Juli Zeh: Unterleuten (Roman) |
Juli Zeh: Unterleuten |
Inhaltsangabe:UnterleutenDie Handlung spielt 2010 in dem brandenburgischen Dorf Unterleuten, eine Autostunde von Berlin entfernt. Die Bewohner müssen für Besorgungen nach Plausitz fahren. Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apotheke, keine Schule, keinen Bahnhof – es gab nicht einmal Kanalisation. Die Straßenbeleuchtung stammt noch aus DDR-Zeiten. Das einzig Neue ist eine 1998 gebaute Horizontalfilterbrunnenanlage, mit der die Wasserversorgung der Haushalte in Unterleuten vom Plausitzer Zweckverband abgekoppelt wurde. Einen Polizeiposten benötigt man in Unterleuten nicht, denn die Bewohner regeln ihre Angelegenheiten untereinander. Das Machtgefüge und Beziehungsgeflecht basiert auf einem Gefälligkeiten-Karussell. Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar. Denn so lautete die Definition von Macht: die Möglichkeit, in Zukunft etwas von einem anderen zu verlangen. Verblüffend ist die Unzuverlässigkeit des "Dorffunks". Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war. Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen. Die vermeintliche Idylle hat sowohl Linda Franzen und Frederik Wachs als auch Jule Weiland und Gerhard Fließ nach Unterleuten gelockt. Jule Weiland und Gerhard FließVor fünf Jahren, als Gerhard Fließ noch Soziologie-Professor an der Humboldt-Universität war, fiel ihm Jule Weiland in einem Seminar auf. Trotz der Skandalträchtigkeit einer Liebesbeziehung zwischen einem geschiedenen Professor und einer 20 Jahre jüngeren Doktorandin wurden sie ein Paar. Und sie beschlossen, von der Großstadt aufs Land zu ziehen. Am Rand von Unterleuten fanden sie ein Haus mit einem 5000 Quadratmeter großen Garten, das ihnen nicht nur gefiel, sondern auch günstig zu haben war. Gerhard Fließ wechselte von der Universität in Berlin zur Naturschutzbehörde in Plausitz und wurde Vogelschützer, unter anderem für 32 Kampfläufer in der Unterleutner Heide.
Die Angst, das urbane Leben zu vermissen, geriet bald in Vergessenheit, ebenso wie Jules Pläne, dreimal pro Woche in die Stadt zu pendeln, um eine Promotion über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens zu schreiben. Stattdessen stürzte sich Jule in die Aufgabe, die bröckelnde Idylle in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Während sich Gerhard in seine neue Rolle als Vogelschützer einfand und die Kollegen vom Naturschutz langsam überzeugte, dass ein habilitierter Soziologe vielleicht überqualifiziert, aber nicht komplett unfähig war, rodete Jule in abgeschnittenen Jeans und verschwitztem T-Shirt den Garten mit einer Sense.
Seit Jule vor sechs Monaten die Tochter Sophie gebar, kreist ihr Denken und Handeln um das Baby, das sie alle paar Stunden stillt.
Er hatte den Vogelschützern nichts getan. Sie hätten herüberkommen können und mit ihm reden. Stattdessen schickten sie einen Sakkoträger vom Bauamt, der ihm die Sanierung der Scheune verbot. Statisches Gutachten! Dass er nicht lachte! Schaller hatte sein Leben lang Dinge repariert, Häuser, Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen. Das war nun einmal der Lauf der Welt: Sachen gingen kaputt und mussten repariert werden. Was er dafür gewiss nicht brauchte, war eine Genehmigung. Linda Franzen und Frederik Wachs
Linda Franzen und Frederik Wachs kamen aus Oldenburg nach Unterleuten. Frederik studierte Informatik. Sein jüngerer Bruder Timo und dessen Freund Ronny gründeten im Alter von 17 Jahren die Firma Weirdo, um das von ihnen entwickelte Computerspiel zu vermarkten. Sie hatten Frederik eingeladen, der dritte Mitinhaber zu werden, aber er glaubte nicht an den Erfolg – bis die Einnahmen sprudelten. Daraufhin brach er sein Studium ab und ließ sich von Weirdo als Entwickler einstellen. Vor drei Jahren verlegte das Unternehmen seinen Sitz nach Berlin, und Frederik musste Oldenburg verlassen, wenn er seinen Job nicht verlieren wollte.
