Christa Wolf: Kassandra (Erzählung) |
Kritik: Der gewaltige Innere Monolog Kassandras reißt den Leser mit, und das hohe intellektuelle Niveau fordert zur Auseinandersetzung mit den angesprochenen Themen heraus. ![]() |
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Christa Wolf: |
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Inhalt: Für Kassandra, die Tochter des Trojanerkönigs Priamos, wird die Sehergabe zum Fluch: Sie sieht das Unheil für ihr Volk voraus, kann jedoch den Lauf der Dinge nicht aufhalten, weil in einer von Männern dominierten Welt keiner auf sie hört. Am Ende des Trojanischen Krieges wird sie von Agamemnon, dem siegreichen König von Mykene, als Gefangene mitgenommen und erwartet ihren Tod. ![]() |
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Christa Wolf: Kassandra |
Inhaltsangabe:
Mit der Erzählung geh ich in den Tod.
Kassandra, die Tochter von König Priamos von Troja und dessen Gemahlin Hekabe, wird nach dem Trojanischen Krieg von Agamemnon, dem siegreichen König von Mykene, als Sklavin mitgenommen. Aufgrund ihrer Sehergabe weiß sie bereits vor der Ankunft in Mykene, dass sie dort wie auch der König von dessen Gemahlin Klytaimnestra und deren Liebhaber Aigisth ermordet wird. Angesichts des Todes beschäftigt Kassandra sich ein letztes Mal mit ihren Erinnerungen. Dutzende von Männerbeinen in Sandalen, man sollte nicht glauben, wie verschieden, alle widerlich. An einem Tag kriegte ich fürs Leben genug von Männerbeinen, keiner ahnte es. Ich spürte ihre Blicke im Gesicht, auf der Brust. Nicht einmal sah ich mich nach den anderen Mädchen um, die nicht nach mir. Wir hatten nichts miteinander zu tun, die Männer hatten uns auszusuchen und zu entjungfern. Ich hörte lange, eh ich einschlief, das Fingerschnipsen und, in wieviel verschiedenen Betonungen, das eine Wort: Komm [...] Ich erfuhr zwei Arten von Scham: die, gewählt zu werden, und die, sitzenzubleiben. (Seite 20)
Aineias nahm Kassandra mit. Doch er verliebte sich in sie und raubte ihr nicht die Unschuld. Vielleicht war er auch impotent. Entjungfert wurde Kassandra jedenfalls einige Zeit später von dem aus Griechenland stammenden Priester Panthoos, doch immer wenn dieser sich zu ihr legte, stellte sie sich vor, es wäre Aineias.
Ein Krieg, um ein Phantom geführt, kann nur verlorengehen. (Seite 79) Vergeblich versuchte Kassandra, die Männer vom Krieg abzuhalten; niemand hörte auf sie und keiner glaubte ihre düsteren Prophezeiungen ("Kassandrarufe"). Das Geheimnis über Helena musste sie für sich behalten. Den Winter über wurde ich teilnahmslos und versank in Schweigen. Da ich das Wichtigste nicht sagen durfte, fiel mir nichts mehr ein. (Seite 81) Am ersten Kriegstag wurde Kassandras erst siebzehn Jahre alter Bruder Troilos, der zu ihr in den Tempel geflüchtet war, von dem Thessalier Achill erdrosselt und enthauptet. Dann kam Achill das Vieh. Des Mörders Eintritt in den Tempel, der, als er im Eingang stand, verdunkelt wurde. Was wollte dieser Mensch. Was suchte er bewaffnet hier im Tempel. Grässlichster Augenblick: Ich wusst es schon. Dann lachte er. Jedes Haar auf meinem Kopf stand mir zu Berge, und in die Augen meines Bruders trat der reine Schrecken. Ich warf mich über ihn und wurde weggeschoben wie ein Ding aus Nichts [...] Lachend, alles lachend. Ihm an den Hals griff. An die Kehle ging [...] Des Bruders Augen aus den Höhlen quellend. Und in Achills Gesicht die Lust. Die nackte grässliche männliche Lust [...] Nun hob der Feind, das Monstrum, im Anblick der