Julia Zange: Realitätsgewitter (Roman) |
Julia Zange: Realitätsgewitter |
Inhaltsangabe:
Marla ist Anfang 20. Vor einem halben Jahr verließ sie ihr Heimatdorf Burgen in Nordrhein-Westfalen und zog nach Berlin, um dort Philosophie zu studieren, aber damit hörte sie nach zwei Wochen wieder auf. Sie lebt von den monatlichen Überweisungen ihres Vaters, hat weder Ziel noch Perspektive, hängt herum und weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Die Sentimentalität der Weihnachtszeit hat ihn wohl dazu verleitet, mir einen festen Termin zu geben. Natürlich bedeutet das, dass ich zu ihm fahren muss. Er kommt nie zu mir. Ben D'Aiello ist Amerikaner. Nach dem Studium der Filmwissenschaft an einer Ivy-League-Universität zog er nach Berlin und fing an, mit Drogen zu dealen. Drei Jahre lang führte er einen Strip-Club. Inzwischen organisiert er sporadisch Privat-Partys für ebenso reiche wie gelangweilte Unternehmer, die auf Avantgardistisches mit Kunst und Techno abfahren. Er wohnt in einem Hochhaus. An der Klingel steht noch der Name des Vormieters: Faribah. Marla möchte mit ihm schlafen, aber er hat kein Kondom zur Hand. Also wühle ich durch meinen Rucksack, aber finde nichts außer einer Packung Aspirin Plus C. Wir kommen gleichzeitig, nebeneinanderliegend, die Hand zwischen den Beinen des anderen.
Nach einer Weile bringt Ben sie zur U-Bahn. Um nicht allein zu sein, fährt Marla in die Schwulenbar "Ficken 3000". Nathan, der Lover des DJ Lotus, begrüßt sie, und sie wechselt ein paar Worte mit Lorenz, den sie in einer Philosophie-Vorlesung kennenlernte, bevor sie ihr Studium beendete. Mein Vater hat sich sicherlich gedacht, dass es eine wirkungsvolle Methode zur Kontaktaufnahme sei, mir einfach kein Geld mehr zu überweisen. Notgedrungen tippt sie ins Smartphone: "Lieber Paps, frohes neues Jahr noch! Hast du vergessen, mir Geld zu überweisen?" Er schreibt zurück:
"Liebe Marla, wir, deine Mutter und ich, haben entschieden, dass du alt genug bist, deinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Außerdem sind wir weder mit deinem Lebensstil (dein Bruder hat uns einiges erzählt), noch mit deiner Umgangsweise uns gegenüber einverstanden. Beste Grüße, Mama & Papa
Wie soll Marla Geld verdienen? Als sie bei einem dänischen Modeladen ein Schild mit der Aufschrift "Aushilfe gesucht" entdeckt, bewirbt sie sich, wird jedoch nicht genommen. "Hey Marla. We are at Soho House. There's a free spot for you!" Dean nimmt die Gruppe anschließend mit in sein Airbnb-Apartment, aber Marla läuft Richtung Kreuzberg. Die letzte U-Bahn hat sie verpasst. Auf dem Smartphone liest sie eine Nachricht, derzufolge Forscher erstmals Gravitationswellen messen konnten. Die Nächte vergehen gleichförmig, die Tage verschlafe ich. Nach einer Künstlerparty im April 2016 erwacht Marla auf einer Bank am Paul-Lincke-Ufer und findet auf dem Smartphone eine Nachricht von ihrem Ex-Freund Leon vor: "Bin in Berlin." Sie fährt zu ihm. Ich komme, er nicht, weil ihn das Kokain der letzten Nacht beeinträchtigt.
Leon schluckt zwei Ibuprofen und eine Xanax, trinkt eine halbe Kanne Kaffee, raucht zwei Joints und bricht dann mit dem Auto auf. Er müsse am Bodensee etwas besorgen, sagt er. Notfalls stelle ich mir die CD einfach ins Regal.
Zurück in Berlin, wartet Marla vergeblich darauf, dass das Smartphone klingelt. Den ganzen Abend über bleibt es stumm, obwohl sie 1675 Facebook-Freunde hat. Als es am Sonntag endlich klingelt, ist es ihre Chefredakteurin, Frau Kirschmann. Das Magazin bekam soeben eine Zusage für ein Interview mit dem Life Extension Guru Helmut Bergdorf und seinem Geschäftspartner Patrick Grothe um 15 Uhr im Soho House. Marla fährt hin. "Ich komme aus dem IT-Bereich und ich bin gewöhnt, dass Probleme prozessorientiert gelöst werden. Warum nicht genauso prozessorientiert denken, wenn es um die menschliche Gesundheit geht? Geht man zu einem Automechaniker, will man ja auch ein einwandfreies Ergebnis. Und wenn Flugzeuge so gewartet werden würden wie der menschliche Körper von Ärzten, dann würden jeden Tag mindestens hundert abstürzen." Anlässlich des 90. Geburtstages ihrer Großmutter im Juli 2016 kehrt Marla erstmals nach einem Jahr ins Heimatdorf Burgen zurück. Ich habe eigentlich keine Lust, das Wochenende mit der Familie zu verbringen, aber einen neunzigsten Geburtstag kann man nicht einfach wegklicken.