Sehr geehrte Frau Franzen, Durch die Vogelschützer lässt Linda sich nicht entmutigen. Sie gibt ihr Vorhaben nicht auf. Bodo SchallerBodo Schaller betrieb eine Werkstatt in Niederleusa, 15 Kilometer von Unterleuten entfernt, bis er am 3. November 2008 mit dem Motorrad verunglückte. Er prallte gegen ein Auto, das aus einem Forstweg auf die Straße einbog. Der Fahrer beging Unfallflucht und konnte nicht ermittelt werden. Nach 25 Tagen im künstlichen Koma kam Bodo Schaller in einer Berliner Klinik wieder zu sich. Dass er sich an nichts mehr erinnern konnte, erklärten die Ärzte mit einer retrograden Amnesie. Seine Tochter Miriam besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus. Von ihr erfuhr er schließlich, dass seine Frau Susanne sofort nach dem Unfall mit Miriam nach Berlin gezogen war. Als er nach Hause kam, tauchte ein Immobilienmakler mit Kaufinteressenten auf.
Schaller hatte nicht einmal gewusst, dass sein Haus zum Verkauf stand. Auch nicht, dass es gar nicht sein Haus war, weil nur Susanne im Grundbuch stand. Vor einem Jahr verschaffte Gombrowski ihm den Hof in Unterleuten. Gelegentlich fragte sich Schaller, was einen Mann wie Gombrowski veranlassen konnte, ihm ohne Zögern ein Haus zu schenken. Rudolf GombrowskiRudolf Gombrowskis Vater hatte 250 Hektar Land in der Umgebung von Unterleuten bewirtschaftet, aber nach der Gründung der DDR galt er als Klassenfeind. "Junkerland in Bauernhand", lautete die Forderung. Als der Sohn Rudolf 13 Jahre alt war, zündeten Kommunisten den Kornspeicher an. Damals hatte das Feuer im Kornspeicher auf mehrere Nebengebäude übergegriffen und die halbe Ernte vernichtet. Die ganze Nacht waren [Rudolf] Gombrowskis Eltern und ihre Leute im Einsatz, um die Tiere zu evakuieren und zu verhindern, dass die Flammen das Dorf erfassten. Danach hatte der Vater kapituliert. Am 2. April 1960 brachte er 170 Hektar Land sowie sämtliche Maschinen in eine LPG ein, die "Gute Hoffnung" genannt wurde. Drei Jahre später starb Rudolf Gombrowskis Vater. Der Junior fing 1971, nach dem Landwirtschafts-Studium, in der LPG "Gute Hoffnung" zu arbeiten an. Der überzeugte Kommunist Kron, der 1960 als 20-Jähriger zu den Aufwieglern gehört hatte, war dem Neuling um zehn Arbeitsjahre voraus, aber Gombrowski überholte ihn auf der Karriereleiter und löste ihn zu Beginn der Achtzigerjahre als Vorsitzenden ab. Nach der Wiedervereinigung verhinderte Gombrowski die Liquidation der LPG und Verschleuderung des Bodens an Spekulanten, indem er die Ökologica GmbH gründete und die alleinige Geschäftsführung übernahm. Die Ökologica GmbH hat sich inzwischen um Unterleuten verdient gemacht.
Sie betrieb Kindergarten, Erholungsheim und ärztlichen Versorgungsdienst. Sie hatte sich um Instandhaltung der Straßen, Leerung der Sammelgruben und Beleuchtung des öffentlichen Raums gekümmert. Elena GombrowskiVor 40 Jahren heirateten Rudolf Gombrowski und Elena Niehaus. Ihre Tochter Püppi hat das ihr verhasste Dorf Unterleuten längst verlassen. Sie lebte in Freiburg, wo sie auf Gombrowskis Kosten an der "von euch am weitesten entfernten Universität der Republik" ein ebenso langwieriges wie hochnäsiges Studium durchgeführt hatte. Weil es mit ihrem Doktortitel in Klugscheißerei nur zu einer halben Assistentenstelle reichte, hatte Gombrowski ihr eine Wohnung gekauft. Trotz allem besaß sie die Dreistigkeit, es peinlich zu finden, dass das Geld, von dem sie lebte, mit Mähdreschern und Melkmaschinen verdient wurde. Hilde Kessler
Rudolf Gombrowski wurde eine Liebesbeziehung mit Hilde, der Hauptbuchhalterin der LPG, nachgesagt. Die heiratete überraschend Erik Kessler von der Erntebrigade, aber als sie bald darauf die Tochter Betty gebar, gingen alle davon aus, dass Gombrowski sie geschwängert und daraufhin die Eheschließung organisiert habe. Gott hatte Spaß daran, Hilde und mich ein paar Jahre zu spät miteinander bekannt zu machen, obwohl er ganz genau wusste, dass wir füreinander bestimmt waren. Stattdessen waren wir dann beide mit der falschen Person verheiratet. Aber man betrügt seine Familie nicht. KronEbenso wie die Gombrowskis gehören die Krons zu den Familien in Unterleuten, die schon seit Generationen hier leben, aber die einen waren Groß- und die anderen Kleinbauern. Krons Frau verließ ihn und die Tochter kurz nach Kathrins zweitem Geburtstag; sie setzte sich in den Westen ab. Damit wurde Kron zum ersten und bislang einzigen alleinerziehenden Vater in Unterleuten. Neben seiner Arbeit in der LPG erledigte er den Haushalt, kochte, putzte, wusch die Wäsche. Die Tage verbrachte Kathrin bei Barbara im Kindergarten.
