Szczepan Twardoch: Morphin (Roman) |
Szczepan Twardoch: Morphin |
Inhaltsangabe:Mitte Oktober 1939, zwei Wochen nach der Besetzung Warschaus durch die deutsche Wehrmacht, treffen wir auf den knapp 30 Jahre alten polnischen Reserveleutnant Konstanty ("Kostek") Willemann, der fließend polnisch und deutsch mit Wiener Klangfärbung spricht. Wer bin ich? Ich möchte sagen: Ich bin Kostek Willemann, Gentleman, Verschwender, Hurenbock und Morphinsüchtiger. Geld hat mir nie gefehlt. Ich treibe mich gern mit Künstlern und Schriftstellern herum. Trieb mich. Ich mag die Frauen. Habe ein bisschen Polonistik studiert, um zu vergessen, dass ich deutscher Abstammung bin, aber die Polonistik hat mich nicht interessiert, ich habe das Studium nie abgeschlossen. Ich zeichne ein bisschen, habe sogar ein Fernstudium bei den besten Professoren der Kunstakademie absolviert, meine Mutter hat's bezahlt, aber auch die Kunst interessiert mich nicht so wirklich. Ich wollte etwas mit Fotografie machen, nackte Frauen in aufreizenden Posen fotografieren, aber der Krieg kam, bevor ich mir einen Apparat zulegen konnte. Ich wollte das Drehbuch für einen Film schreiben oder Regie führen. [...] Ich hab's dann nicht geschrieben, und der Krieg kam. Ich schätze Morphin, eisgekühlten Wodka und Sekt, verschmähe auch Kokain nicht, gehe gern gut essen, tanze im Adria oder im Paradis mit Frauen, die ich abends kennenlerne und morgens verabschiede. Statt sich, wie angeordnet, bei den Chevaulegers-Kasernen in Gefangenschaft zu begeben, versteckt sich der Reserveleutnant. Seine Frau Helena ("Hela") und seinen dreijährigen Sohn Jureczek hat er seit einer Woche nicht gesehen. Bevor er sie nun besuchen will, lässt er sich von seinem zwei Jahre älteren Jugendfreund, dem Arzt Dr. Jacek Rostanski, im Ujazdowski-Krankenhaus ein Fläschchen Morphin zustecken. Weil er an zahlreichen Verwundeten vorbei muss, die vor Schmerzen stöhnen und das Morphin dringender bräuchten als er, plagt ihn das Gewissen. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil er nicht nach Iga sucht, wie sein Freund es von ihm erwartet. Jaceks Ehefrau Iga Rostanska verschwand im September spurlos, und er hofft, dass Konstanty sie wiederfindet. Weshalb suche ich Iga nicht? Jacek sucht nicht, weil er nicht kann, die Pflicht, er ist jetzt Arzt, zwei Wochen nach Kriegsende kann er wirklich nicht nach seiner Frau suchen, die Leute sterben ihm unter der Hand weg. Er darf nicht, wirklich nicht. Aber ich könnte. Müsste. Schließlich ist Jacek mein bester, aufrichtigster Freund. Vor seiner Wohnungstüre im Haus eines Schokoladenfabrikanten macht er kehrt. So kurz vor dem Beginn der nächtlichen Ausgangssperre wird Salomé ("Sala") ihn aufnehmen müssen. Mit von einem Grab geraubten Chrysanthemen geht er zu ihr. "Sala", flüstere ich. Sie lässt mich ein. So oft habe ich diese Tür zugeschlagen, so oft hat sie mich aus der Wohnung geworfen, so oft hatte ich um Einlass gewinselt, während irgendein Freier bei ihr saß, dem ich dann, armer Kerl, mit dem Schlagring die Fresse polierte und ihn die Treppe hinunterwarf.
Salomé Zylberman wurde in Odessa geboren, aber als sie fünf Jahre alt war, flohen die Eltern vor den Bolschewiken nach Lwów. Ihr Vater, ein strenggläubiger Jude, verstieß sie, als sie schwanger wurde. Ihr Kind lebt in einem jüdischen Heim in Lublin. Bevor Sala bereit ist, sich mit Konstanty ("Kostia") das Morphin zu teilen und mit ihm zu schlafen, will sie von ihm gezeichnet werden. Die lüsterne Hure hat bereits eine ganze Mappe mit pornografischen Zeichnungen. Ich schaue Sala an, scheinbar meine Sala, und sie kommt mir abstoßend vor: Sie schläft, so weiß, mit offenem Mund, die Höhle dieses Mundes ist eine abscheuliche Wunde, die Zähne Knochenstümpfe. Ich stehe auf, ziehe mich an. Als ich mir schon an der Tür die Schuhe zubinde, kommt Sala aus dem Schlafzimmer. Nackt, die Augen Spalten, die Lider wie mit dem Messer aufgeschlitzt, nackt, mit zerzaustem Haar, sie versucht gar nicht erst, die Brust oder den Schritt zu bedecken. Mich widert der Anblick ihrer Brüste an [...] und mich widert der Anblick des haarigen Urwalds an [...]. Sie ekelt mich an, meine Sala ekelt mich, ich will sie nicht mehr sehen.
