein eigenständiges Leben führen zu können. Dabei beeindruckt seine positive, zuversichtliche Grundeinstellung die Leser. Bei allem Stolz auf das Erreichte bleibt Daniel Tammet bescheiden und unpathetisch. Faszinierend ist vor allem die Diskrepanz zwischen seinen Schwierigkeiten im Alltag und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen und Sprachen, die ihn zu einem der wenigen Savants auf der Welt machen. Bei "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" handelt es sich nicht um die Schilderung eines Außenstehenden, sondern um die Innenansicht eines Savants. "Ein genialer Autist erklärt seine Welt" heißt es denn auch im Untertitel. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Daniel Tammet (kurze Biografie) |