Während des Gewitters am 3. November 1991, bei dem Erik Kessler ums Leben kam, wurde Krons rechtes Bein zertrümmert. Kathrin war damals 15 Jahre alt. Seither hat Kron keine Arbeit mehr, und die Invalidenrente reicht vorne und hinten nicht. Aber als Gombrowski ihm ein Stück Wald überschreiben wollte, lehnte er die Schenkung ab. Dass sich die geplante Auswanderung in einen Kurzbesuch verwandelte, lag nicht an der fremden Frau, die sie auf dem Düsseldorfer Bahnsteig abholte. Auch nicht an dem gesichtslosen Mann am Steuer eines Sportwagens, auf dessen Rückbank Kathrin mit angezogenen Knien kauerte. Schuld trug das hellgrüne Reihenhaus in einer Vorortsiedlung, das auf einem mit Buchsbaum bepflanzten Handtuch stand. Kathrin studierte Medizin und kehrte dann mit ihrem Ehemann Wolf Hübschke, einem erfolglosen Dramatiker, nach Unterleuten zurück. Obwohl sie in Westdeutschland ein höheres Gehalt bekommen hätte, begnügte sie sich mit einer Stelle am Krankenhaus in Neuruppin, als Pathologin, weil sie geregelte Arbeitszeiten und ein Leben ohne Nachtschichten schätzt. Die Familie Kron-Hübschke wohnt in Unterleuten neben dem Bürgermeister Arne Seidel, aber zweimal pro Woche schaut Kathrin nach ihrem Vater im Jagdhaus. Kathrin und Wolf haben eine fünfjährige Tochter, die sie "Krönchen" nennen. Arne Seidel
Arne Seidel hatte nach dem Studium als Veterinär-Ingenieur in der LPG "Gute Hoffnung" zu arbeiten angefangen und war 1979 nach Unterleuten gezogen. Barbara, die den Kindergarten der LPG betreute,
Windräder
Der Bürgermeister hat die Bewohner von Unterleuten zu einer Dorfversammlung in die einzige Gaststätte eingeladen, in den "Märkischen Landmann". Ein junger Mann in Jeans und Sakko kommt mit einem Beamer dazu. Arne Seidel stellt ihn als Herrn Pilz aus Freudenstadt vor und fügt hinzu, er werde im Auftrag der Vento Direct GmbH über erneuerbare Energien sprechen. Den Vortrag über den Bau von Windrädern hielt Pilz im letzten halben Jahr bereits in 40 Dörfern. Protest ist er gewohnt; er zielt nicht auf Zustimmung ab, sondern auf Resignation. Hier hat er es auf ein Eignungsgebiet von etwa achtzehn Hektar abgesehen, das als Schiefe Kappe auf der Plausitzer Höhe bekannt ist.
Wenn auf der Anhöhe im Westen ein Windpark stünde, wäre Gerhards Haus, für dessen Sanierung er sich bis an sein Lebensende verschuldet hatte, keinen Pfifferling mehr wert. Pilz, der weiß, dass die Gemeindekassen leer sind, führt aus, dass Unterleuten durch einen Windpark mit 200 000 Euro Gewerbesteuer rechnen könne. Dazu kämen für den Eigentümer des Grundstücks pro Windrad 15 000 Euro pro Jahr, und zehn Windräder seien geplant. "Außerdem fühlt sich die Vento Direct traditionell für ihre Standorte verantwortlich. Wir engagieren uns für lokale Belange. Spenden für die Feuerwehr gehören ebenso dazu wie die Unterstützung von Sportvereinen und Kindergärten."
Für den Windpark wäre eine Mindestfläche von zehn Hektar erforderlich. Gombrowski und ein bayrischer Spekulant besitzen auf der Schiefen Kappe jeweils acht Hektar, Kron zwei, und zum Grundstück des Ehepaars Linda Franzen und Frederik Wachs gehören weitere zwei Hektar. Die zwei Hektar im Nirgendwo waren gemeinsam mit Objekt 108 veräußert worden, als kläglicher Rest eines Grundbesitzes, der einst zur Villa gehört haben mochte. Ein "Gimmick", wie der Makler es genannt hatte, zu weit weg vom Dorf.
