Meine Freunde, die Russen oder Der Gürtel der Melancholie
Wovon reden wir, wenn...
Ziemlich bombastisch, der Titel dieses internationalen Symposions, das dann, wie sich herausstellte, in recht intimem Kreise stattfand. Creating the World Literature: Diaspora, Trans-ethnicity, and Language Struggle. Vow! Daran nehme ich also teil, an der Schöpfung der Welt, sprich: der Literatur. Wahrscheinlich hat man mich eingeladen, weil ich in allerhand Ländern gelebt habe. Den sogenannten Erfahrungen von Schriftstellern leiht man gern mal ein Ohr. Ich wollte und will jetzt aber nicht von mir selbst reden, obwohl ich so viele Jahre in einer persönlichen Diaspora – da haben wir schon die erste contradictio in adjecto! – verbracht habe, mit Argentinien und Japan als Antipoden. Ich spreche lieber von anderen.
Rivalen
Es war im Jahr 2012, als ich Olga Martynova kennenlernte, eine in Rußland geborene Dichterin und Erzählerin, die seit den frühen neunziger Jahren in Deutschland lebt. Der Rahmen unserer Begegnung waren die sogenannten Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, ein Event mit starker Beteiligung von Massenmedien, was die zum Wettbewerb geladenen Autoren unweigerlich zu Rivalen macht. Nachempfinden kann man dies etwa, wenn man in Wolfgang Herrndorfs Blog sechs Jahre nach den Ereignissen liest: „Mir schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte.“1 Trotz der unvermeidlichen (?) Rivalität verstand ich mich mit einigen von ihnen auf Anhieb recht gut. Nachdem ich meinen Beitrag gelesen hatte, eine Erzählung mit dem knappen Titel Aki, bemerkte eines der Jurymitglieder (weiblichen Geschlechts), sie habe eigentlich eine in Japan spielende Geschichte erwartet. Leider mußte ich sie enttäuschen: Die Hauptfigur ist ein oberösterreichischer Bursche, der in einem Dorf irgendwo zwischen Salzburg und Sankt Pölten aufwächst. Schon im zweiten Satz der Erzählung fällt das Wort „Schilling“ – die frühere österreichische Währung (auch „Groschen“ gab es), so daß über den Schauplatz kein Zweifel bestehen sollte. Als schließlich über den Bachmann-Preis entschieden wurde, zeigte sich dieselbe Kritikerin zufrieden, daß eine nicht-deutsche, in deutscher Fremdsprache schreibende Autorin die Auszeichnung erhielt. Tatsächlich hatte schon 1991 Emine Sevgi Özdamar, die in der Türkei aufwuchs und eines Tages auf Deutsch zu schreiben begann, den Bachmann-Preis gewonnen, und zwar mit der Erzählung Mutterzunge. Auch in den Jahren unmittelbar vor und nach Olga Martynovas Auftritt in Klagenfurt erhielten Autorinnen, die Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache gebrauchen, den Hauptpreis der Veranstaltung: Maja Haderlap bzw. Katja Petrowskaja. Es sieht so aus, als wären Migrationshintergrund und Sprachwechsel im Literaturbetrieb heutzutage eher einen Vorteil als ein Hindernis.