Apollon-Statue sein Schwert und trennte meines Bruders Kopf vom Rumpf. (Seite 84f) Vom Beginn des Krieges an wurden Frauen nicht mehr zu den Sitzungen des Rats von Troja zugelassen. Nicht einmal für Hekabe machte Priamos eine Ausnahme. Was jetzt, im Krieg, in unserm Rat zur Sprache kommen muss, ist keine Fraunsache mehr. (Seite 104) Obwohl Kassandra aufhörte, an die Götter zu glauben, vervollkommnete sie ihre Techniken als Priesterin. Im Tempel hörte sie eines Tages, wie Hektor, ihr ältester Bruder, der Oberbefehlshaber der Trojaner, Achill seine Schwester Polyxena als Gegenleistung für einen Plan des Griechenlagers anbot. Niemals vorher hat Troia einen Gegner zum Verrat an seinen Leuten aufgefordert. Nie eine seiner Töchter an den Feind um diesen Preis verkauft. (Seite 122) Vergeblich versuchte Kassandra ihre ältere Schwester davon abzuhalten, sich Achill zu zeigen. Am Abend stellte Polyxena sich auf die Stadtmauer, blickte auf Achill hinab und entblößte schamlos ihre Brüste. Kassandra geriet aufgrund ihrer Vorahnungen in Panik und sank um. Als die wieder zu sich kam, hockte eine alte Priesterin namens Herophile neben ihr und sagte: Was geschehn soll, geschieht. Wir sind nicht dazu da, es zu verhindern. Also mach kein Wesens. (Seite 121) Um seinen gegen Hektor gefallenen Geliebten Patroklos zu rächen, tötete Achill den Anführer der Trojaner. Dann stellte er Hektors Vater vor die Wahl, entweder die zerschundene Leiche mit Gold aufzuwiegen oder ihm seine Tochter Polyxena zu übergeben. Die Erinnerung schmerzt Kassandra: Mein Hass kam mir abhanden, wann? Er fehlt mir doch, mein praller saftiger Hass. Ein Name, ich weiß es, könnte ihn wecken, aber ich lass den Namen lieber jetzt noch ungedacht. Wenn ich das könnte. Wenn ich den Namen tilgen könnte, nicht nur aus meinem, aus dem Gedächtnis aller Menschen, die am Leben bleiben. Wenn ich ihn ausbrennen könnte aus unsren Köpfen – ich hätte nicht umsonst gelebt. Achill. (Seite 12) Im weiteren Verlauf des Krieges wurden die Trojaner von der Amazonenkönigin Penthesilea und deren Kriegerinnen unterstützt. Penthesilea warf sich im Kampf auf Achill:
Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubt wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen – eine Frau! Dass sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nieder, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie ihn mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten [...]
Alle Amazonen kamen ums Leben, bis auf Myrine, die von Kassandra und anderen Trojanerinnen vor den Griechen versteckt wurde. Aineias lebt. Er wird von meinem Tod erfahren, wird, wenn er der ist, den ich liebe, sich weiter fragen, warum ich das wählte, Gefangenschaft und Tod, nicht ihn. Vielleicht wird er auch ohne mich begreifen, was ich, um den Preis des Todes, ablehnen musste: die Unterwerfung unter eine Rolle, die mir zuwiderlief. (Seite 107) Nach zehn Jahren Krieg stellten die Griechen ein großes Holzpferd vor die Stadtmauern und taten so, als würden sie die Belagerung beenden. Ich fürchtete das Schlimmste, nicht, weil ich den Plan der Griechen Zug um Zug durchschaute, sondern weil ich den haltlosen Übermut der Troer sah. Ich schrie, bat, beschwor und redete in Zungen. (Seite 152) Ungeachtet der Warnungen Kassandras zogen die Trojaner das Pferd herein. In der Nacht kletterten Odysseus und andere Griechen aus dem "Trojanischen Pferd", öffneten ihren Mitkämpfern die Stadttore und metzelten die Trojaner nieder. Als sie mich aus Angst vor Götterbildern später