Aber es dauert nicht lang, bis Linda begreift, welche Bedeutung ihr kleines Areal für die Besitzer der beiden größeren Grundstücke auf der Schiefen Kappe hat. Konrad Meiler
Bei Konrad Meiler handelt es sich um einen schwerreichen Unternehmer in Ingolstadt, der das Grundstück auf der Schiefen Kappe erst kürzlich als Teil eines insgesamt 250 Hektar großen Gebiets für 2,5 Millionen Euro ersteigerte, einfach, weil er das Geld übrig hatte und mit einer mittel- oder langfristigen Wertsteigerung rechnete.
"Also, Frau Franzen", sagte er. "Zwei Hektar am Waldrand gegen vier Hektar direkt im Dorf. Eigentlich müssten Sie mir den Wertunterschied ausgleichen, aber ich weiß ja, wie stark Sie mit der Sanierung Ihres großen Hauses belastet sind. Was sagen Sie?" Konrad Meiler bleibt nichts anderes übrig, als auf Linda Franzens Forderung einzugehen: ein Tausch der unterschiedlich großen Grundstücke und 50 000 Euro obendrein. Geschäftsabschluss
Sobald Gerhard Fließ seine Einwände gegen Linda Franzens Pläne schriftlich zurückgenommen und sie die Baugenehmigungen bekommen hat, ruft sie Gombrowski an und erklärt ihm, sie könne nicht wie geplant an ihn verkaufen, denn sie habe Todesdrohungen von Gegnern des Windparks erhalten. Tatsächlich fand sie einen Handschuh mit abgeschnittenem Mittelfinger, eine Puppe ohne Kopf und andere Warnungen, die sie zwar nicht ernst nimmt, die ihr jedoch als vorgeschobenes Argument ins Konzept passen. Gombrowski durchschaut zwar den Betrug, kann aber nichts unternehmen. In nur vier Wochen hatte sie es geschafft, die wichtigsten Zutaten für ihre Zukunft zu organisieren, vier Hektar Weideland hinter dem Haus, eine schriftliche Erlaubnis der Vogelschützer, dort Zäune zu bauen, eine Baugenehmigung sowie 50000 Euro für die Sanierung der Ställe. Sie bringt zwar ihren von der Aussicht auf die Feindschaft der Bewohner von Unterleuten entsetzten Ehemann dazu, als Erster zu unterschreiben, aber danach verlangt er von ihr die Autoschlüssel und fährt ohne sie nach Unterleuten zurück. Unterwegs fällt ihm ein an seinem Heck klebender und nicht überholender Kastenwagen auf. Das Gefühl, verfolgt zu werden, tut er als paranoid ab, aber als ihm in einer ohnehin gefährlichen Kurve ein Traktor entgegenkommt, ahnt er, dass Gombrowski von dem Geschäftsabschluss erfahren hat und der Anschlag eigentlich nicht ihm, sondern seiner Frau gilt. Ein Kind wird vermisst
Eines Abends vermisst Kathrin ihre Tochter. Verzweifelt läuft sie von Tür zu Tür und bittet die Dorfbewohner, nach Krönchen zu suchen. Gerhard Fließ dirigiert die vergebliche Suchaktion mit Taschenlampen im Wald. Er geht davon aus, dass Krons Enkelin entführt wurde und verdächtigt dessen Feind Gombrowski als Drahtzieher. Allerdings, so mutmaßt Gerhard Fließ weiter, werde das Opfer anderswo versteckt, und er glaubt auch zu wissen, wo: auf Schallers Hof. Als er dort nachsehen will, wirft Schaller mit Schrauben nach ihm und verjagt ihn. Der Bürgermeister alarmiert die Polizei und hofft, dass er die Männer, die Gombrowskis Hof stürmen wollen, noch bis zum Eintreffen des Streifenwagens zurückhalten kann . "Ich war außer mir. Was auch immer passiert wäre, ich hätte es nicht gewollt." Drei Frauen verlassen Unterleuten
Am Morgen des 29. Juli 2010 holen Tierfänger aus Neuruppin gegen Hilde Kesslers Willen zwei Dutzend Katzen aus ihrem stinkenden Haus und transportieren die Tiere ab. Die verstörte alte Frau wird gleich darauf in ein Altersheim gebracht.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Die Vorgeschichte