Migrationshintergründe
Oft habe ich bemerkt, daß Autoren, die zu dieser Gruppe gehören, es ablehnen, unter Gesichtspunkten wie Migration, Exil und Fremdsprache beurteilt zu werden. Sie möchten als vollwertige Schriftsteller ohne derlei Klassifizierungen wahrgenommen werden, und bewertet allein aufgrund der literarischen Qualität ihrer Arbeiten. Gleichzeitig glaube ich bei Literaturkritikern und -wissenschaftlern eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber ästhetischen und poetischen Kriterien zu bemerken, vielleicht auch eine Unfähigkeit, solche Wertungen, die sie stillschweigend den Rankings der Medien und des Massengeschmacks überlassen, aus eigenständigen Überlegungen heraus vorzunehmen. Auf meine Frage, wann und warum sie begonnen habe, auf Deutsch zu schreiben, antwortete Olga Martynova: „Ich habe mit dem Essayschreiben auf Deutsch angefangen. So entwickelte sich diese Sprache für mich als Prosasprache. Davor, auf Russisch, hatte ich meistens Gedichte geschrieben. Im Grunde ist es mir egal, in welcher Sprache ich schreibe. Der Ablauf ist derselbe. Der Zustand ist 'schreiben' und nicht 'Deutsch schreiben' oder 'Russisch schreiben'.“
Eine Literatenfamilie
Durch Olgas Romane geistert ein jüdisch-russischer Dichter namens Fjodor Stern. In Mörikes Schlüsselbein erfahren wir, daß er „deutsche Wurzeln“ hat, und in Sogar Papageien überleben uns hören wir ihn sagen: „Weißt du, ich habe das Meine schon getan, ich schreibe keine Gedichte mehr, ich schreibe Prosa.“ Diese Bemerkung paßt auf Oleg Jurjew, der seine literarische Laufbahn in Rußland als Dichter begann, sich aber mehr und mehr verschiedenen Prosa-Genres zuwandte, nachdem er nach Deutschland übersiedelt war. Der Auswahlband In zwei Spiegeln, vor zwei Jahren in Salzburg erschienen, spiegelt Olegs Entwicklung als Poet. Er enthält einige Beispiele aus seiner frühen Produktion in der Spätphase der Sowjetunion (Ära Gorbatschow) und viele Gedichte neueren Datums, läßt aber eine große Lücke in den neunziger Jahren. Oleg ist Olgas Mann, sie leben zusammen und teilen literarische Projekte, etwa die im Buch Zwischen den Tischen veröffentlichte Serie von „essayistischen Dialogen“ oder die Herausgabe einer Sammlung von „inoffizieller Literatur“ aus Leningrad 1960-1980 für die Zeitschrift Schreibheft. Als ich Olga 2013 in Bamberg besuchte, wo sie ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Concordia genoß, war ich überrascht von der sehr speziellen Gemeinschaft, die die Jurjews bilden – eine Familie, in der die Literatur einen zentralen Platz einnimmt.
Olga Martynova, Oleg Jurjew, Moskau 2005, Foto: privat
Ich spreche von drei, nicht von zwei Personen. In Bamberg lernte ich Oleg Jurjew kennen und auch Daniel, den Sohn der beiden, 1988 in Leningrad geboren, aber seit 1990 in Deutschland aufgewachsen. Ein Teil meines Staunens war bedingt durch das starke Interesse Daniels an Literatur, seine große Neugier (zum Beispiel in Bezug auf die japanische Sprache und Kultur, die er an der Frankfurter Universität studiert), seine Fähigkeit, an intellektuellen Diskussionen teilzunehmen. Inzwischen hat er sein erstes Buch veröffentlicht, eine Übersetzung von Wsewolod Petrows Kurzroman Die Manon Lescaut von Turdej, begleitet von einem Stellenkommentar aus Olgas Feder und einem höchst aufschlußreichen Nachwort von Oleg. Das Buch ist nicht nur das Ergebnis, sondern auch eine perfekte Veranschaulichung der zweisprachigen, bikulturellen Gemeinschaft dieser Drei. Im Übrigen hatte Daniel schon an der sicher nicht einfachen Arbeit, Olegs russische Gedichte ins Deutsche zu übersetzen, teilgenommen, neben anderen Helfern, von denen an erster Stelle Elke Erb zu nennen ist, die in der DDR aufgewachsenen Dichterin, die ich mir als literarische Patin innerhalb des Jurjew-Martynowa-Projekts vorzustellen erlaube.
Oleg Jurjew, Olga Martynova, Daniel Jurjew, Foto: privat
Bedingt durch die Umstände meiner eigenen geistigen Entwicklung in den sechziger und siebziger Jahren war ich überzeugt gewesen, daß Kunst, besonders, wenn sie auf Neuerung bedacht ist, nur aus Kämpfen und Brüchen heraus entstehen kann – der berühmte Generationenkonflikt. Die wenigen Tage, die ich mit meinen russischen Freunden verbrachte, haben mich davon überzeugt, daß Kreativität auch in einem Klima von Kommunikation und Zusammenarbeit gedeihen kann (und vielleicht sollte), nicht ausschließlich durch Kämpfe. Unbewußt hatte ich nach solchen Modellen zu suchen begonnen, seit ich selbst Vater geworden war und mich dadurch fast zwangsläufig von jenem Generationenkonflikt hatte verabschieden müssen, den ich einst durchlebt hatte. Allseits bekannt sind die Beispiele von Musikerfamilien wie den Bachs, Mozarts und Strauss', aber in der Musik, hatte ich mir gedacht, ist die Bedeutung erblicher Fähigkeiten, welche die Generationen zusammenschweißen, besonders groß.