Eine Amtstierärztin nimmt sie im Auto mit. Mein Bruder gründete mit vierzehn seine erste Firma, verdiente ein paar tausend Mark mit Aktienderivaten und las nur noch das Kleingedruckte der Financial Times, die er von seinem Taschengeld abonniert hatte. Nebenbei sammelte er relativ wahllos die Firmenberichte von Aktiengesellschaften, die er in seinem Zimmer stapelte. Sein Schulpraktikum absolvierte er mit sechzehn in einem Software-Unternehmen, das ihn ein Jahr später nach Kalifornien schickte, wo er Business-Beziehungen für das Lokal-Unternehmen aufbauen sollte. Dann arbeitete er ein paar Jahre in einem Start-up in den USA, welches es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Zufall aus der Welt zu schaffen und alle Handlungen prognostizierbar zu machen.
Lennart erzählt, dass er inzwischen auf einer Bergwachtstation in den französischen Alpen arbeite. "Ich glaube, ich muss einen kleinen Mittagsschlaf machen. Mit dieser neuen Praxis habe ich mir wirklich einen Klotz ans Bein gehängt. Aber ich denke, das ist mein Weg. Ich muss Menschen helfen. Man kann nicht die Augen vor der eigenen Mission verschließen." Als Marla Zweifel daran äußert, dass die Mutter sie überhaupt wahrnimmt, fährt Hilde sie an: "Das ist eine Unverschämtheit, Marla. Kaum bist du hier, sabotierst du schon wieder alles. Du bist ein undankbarer Teufel. Ich habe alles für dich getan." Vor Zorn fegt sie eine riesige Blumenvase von der Anrichte und schreit dann:
"Siehst du! Was du getan hast! [...] Marla schlägt ihrer Mutter ins Gesicht. Hilde tut so, als sei nichts gewesen. Ich zittere am ganzen Körper. Nicht weil ich sie geschlagen habe, sondern weil der Schlag überhaupt keinen Effekt hatte. Es ist ganz gleich, was ich tue, fällt mir auf einmal auf. Ich könnte ihr erzählen von all dem Schmerz in den letzten zwanzig Jahren, ich könnte ihr von der Einsamkeit, von den Albträumen, von den Bauchschmerzen, von der Hilflosigkeit, der Wut, den Schnitten, den Tränen, der Verzweiflung, der Leere, der Sprachlosigkeit, der Taubheit, den Pillen, den Krankheiten, den Fluchten, der Müdigkeit, der Angst, der Schlaflosigkeit erzählen, es würde nichts ändern. Obwohl die Mutter sie auffordert, das Haus zu verlassen, verkriecht Marla sich in ihr ehemaliges Kinderzimmer.
Auf dem Parkettboden liegt ein ausrangierter alter Orientteppich. Die Möbel wurden damals komplett im Möbelhaus gekauft. Birke Furnierholz Jugendzimmer. Es sieht auch nach Jahren aus wie neu gekauft, keine Kratzer, keine Spuren von Leben.
Als Marla wach wird und nach unten geht, sitzt der Vater schlafend vor dem Fernsehgerät. Er schlägt die Augen auf und sagt, Hilde übernachte wegen Marla in einem Hotel. "Ich wurde auf Sylt geboren, meine Eltern sind geschieden, mit zehn kam ich in ein Heim für schwererziehbare Kinder, da war ich sechs Jahre, dann habe ich eine Ausbildung gemacht als Landschaftsgärtner. Ich war aber nie kriminell oder so. Nur ein bisschen widerständig."
Seine Ex-Freundin, die ein Kind von ihm hat, lebt jetzt mit einem anderen Mann zusammen, aber sie kommen alle gut miteinander aus. |
Buchbesprechung:
"Realitätsgewitter" ist nicht nur ein Coming-of-Age-Roman über eine gestörte Eltern-Tochter-Beziehung, sondern Julia Zange porträtiert parallel dazu treffsicher die von der Ich-Erzählerin repräsentierte Generation. Marla hat ihr Smartphone immer dabei. Damit kommuniziert sie nicht nur, sondern kauft auch Tickets und knipst Selfies. Durch Social Networking und Verabredungen über Facebook versucht sie verzweifelt, sich über ihre Einsamkeit hinwegzutäuschen, aber wenn sie dann mit anderen zusammen ist, bleiben die Gespräche belang- und die Begegnungen bedeutungslos. Meistens reicht das gegenseitige Interesse nicht einmal für Sex. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Julia Zange: Die Anstalt der besseren Mädchen |