Andres Veiel: Der Kick mit Markus Lerch, Susanne-Marie Wrage u. a. |
Andres Veiel: Der Kick |
Inhaltsangabe und Filmkritik:Marinus Schöberl. Mord in Potzlow
In der Nacht auf den 13. Juli 2002 wurde der 16-jährige Marinus Schöberl aus Gerswalde im zehn Kilometer entfernten Dorf Potzlow von dem 23 Jahre alten Marco Schönfeld, dessen sechs Jahre jüngerem Bruder Marcel und einem weiteren 17-Jährigen namens Sebastian Fink stundenlang geschlagen und gedemütigt, bevor Marcel Schönfeld ihn schließlich ermordete. Erst im November 2002 fand man die Leiche und im Oktober 2003 verurteilte das Landgericht Neuruppin die drei Täter [Mord in Potzlow].
Wir hören beispielsweise, wie Jutta Schönfeld sich über die Medien, die Ausgrenzung durch die anderen Dorfbewohner und Feindseligkeiten beklagt: Am Dienstag, da ging es los. Man kennt ja das mit der Zeitung und Fernsehen und plötzlich is' man das selbst. RBB, Stern TV, RTL, alle wollten was erfahren, und der Polizist hat gesagt, alles abblocken. Die Nachbarschaft, wenn du raus kommst, denn wird grad noch so gegrüßt, und dann gehen sie wieder los. Und abends sitzen wir dann hier, kriegen Anrufe: Mörder, Mörder. Denn hört man bloß ein Stöhnen im Hintergrund. Wir hatten so ne Angst gehabt, wir haben Bekannte angerufen, können wir bei euch unterkommen? Die dann, wir rufen zurück, und dann haben sie zurückgerufen. – Ja, tut uns Leid, musst uns verstehen, das geht nich', geh' in ein Hotel. – ich sage: – Aber ein Hotel kost ja aber auch Geld. – Ich hab denn gesagt, man kann nich' wegrennen, wir haben nischt gemacht, wir sind keine Mörder.
Birgit Schöberl, die wohl von Arbeitslosen- oder Sozialgeld lebte, erhielt ein amtliches Schreiben, in dem sie darauf hingewiesen wurde, dass seit Marinus' Tod das Maximum der zugelassenen Quadratmeter pro Person überschritten sei. Sie wurde deshalb aufgefordert, sich eine kleinere Wohnung zu suchen. Weil's Spaß macht und weil man auch nicht weiß, was man sonst machen soll. Jürgen Schönfeld sagt: Wir haben alles getan, was man tun kann. Wir haben unsere Kinder gut erzogen. Und seine Frau fügt hinzu: Die Kinder stehen an erster Stelle, erst dann kommt der Partner. Jürgen Schönfeld weiter: Marco war und ist ehrlich. Wir haben ihn zur Gewaltlosigkeit erzogen. Da hat noch nie jemand zurückgeschlagen. Und der Marco auch nicht, jedenfalls nicht, wenn er nüchtern ist. Der Marco der ist jetzt jemand, der schlägt zurück im Suff. Aber ansonsten ist er der liebste Mensch, das sagt er selber. Staatsanwalt: Am Tatabend war weder ein Asylbewerber, ein Jude oder irgendjemand, worauf das Feindbild zutraf, vorhanden. Deshalb musste hier ein Kumpel als Notopfer herhalten, weil den Tätern kein besserer begegnete. Nach unserer Auffassung hat das Opfer Schöberl nach den ganzen Misshandlungen sein eigenes Todesurteil gesprochen, indem er gesagt hat: Ich bin Jude. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gesagt, spinnt hier nicht rum, ich bin doch euer Kumpel Marinus, ich glaube nicht, dass der Tötungsakt dann über die Bühne gegangen wäre. Das ist kein Vorwurf, sondern einfach eine Feststellung. Bevor er sich als Jude bekannte, da geilte man sich – unschöner Ausdruck, aber vielleicht passt er hier – an seinen blond gefärbten Haaren und seinen Hip-Hop-Hosen auf. Der Tötungsakt wurde erleichtert, weil Marinus Schöberl aus Sicht der Täter auf einer niedrigeren geistigen Stufe stand. Man kann in die Reihe der potenziellen Opfer neben Asylbewerbern auch behinderte Menschen einreihen. Und das traf auf das Opfer zu. Marinus Schöberl stotterte, besonders wenn er aufgeregt war. Bei der Beerdigung von Marinus Schöberl in Gerswalde sagt der Geistliche: Eltern, Geschwister und Freunde machen sich schwerste Vorwürfe: Warum? Warum haben wir uns den Tätern nicht mutig in den Weg gestellt? Stattdessen haben wir es hingenommen, dass irregeleitete, zum Teil restlos verkommene jugendliche Glatzenträger ihren giftigen Ungeist ungeniert durch unsere Gemeinden tragen konnten. Und dass sie dafür noch den Beifall einiger Leute einheimsen konnten, und sei es der Applaus des betretenen Schweigens. Warum hat es niemand bemerkt, das Marinus in der Julinacht durch das komplette Dorf Potzlow getrieben wurde? Haben denn alle geschlafen? Oder waren sie betrunken oder einfach barbarisch?
"Der Kick" ist ein karges, minimalistisches und dennoch vielstimmiges Theaterstück. Nur vor der Trauerrede des Pfarrers ertönt kurz Musik. Aber die Geräusche werden gezielt eingesetzt.
Die haben noch nie einen Juden gesehen, noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Sie wissen auch historisch null! Man muss es einfach so klar sagen. Es sind Chiffren, die einen Vorwand bilden, jemand anderen zu erniedrigen. Jemanden erniedrigen, zum "Juden" machen – Macht haben. Schließlich sogar über Leben und Tod bestimmen. Weil man selbst in dieser Gesellschaft nichts wert zu sein scheint. Diese unheilvolle Sehnsucht gibt es nicht nur im Osten. (Andres Veiel)
Deutlich wird, dass es sich bei den Tätern nicht um Monster handelt, sondern um Menschen mit widersprüchlichen Charaktereigenschaften. Marcos Freundin (die selbst zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil sie die Freundin eines "Fidschi" krankenhausreif geschlagen hatte) hebt beispielsweise hervor, wie liebevoll er sich ihr gegenüber verhielt. Die Diskrepanz zwischen der monströsen Tat und sympathischen Charakterzügen der Täter ist schwer zu ertragen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Andres Veiel: Wer wenn nicht wir |