In dieser Art von Hoffnung war ich auch zu einem Fan der Wainwright-Familie geworden. Nachdem ich in den frühen siebziger Jahren während eines Sommeraufenthalts in den USA Loudon Wainwright III. entdeckt hatte, begann ich nun die Kunst seines (und Kate McGarrigles) Sohns Rufus (der genau damals, im Sommer 1973, geboren wurde) und, sogar noch mehr, obwohl sie weniger berühmt ist, seiner Tochter Martha zu schätzen. Ich halte dafür, daß die Wechselfälle und Probleme der Beziehungen zwischen den Generationen mindestens ebenso bedeutsam und interessant sind wie die kulturellen Folgen der massiven globalen Migration, deren Zeugen wir seit einigen Jahrzehnten sind – ein Phänomen, das früher oder später abklingen und vielleicht ganz verschwinden wird, wohingegen die Frage der Überlieferungsströme zwischen den Generationen an Bedeutung gewinnen wird, auf mehreren Ebenen, nicht zuletzt auf der pädagogischen.
Vermittlungen
Ich möchte nun Olegs Antwort auf meine Frage bezüglich des literarischen Gebrauchs der deutschen Sprache zitieren. „Im Unterschied zu Olga hatte ich so gut wie keine Wahl, ich hatte bereits nicht nur Gedichte, sondern auch Prosa und Theaterstücke auf Russisch geschrieben, als wir uns plötzlich in Deutschland wiederfanden. Als wurde für mich das Deutsche eine Art technische Sprache – für Zeitungstexte meistens. Aber alles ändert sich. Ich habe ein kleines Buch mit Prosagedichten auf Deutsch geschrieben, jetzt möchte ich ein längeres Buch machen. Aber grundsätzlich verbleibe ich doch ein russischer Autor.“ Von Olegs Standpunkt aus ist die Sprache nicht entscheidend für die Frage, welcher – nationalen? – Literatur er zugehört. Entscheidend sind, so verstehe ich seine Stellungnahme, Prägungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Entscheidungen, die zum größeren Teil weit in die eigene, d. h. russische Biographie zurückreichen. Dennoch hat der Dichter mit den Sprachen, in und zwischen denen er lebt, zu kämpfen. In ihrem Nachwort zu Olegs Gedichtband In zwei Spiegeln schreibt Ilma Rakusa, gewisse Nuancen könne man nur im russischen Original erfassen, die Übersetzung tue sich da schwer, genauso schwer wie mit Versmaß und Reim. Selbst wenn man nicht Russisch kann und mit der kyrillischen Schrift unvertraut ist, erlaubt einem die zweisprachige Ausgabe die Feststellung, daß die Originale zumeist Reime oder ähnliche Assonanzen enthält. Elke Erb hat offenbar versucht, dafür im Deutschen Entsprechungen zu schaffen; Gregor Laschen und Daniel Jurjew verzichten weitgehend auf solche Versuche. Dennoch fiele es mir schwer, diesen oder jenen Übersetzungen den Vorzug zu geben. Es stimmt, was Ilma Rakusa schreibt, Oleg Jurjew ist ein Dichter des Auges, und er flicht melancholische Untertöne in seine Texte, Andeutungen eines schwer zu benennenden Mangels, doch am Ende obsiegt seine Hommage an die Sinne, eine Akrobatik des Wahrnehmens und Dekomponierens und Rekomponierens, bei der ein desillusionierter Humor seinen Platz hat. Aber diese besondere Haltung bahnt sich, unterstützt von den genannten Helfern, durch die Sprachen hindurch einen Weg des Ausdrucks.