Kron bekämpfte 1991 erbittert Gombrowskis Absicht, die LPG "Gute Hoffnung" in die GmbH "Ökologica" zu überführen. Er wollte kein von Gombrowski geführtes Privatunternehmen, sondern eine Genossenschaft und strebte die Gründung einer "Agrar Unterleuten e. G." an. Gombrowski bot seinem Widersacher damals ein Stück Forst als Gegenleistung für dessen Nachgeben an und bestellte ihn am 3. November 1991 in den Wald. Vorsichtshalber nahm Kron den Erntehelfer Erik Kessler mit. Als sie auf der vereinbarten Lichtung ankamen, begann ein Gewitter. Anstelle von Gombrowski tauchte Bodo Schaller auf, offenbar mit dem Auftrag, Kron einen Denkzettel zu verpassen. Im selben Augenblick war ein ohrenbetäubender Knall zu hören; ein dicker Buchenast brach ab und traf Erik Kessler. Statt sich um ihn zu kümmern, stürzte sich Kron in blinder Wut auf Schaller, obwohl dieser viel stärker war und eine Eisenstange mitgebracht hatte. Schaller schlug den Angreifer nieder und zertrümmerte mit der Eisenstange das rechte Bein des am Boden Liegenden. Rudolf GombrowskiNachdem Rudolf Gombrowski durch eine SMS der Tochter erfahren hat, dass Elena bei ihr in Freiburg ist, geht er am 11. August 2010 zu Fuß zu dem 1998 gebauten Brunnen. Weil er den Öffnungscode kennt, kann er die Anlage problemlos betreten, den schweren Einstiegsdeckel anheben und in den 20 Meter tiefen Schacht hinabsteigen. Über der Wasseroberfläche schneidet er sich die Pulsadern auf. Von nun an würde der Brunnen Tag für Tag Gombrowski fördern, sämtliche Körpersäfte und Substanzen in allen Phasen organischer Zersetzung, und Unterleuten würde Gombrowski trinken, essen und sich mit ihm waschen, während die Polizei nach seinem Verbleib fahndete. Bis man im Rahmen der nächsten Wartung eine Wasserprobe nehmen und einen aufgeschreckten Techniker die Leiter hinabschicken würde. Lucy FinkbeinerDie Journalistin Lucy Finkbeiner liest bei Spiegel Online, dass in einem Dorf der Ostprignitz die Leiche eines 63-jährigen Landwirts aus einem Horizontalfilterbrunnen geborgen wurde. Am nächsten Tag fährt sie nach Unterleuten und hört sich drei Stunden lang in der Gaststätte "Märkischer Landmann" um. Windkraftanlagen sollten gebaut werden, ein junger Mann war bei einem Autounfall gestorben, ein älterer nach tätlichem Angriff ins Krankenhaus eingeliefert worden, eine Pferdefrau und eine Vogelfrau hatten das Dorf verlassen, es war zu einer Verhaftung gekommen, die Frau des Selbstmörders war verschwunden, ebenso wie ihr Hund, und einer gewissen Hilde waren zwanzig Katzen abhanden gekommen, weshalb sie ebenfalls nicht mehr in Unterleuten lebte.
Die Redaktion meint zwar, das sei kein Stoff für einen Artikel, sondern für einen Roman, aber Lucy Finkbeiner recherchiert, bis die transkribierten Interviews 20 Aktenordner füllen. |
Buchbesprechung:Das fiktive Dorf Unterleuten stellt einen komplexen, die Gesellschaft repräsentierenden Mikrokosmos dar. Auf diese Weise veranschaulicht Juli Zeh in ihrem sozialkritischen Dorfroman "Unterleuten" große Konflikte und Zeitfragen. Es geht um DDR-Geschichte (Zwangskollektivierung, Stasi-Bespitzelung, Republikflucht, Wende), Vergangenheitsbewältigung, Eheprobleme, Egozentrik, virtuelle Realität, Stadtflucht, naive Idealisten, Naturschutz und erneuerbare Energien, Spekulanten, Manipulation und Konfliktmanagement, Machtmissbrauch, Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft, Unrecht. Die damit verbundene Kapitalismuskritik bettet Juli Zeh in die Handlung ein und trägt sie zwischendurch auch in treffsicheren Formulierungen vor:
Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpasssungsfähigkeit verwandelt.
Juli Zeh wechselt von Kapitel zu Kapitel die Perspektive (und verwendet die Namen der Figuren als Überschriften). Dadurch wird das Bild immer wieder relativiert und ergänzt. Auf diese Weise durchschauen wir als Leser Irrtümer und Selbsttäuschungen der Figuren; wir erleben, wie sich einige aufgrund von Fehleinschätzungen vergaloppieren. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Juli Zeh: Adler und Engel |