Sie kann ihn nicht zurückhalten. Mitten in der Nacht kehrt er zu seiner Frau und seinem Sohn zurück. Helena Willemann de domo Peszkowska aus der Linie Jastrzębiec ist völlig anders als Salomé: nicht weich, üppig und verdorben, sondern kühl, sportlich und auf Hygiene bedacht. Ihre Vorstellungen von der Liebe stammen aus Lyzeumslektüren. Helena verabscheut Männer, die sich mit Prostituierten einlassen.
"Warum hast du mich mit dem Paket dorthin geschickt?" [...]
Stefan Witkowski – Deckname: der Ingenieur – besorgt Konstanty einen Vorkriegs-Personalausweis auf den Namen Jan Machura. Zugleich fordert er ihn auf, sich im Deutschen Klub in Warschau als Konstanty Strachwitz von Gross-Zauche und Camminetz auszugeben. Außerdem gibt er ihm ein Blatt Papier, auf dem in polnischer Sprache steht, dass Iga Rostanska am 1. Oktober bei Radzymin verhaftet wurde und sich in Untersuchungshaft befindet.
"Ich weiß, dass sie hier ist!", winselt Jacek.
Durch Zufall trifft Konstanty in einer Spelunke auf seinen lange Zeit tot geglaubten Vater. Er teilt ihm mit, dass er zum Schein Deutscher geworden sei, in Wirklichkeit jedoch für den polnischen Widerstand tätig sei. Daraufhin überlässt Baldur von Strachwitz ihm die Uniform eines Kommissars der Geheimen Feldpolizei.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Von Helena erfährt Konstanty, dass Iga erneut verschwunden ist. Er nimmt eine Kutsche und lässt sich zu Jaceks Wohnung fahren.
Im Sessel im Wohnzimmer sitzt Jacek und schläft. Er schnarcht. Auf den Knien hält er eine Pistole. Neben ihm eine leere Wodkaflasche. Ich suche Geld, um Jacek kümmere ich mich später, soll er schlafen, ich muss den Kutscher bezahlen, also suche ich Geld. Statt darauf einzugehen, sagt Jacek:
"Du bist verurteilt worden. Zum Tod. Wegen Verrats. Du Scheißdeutscher." Konstanty gelingt es nicht, Jacek davon zu überzeugen, dass er im Auftrag einer polnische Widerstandsgruppe in Budapest war. Schuss. Wie eine furchtbare Faust in den Magen. Ich auf dem Boden. Jacek weint. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Morphin" des polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch (* 1979) spielt im Oktober 1939, also unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkriegs, in Warschau und Budapest. Der deutsche Hass gegen das Slawische oder das Jüdische schwimmt immer in Schuldgefühl, er maskiert nur notdürftig den Hass auf sich selbst: Der Engländer ließ die Buren im Konzentrationslager verhungern, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht deshalb, weil er ihnen das Menschliche, sondern weil er ihnen das Englische abspricht. Der Preuße hasst die Polen, weil er weiß, dass er selbst nur ein oberflächlich eingedeutschter Slawe ist. Der Österreicher hasst die Tschechen, weil er selbst nichts anderes ist als ein dünn mit deutschem Zuckerguss glasierter Tscheche.
Konstanty Willemanns Ehefrau Helena und seine Geliebte, die Hure Salomé, könnten nicht unterschiedlicher sein. Da stellt Szczepan Twardoch bewusst zwei kontrastierende Klischees auf. Seine Erzählhaltung ist amoralisch. Bei den pornografischen Zeichnungen, die Konstanty Willemann von Salomé anfertigt, denkt man an expressionistische Gemälde von Egon Schiele und George Grosz. Mit Zynismus und erzählerischem Furor inszeniert Szczepan Twardoch groteske Bilder und schafft mit "Morphin" eine atemberaubende Lektüre in einem ungewöhnlichen Retrostil.
Kostek kennt mich, weiß, wer ich bin, dreht sich nicht um. Hat Angst, mich zu sehen, aber er kann mich gar nicht sehen. Ich gehe Konstanty nach, ich, seine einzige Freundin, seine wahre Geliebte. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Szczepan Twardoch: Drach |