Und die poetischen Eigenschaften finden sich in Olegs Gedichten ebenso wie in seinen kurzen Prosastücken, etwa in den russisch geschriebenen Spaziergängen unter dem Hohlmond, mit all den ramponierten und doch irgendwie an sich haltenden Figuren, und zuletzt auch in den deutsch geschriebenen Einzingermotti, einer kleinen Hommage an den österreichischen Dichterkollegen Erwin Einzinger, wo sich u. a. folgender Absatz findet: „Und es gibt auch die Sprachen, die längst ausgestorben sind, man spricht sie lediglich aus Unkenntnis dessen: Man füllt die immer breiter werdenden Sprachlakünen mit sinnlosen Lautkombinationen – so ist das Russische.“ Absurdes Gestammel, das wäre die postsowjetische Sprache? Oder Sprache überhaupt? Vielleicht, aber aus den Lücken zwischen den Trümmern fliegen Scharen von Bildern wie schillernde Vögel auf, dann jedenfalls, wenn der Dichter ans Werk geht. „Deshalb werden da oben die Möwen (und die Dichter) nie ausgehen – sie ernähren sich ja von eigenen Schatten.“ (Ornithologisch, noch ein Einzingermotto)
Interessant, daß Olegs Sohn Daniel deutlich zwischen dem mündlichen und dem schriftlichen Gebrauch der beiden Sprachen unterscheidet. Er meint, daß seine schreiberischen Fähigkeiten im Deutschen besser seien als im Russischen, wiewohl er beide Sprachen als Muttersprachen betrachtet, insofern beide von Anfang an gegeben waren, zwei Ursprachen sozusagen (um jenen von Herder geschmiedeten, stammesgeschichtlich gedachten Begriff auf die Individualbiographie anzuwenden). Da er in einer Literatenfamilie aufwuchs, „lag die literarische Übersetzertätigkeit natürlich nahe“. Übersetzen ist wesentlich eine Tätigkeit des Vermittelns, die aber auch schöpferische Fähigkeiten erfordert, wenngleich die Bedeutung des Schöpferischen – man könnte auch sagen: des Erfindens – begrenzt ist im Vergleich zum Schreibakt ohne jede Vorgabe. Die Manon Lescaut von Turdej, Daniels erste größere Übersetzung, beschreibt eine fiktive, aber historisch genau definierte Gemeinschaft von Soldaten, Sanitätern und Krankenschwestern, die in einem Zug, bestehend offenbar aus Vieh- oder Güterwaggons, während des zweiten Weltkriegs kreuz und quer durch Rußland fahren.
Lazarettzugbilder
Der Roman wurde kurz nach dem Krieg geschrieben, aber erst sechzig Jahre später in einer russischen Zeitschrift veröffentlicht, und Daniels Übersetzung erschien erst unlängst in einem deutschen Verlag. Die Lektüre hat meine Vorstellung von diesem Krieg und von den Mikrostrukturen der sowjetischen Gesellschaft verändert, und zugleich hat sie meinen Horizont in Hinblick auf die Vielfalt erotischer Beziehungen erweitert.
Im Unterschied zur Arbeit des Übersetzers beschränken sich Olgas und Olegs Bücher nicht auf die Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kulturen, die russische und die deutsche, aber dennoch kann man sagen, daß Vermittlung als solche einen wesentlichen Anteil ihrer Texte ausmacht. Der kulturelle Transfer kann zur Substanz von Romanen, Essays und sogar von Gedichten werden, zum Beispiel im Fall von Martynovas Wwedenskij. (Eine Untersuchung in Versen). Olga und Oleg haben viel getan, um die Werke und die ganze literarische Strömung der Oberiuten im deutschen Sprachraum bekannt zu machen, jener avantgardistischen Gruppe, die 1927 von Daniil Charms, Alexander Wwedenskij und anderen gegründet, in der Zeit des stalinistischen Terrors unterdrückt und nach dem zweiten Weltkrieg schließlich nahezu vergessen wurde. In ihren eigenen Texten führen Olga und Oleg den besonderen Humor und den Sinn fürs Absurde fort, Eigenschaften, die den Oberiuten als geistige Überlebensstrategien dienten und Jahrzehnte später noch einmal ihren Nachfolgern in spätsowjetischer Zeit. Doch die Aufgabe der Vermittlung betrifft nicht nur die Dichtung, sondern auch die rohen Tatsachen des Lebens, besonders jener – zumindest in Deutschland – selten erhellten Dunkelzonen wie etwa die Belagerung Leningrads zwischen 1941 und 1944. Aufgewachsen in einer Zeit, als Antinazismus eine Selbstverständlichkeit war und Kriegsverbrechen der Alliierten kaum Erwähnung fanden – erst 1999 erschien G. W. Sebalds Buch Luftkrieg und Literatur, das einiges zurechtrückte –, war ich schockiert, als ich Olegs Essay über dieses „fast unbekannte Verbrechen“ und seinen vielfachen literarischen Ausdruck las, den es trotz entsetzlicher Lebensbedingungen fand.
