Émilie de Turckheim: Im schönen Monat Mai (Roman) |
Emilie de Turckheim: Im schönen Monat Mai |
Inhaltsangabe:Aimé ist 28 Jahre alt und Knecht auf einem Gut in Saint-Benoît-sur-Leuze, auf dem sich während der Jagdsaison stets Großstädter als Gäste eingefunden und viel Geld dafür bezahlt haben, dass sie zum Beispiel ein Wildschwein vor die Büchse kriegten, das sie dann womöglich doch verfehlten. Aber jetzt ist Mai, Schonzeit, und dennoch reisen fünf Gäste an. Louis Yoke, der Gutsherr, ist nämlich tot, und weil er keine Angehörigen hatte, soll er das Ehepaar Truchon, Jacques Lyon-Saëck, Sacha Milou und Herrn Hi als Erben eingesetzt haben. Abdallah holt sie vom Bahnhof ab. Weil es nicht genügend Betten im Gutshaus gibt, müssen sich einige der Gäste ein Bett teilen. Nicht dass ihr jetzt glaubt, wir haben extra für die Hirnschüssler das Bettzeug gewaschen! Wir haben es nur umgedreht, damit es sauber aussieht. Von fern wirkt es ganz frisch. Na ja, nicht ganz, ein paar Spuren sind dran.
"Wir", damit meint Aimé sich und einen weiteren Knecht, Martial. Der hält sich meistens im Hintergrund, weil sein Anblick die Leute erschreckt. Martial hinkt. Schlimmer ist, dass ihm eine Seite des Gesichts fehlt. Da hat er weder Wange, noch Ohr oder Auge. Ursache dafür war ein Unfall vor zwei Jahren, der eigentlich nicht wirklich ein Unfall war, "sondern ein Wutanfall von Monsieur Louis, der schlecht ausgegangen ist". Paulette Truchon hält es nicht mehr aus, wie ihr das Erbe geklaut wird, und schreit so laut, dass ihr die Brüste aus der Korsage springen und jeder merkt, dass die zwei Dinger noch größer sind, als was sie uns gern hat glauben lassen. "Geht es dir auch wirklich gut, mein Schatz?", fragt Herr Truchon, aber statt dass sie ihm eine Antwort gibt, fällt sie auf den Boden, zum Glück hat sie es ja nicht weit, weil sie, wie ich euch schon erklärt habe, unbedingt auf dem Fußschemel hat sitzen müssen.
Sie ist tot. Der Witwer kann es kaum glauben und beteuert, sie sei kerngesund gewesen. Abdallah holt die Leiche ab. Ich denke daran, dass ich damals, wie ich noch ganz klein war, kein Geld gekriegt habe für die ganze Arbeit im Gemüsegarten, aber das ist normal, weil Kinder sind ja zum Spielen auf der Welt und zum Plärren und nicht zum Geldverdienen. Er erinnert sich an Lucette. Abdallah brachte sie regelmäßig mit dem Wagen, und dann ging sie zu Monsieur Louis ins Haus. Der nannte sie Pipette, so wie er Aimé auch nicht bei seinem richtigen Namen rief, sondern sich "Mémé" für ihn ausgedacht hatte.
[...] weil ich ein Sensibelchen bin, das hat Lucette immer gesagt, wenn sie mich geküsst hat und traurig war wegen allem außer mir, ich war nämlich die Freude ihres Lebens und ihr Sonnenstrahl. Jeanne, die Monsieur Louis' Hemden bügelte, schlug ihm einmal vor, sie hinter dem Friedhof zu treffen, aber er ging nicht hin und hat auch noch mit keiner anderen Frau Erfahrungen gesammelt. Er himmelte Lucette an und freute sich, wenn Abdallah sie aufs Gut brachte. Louis Yoke scheint sie auch gemocht zu haben, denn er ließ sie jede Woche kommen.