fragten: ob es denn wahr sei, dass Klein Aias mich an der Athene-Statue vergewaltigt hätte, habe ich geschwiegen. Es war nicht bei der Göttin. Es war im Heldengrab, in dem wir Polyxena zu verstecken suchten, die laut schrie und sang. Wir, ich und Hekabe, stopften ihr den Mund mit Werg. Die Griechen suchten sie, im Namen ihres größten Helden, des Viehs Achill. Und sie haben sie gefunden, weil ihr Freund, der schöne Andron, sie verriet. Gegen seinen Willen, brüllte er, aber was hätte er denn machen sollen, da sie ihn doch mit Tod bedrohten. Laut lachend hat Klein Aias ihn erstochen. Polyxena war auf einmal ganz bei Sinnen. Töte mich, Schwester, bat sie leise. Ach ich Unglückselige. Den Dolch, den Aineias mir am Ende aufgedrängt, hatte ich hochfahrend weggeworfen. Nicht für mich, für die Schwester hätt ich ihn gebraucht. Als sie sie wegschleiften, war Klein Aias über mir. Und Hekabe, die sie festhielten, stieß Flüche aus, die ich noch nie gehört hatte. (Seite 154) Die Überlebenden aus Troja wurden von den Griechen vor dem Ablegen der Schiffe am Strand zusammengetrieben. Marpessa, Kassandras treue Dienerin, ersparte ihrer Mutter – die Kassandras Amme gewesen war – das Los einer Sklavin, indem sie ihr einen Giftbecher reichte. Dann begleitete sie Kassandra und deren Kinder nach Mykene. |
Buchbesprechung:Die trojanische Königstochter Kassandra ist eine Außenseiterin in einem Staat, der sich zu Beginn des Trojanischen Krieges in ein Patriarchat verwandelt, in dem die Frauen nichts mehr zu sagen haben, sondern von den Männern wie Objekte behandelt werden. Unmittelbar vor ihrem Tod erinnert Kassandra sich an die Geschehnisse, schildert sie aus ihrer Perspektive und denkt über ihre Entscheidungen nach. Der Roman "Kassandra" von Christa Wolf besteht aus nichts anderem als dem gewaltigen Inneren Monolog einer Intellektuellen, die in einer Männergesellschaft für ihre Eigenständigkeit kämpft und lieber stirbt, als sich fremden Regeln zu unterwerfen. Kassandra weiß aber auch – nicht zuletzt aufgrund des Scheiterns der Amazonenkönigin Penthesilea – dass es falsch wäre, ins andere Extrem zu verfallen und eine Gesellschaft ohne Männer anzustreben. Aus diesem Grund geht Kassandra nicht in der Solidargemeinschaft der Frauen auf, die sich in die Höhlen am Ufer des Skamandros in den Ida-Bergen zurückgezogen haben.
Diese Frauengestalt der Zeitwende vom Matriarchat zum Patriarchat [...] zeichnet sich durch die Modernität ihres Bewusstseins aus, die immer wieder Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung ermöglicht. Seherin zu werden heißt für Kassandra nicht nur, den einzigen für Frauen damals denkbaren Beruf zu ergreifen, sondern stellt auch den Versuch dar, sich dem Zwang, von Männern zum Objekt gemacht zu werden, zu entziehen. Ihr "Ringen um Autonomie" lässt sie mit der mörderischen Logik von Töten und Sterben in der Vatergesellschaft brechen [...] Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Überwindung des "hierarchisch-männlichen Realitätsprinzips" ist Kassandras utopisches Vermächtnis [...]
Fühlt die Schriftstellerin Christa Wolf sich der Seherin Kassandra ähnlich, auf die niemand hört? Versucht Christa Wolf wie Kassandra vor einem Krieg zu warnen? Der Roman "Kassandra" entstand in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre, aber die Mahnung, keinen Krieg mit Lügen und Phantomen zu begründen, wirkt nach dem zweiten Krieg der USA gegen den Irak besonders aktuell. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Der Trojanische Krieg |