Historische Schleifen und Falten
Ich habe Oleg nicht nach den Gründen gefragt, weshalb er und seine Familie 1991 nach Deutschland übersiedelt sind. Viele Russen, die Mehrzahl von ihnen deutscher Abstammung, emigrierten nach Deutschland, als die Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre implodierte. In dieser unsicheren Situation mit unklaren Zukunftsperspektiven bekam der russische Antisemitismus Aufwind, und zahlreiche Juden verließen das Land aus Angst vor neuen Pogromen. (Auch Olga Grasnjowa, Shooting Star der deutschen Literaturszene, kam in dieser Zeit als Schulkind mit ihren jüdischen Eltern aus Aserbaidschan, ehemals Teil der Sowjetunion, nach Deutschland, und zwar als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aufgrund eines Gesetzes, das Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion Asyl zusichert.) Oleg und seine Familie fanden sich „plötzlich“ in Frankfurt wieder, mit wenig Gepäck, stelle ich mir vor, und einem riesigen Erbe in Gestalt der sowjetrussischen Vergangenheit mit all ihren Windungen, Grausamkeiten und verborgenen kulturellen Schätzen, die in den westeuropäischen Ländern bis heute nur wenig bekannt sind. Die Art, in der sich russische Intellektuelle auf die Vergangenheit ihres Landes beziehen, läßt sich mit den ostdeutschen Verhaltensweisen zwischen „Abwicklung“ und „Ostalgie“ nur bedingt vergleichen, sie unterscheidet sich davon in wesentlichen Punkten, vor allem deshalb, weil die DDR kein großes und mächtiges Land war, sondern ein kleines, von einer Großmacht beherrschtes.
Die russisch-postsowjetische Haltung erinnert mich eher an den sogenannten habsburgischen Mythos, geschaffen unter eifriger Mithilfe österreichischer Schriftsteller, die sehr wohl wußten, daß die Habsburgermonarchie eher ein Gefängnis als ein Paradies für Völker mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen war, andererseits aber besessen waren von Erinnerungen, Vorstellungen und Phantasien der untergegangenen Epoche und dem verlorenen Raum. Die ständige Bezugnahme auf eine noch nahe Vergangenheit vom Standpunkt einer Gegenwart, die sich auf eine Zukunft ohne große Tragödien und Glorien hinzubewegen scheint, gebiert eine melancholische Stimmung, in der Humor und Absurdismus ihren Platz haben. In Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns trägt jedes Kapitel eine Schleife mit Jahreszahlen an seiner Stirn. So beschwört z. B. das sehr kurze Kapitel „Daniil Charms und seine Freunde“ die historische Zeitspanne 1933/34, berührt dann 1987/88, d. h. die letzte Phase der Sowjetunion, die für die Erzählerin eine seltsame Art von Freiheit besaß (une drôle de liberté, würde ich auf Französisch sagen), und beschließt die Schleife mit der Zahl 2006, dem Jahr, in dem Olga ihren Roman schreibt. Wie im postmonarchischen Österreich ist die gegenwärtige Zeit mit Vergangenheit gesättigt. Olga bemüht sich aber erst gar nicht, ein Panorama oder eine vollständige Chronologie zu schaffen, sondern begnügt sich und ihre Leser mit transversalen Kurven, zieht also die Verbindung konkreter, oftmals weit voneinander entfernt liegender Erzählsituationen der Konstruktion eines totalisierenden Romans vor, die in postmodernen Zeiten unangemessen, wenn nicht unmöglich scheint.