[...] weil Monsieur Louis zwar nie wen geliebt hat, aber von allen Menschen der Erde war Lucette am nächsten dran.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Lucette erzählte Aimé, dass sie im Alter von 13 Jahren in den Ferien bei ihrem Onkel Anselme und ihrer Tante Denise gewohnt habe, weil ihr Vater depressiv gewesen sei. Onkel Anselme schwängerte sie, und daraufhin setzte ihr Vater, ein Polizist, sie vor die Tür. Sie kam zu Pflegeeltern, die hießen Truchon, schlugen sie mit einer Latte und brachten sie dann ins Bordell "Zum Blauen Engel" in Saint-Étienne. Sie ist gekommen mit Schuhen, die die Fersen ganz hoch heben, und einem weißen Kleid, das so kurz wie ein Hemd ist und trotzdem Kleid heißt. Und dann hat sie vergessen gehabt, die dünnen Sachen anzuziehen, die Frauen drunter tragen, damit man den Hintern und die Brust nicht so sieht, und Martial hat seine Hormone gekriegt. Als Lucette wieder aus dem Haus kam, forderte Martial sie auf, ihm in den Schweinestall zu folgen. Damals war sein Gesicht zwar noch unverletzt, aber Lucette wollte dennoch nicht. Er zerrte sie hinein. Aimé fütterte die Hühner, harkte die Allee und wusch Monsieur Louis' Auto. Da hörte er zuerst Martial und dann Lucette aufschreien. Er rannte zum Schweinestall. Auch Monsieur Louis kam angelaufen. Martial kam hinter dem Koben hervor. Sein Gesicht war voller Blut, und ein Ohrläppchen fehlte ihm. Offenbar hatte er versucht, Lucette zu vergewaltigen, und sie hatte sich gewehrt und ihm das Ohrläppchen abgebissen. Nun lag sie bewusstlos am Boden, und ihr Gesicht war verätzt, denn Martial hatte ein mit Schwefelsäure gefülltes Weckglas nach ihr geworfen. Monsieur Louis schlug Martial mit einer Schaufel zusammen, bis er sich kaum noch bewegen konnte. Dann nahm er ein weiteres Glas mit Säure aus dem Regal und schüttete es ihm ins Gesicht. Ich bin auf das Dach von der Scheune und habe meine Knie genommen und mich nicht mehr gerührt. So lange, bis die Feuerwehr gekommen ist und mich mit der Leiter, die den Kindern so gut gefällt, von dem Dach runtergeholt hat. Die haben dann gesagt, ich brauche sofort psychologische Hilfe, und gleich am nächsten Tag ist die psychologische Hilfe gekommen, mit Rock und gestreifter Bluse und einer Stimme, die extra so war, dass alles gut wird. Eine sehr hübsche psychologische Hilfe war das, die hat mich mit ihren langen Haaren gleich an Lucette erinnert.
Es hieß dann, es habe sich um zwei bedauerliche Unfälle gehandelt. Weil Louis Yoke großzügige Spenden verteilte, die ganze Wirtschaft von Saint-Benoît-sur-Leuze von ihm lebte und angesehene Leute aus Paris zu ihm kamen, um Wildschweine zu schießen, unternahm die Polizei nichts weiter. Da habe ich zu mir gesagt, Gott hat für mich mit der Drecksarbeit angefangen, jetzt muss ich nur noch weitermachen.
Der pensionierte Wachtmeister beklagt sich, dass der Kaffee, den Aimé für ihn kochte, grässlich bitter sei. Offenbar hat Aimée etwas zu viel Gift hineingetan. Jedenfalls wirkt es rasch. Abdallah kommt, um die Leiche abzuholen. Es sei die letzte, sagt Aimé. Die anderen liegen bereits im Teich. Paulette Truchon wurde wie Jacques Lyon-Saëck vergiftet, ihren Witwer erschlug Aimé ebenso wie Herrn Hi mit einer Axt, und bei Sacha Milou benutzte er einen Schürhaken. Martial erwürgte er. Ich glaube nicht, dass der Tod der Anfang von einem neuen Leben ist. Wenigstens hoffe ich es. Das wäre ein harter Schlag, wenn alles noch mal von vorn anfinge. |
Buchbesprechung:
Hinter dem sarkastischen Titel "Im schönen Monat Mai" verbirgt sich ein Roman über Unmenschlichkeit und Gewalt, Schuld und Rache. Martial stottert nämlich ständig seit dem Unfall, von dem wir beide wissen, dass es kein Unfall war, sondern ein Wutanfall von Monsieur Louis, der schlecht ausgegangen ist.
Erst auf Seite 53 erfahren wir mehr darüber. Aufgrund der raffinierten Auslassungen haben wir von der Beziehung zweier Personen zunächst eine völlig falsche Vorstellung. Émilie de Turckheim führt uns so geschickt durch die Geschichte, dass sich nach und nach ein vollständiges Bild zusammensetzt und die Spannung bis zum Schluss hoch bleibt. Dabei ist "Im schönen Monat Mai" eigentlich gar kein Thriller, sondern ein packendes groteskes Drama voller Sarkasmus. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
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