Im Klagenfurter Sommer 2012 erwähnte Olga einmal, sie habe eine Büste Ingeborg Bachmanns in einem Garten nahe dem Stadthaus gesehen; ziemlich unauffällig, ja, abseitig stehe das Denkmal dort. Ich schenkte dem keine große Beachtung, ein Bachmann-Kopf war mir bei meinen Klagenfurter Spaziergängen nie aufgefallen. Im Übrigen mache ich mir nicht viel aus solchen Denkmalen, sogar der unübersehbare Lindwurm auf dem Hauptplatz zieht meine Aufmerksamkeit nur flüchtig auf sich. Als ich ein Jahr später in Bamberg zu Besuch war, führte mich Olga an einem Nachmittag durch die Stadt, und ich wäre gern auf den alten Brücken und an den Flußufern verweilt, staunte jedoch über das Geschichtswissen, mit dem Olga mir zeitliche Orientierung verschaffte. Im Bamberger Dom verharrten wir eine ganze Weile unter dem Reiterstandbild, dem ersten der europäischen Geschichte, wie Olga fast mit einer Art Lokalstolz betonte. Die Identität jenes Reiters ist bis heute ungeklärt. Plausibel scheint die Annahme, es handele sich um eine Darstellung Stephans I., der in der Zeit um das Jahr 1000 König von Ungarn war und für die Verbreitung des Christentums in seinem Vielvölkerstaat kämpfte: ein von der katholischen Kirche in ganz Europa hochverehrter Mann. Mir ist aus Olgas Erläuterungen nicht recht klar geworden, was Stephan konkret mit Bamberg zu tun hatte, aber sei's drum. Irgendwelche verwandtschaftlichen oder imaginären Beziehungen, der Reiter als Projektionsgestalt, ein Joker im historischen Gespräch, das die jeweils Heutigen zu ihrer erbaulichen Unterhaltung führen. Der Bamberger Dom mit seinen historischen Schichtungen, die im Lauf der Jahrhunderte zusammenkamen und das Bauwerk zu einem lebendigen, in die Gegenwart hineinreichenden Museum machen, einem heute leider abgeschlossenen work in progress, das allenfalls in den Mutmaßungen der Interpreten fortlebt – dieser Dom eignet sich hervorragend für die geistreiche Selbstverständigung gebildeter Menschen. In gewisser Weise könnte er ein Modell abgeben für Olgas und Olegs literarische Technik der in die Vergangenheit aus-, in die Gegenwart eingreifenden Schleifen- und Faltenbildung.
Im Grunde tut auch der Held in der Erzählung, die Olga in Klagenfurt las, nichts anderes, als in einer deutschen Stadt herumzuflanieren und aus historischen Kollektiverinnerungen, die die Straßen (meist unauffällig) zur Schau stellen, ein Gedankengespinst mit poetischen Einsprengeseln zu wirken. Dem jugendlichen Helden, einem angehenden Dichter, der an die Figur des Anselmus aus E. T. A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf erinnert, dieser liebenswürdigen, etwas schüchternen Gestalt namens Moritz gefällt ein in einer Eisdiele jobbendes Mädchen orientalischer, möglicherweise ägyptischer Abstammung – jedenfalls erinnert es ihn an Figuren auf altägyptischen Sarkophagen. Wir sehen Moritz an seinem Eis schleckend vor einer Gedenktafel, die erzählt, in dem Haus, das einst an dieser Stelle gestanden habe, habe sich ein Natur- und Kunstmuseum mit einer altägyptischen Mumie befunden. Leider sei das Haus bei Bombenangriffen im zweiten Weltkrieg zerstört worden. Nur das mittelalterliche Apotheker-Fachwerkhaus, in dem seinerzeit die Mumie ausgewickelt worden sei, hat die Bombardements überstanden. Auch jüdische Bürger hätten das Mumienprojekt unterstützt, merkt Moritz an. Bei einem weiteren Besuch in der Eisdiele hält er vor einem schwarzen Stein, dessen Inschrift darauf hinweist, daß hier die im November 1938 zerstörte Synagoge stand. Auf diese lockere Weise hängt schon für den jugendlichen Helden alles mit allem zusammen... Alles mit allem, oder besser: dieses mit jenem, vieles mit vielem. In Moritz‘ Phantasie herrscht die Willkür des Verliebten Hand in Hand mit historischen – angeblichen – Notwendigkeiten (die Alliierten mußten das Reich des Bösen bombardieren, die Nazis mußten nach ihrer Logik die Juden ausrotten). Von einer Lehrerin zur Bibellektüre angehalten, schreibt Moritz die Adam-und-Eva-Geschichte neu. Und imaginiert sich ein Multi-Kulti-Wohnhaus, in dem sich die morgen-und-abendländische Geschichte als trivialer Alltag wiederholt. Die ganze Stadt ist ein lebendiges Museum, auf Schritt und Tritt, ob sie will oder nicht. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, daß Olga und ich der schrulligen E. T. A. Hoffmann-Statue vor dem Bamberger Theater unsere Reverenz erwiesen, und ebenso, daß Olga mich an einem alten Haus auf den dunkelgolden schimmernden Türknauf aufmerksam machte, der Hoffmann als Vorbild für sein Apfelweib (im Goldenen Topf) gedient haben soll.
Kürzlich las ich einen Text von Oleg Jurjew, ein kleines Feuilleton, in dem er dasselbe Verfahren wie Olga in ihrem Papageien-Roman verwendet. Er beginnt mit einem in Rußland berühmten Gedicht von Daniil Charms und stellt die Frage, ob der Dichter darin wirklich auf seine Lage im stalinistischen System anspielt. Oleg verneint diese Frage, indem er unterstreicht, daß Charms kein Selbstmörder war. Statt dieser These entwickelt er den Gedanken, die russischen Verse aus dem Jahr 1937 könnten sich auf eine Reise beziehen, die Meister Eckhart, der deutsche Mystiker, 1327 nach Avignon, wo damals der Papst residierte, zu unternehmen hatte, um sich gegen den Vorwurf der Häresie zu verteidigen. Wenn ich Olegs Interpretation recht verstehe, liegt der heimliche Witz darin, daß uns die Erzählschleife – oder die allegorische Reise – aus Avignon zurück in die Sowjetunion der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts führt, wenn wir die Ähnlichkeiten zwischen dem mittelalterlichen Katholizismus und dem sowjetischen System bedenken.
Heitere Melancholie
Bei der Lektüre verschiedener Werke aus Olgas und Olegs Feder hat mein Geist die postsowjetische Melancholie mit der spezifischen Trauerarbeit verknüpft, die österreichische Autoren wie Joseph Roth oder Stefan Zweig nach dem Untergang der Habsburgermonarchie leisteten. Es ist dies ein Prozeß, der in meinem Land heute, 69 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, 96 Jahre nach dem Ende des ersten, beendet und nicht beendet ist, da selbst antihistorizistische Haltungen noch von „unserer großen Vergangenheit“ abhängen. Einige Jahre vor der Begegnung mit Olga in Klagenfurt, als mich die türkische Kultur anzuziehen begann, war ich überrascht, aus den Büchern Orhan Pamuks zu erfahren, daß die wesentliche kollektive Empfindung, die er den Bewohnern dieser so lebendigen und ausdrucksstarken Stadt zuschreibt, hüzün sei, was man auf Deutsch wohl mit „Melancholie“ wiederzugeben hat. Die Gründe, die Pamuk anführt, um das Phänomen zu erläutern, weisen auf das untergegangene osmanische Reich und seine verblichene Größe. Wenn ich von hüzün nun auf die berühmte portugiesische, ebenfalls mit historischen Schrumpfungsprozessen erklärbare saudade und deren Spiegelungen im Werk Fernando Pessoas (besonders im Buch der Unruhe) käme, erhielte ich so etwas wie einen imaginären Gürtel der Melancholie, der von St. Petersburg (ehemals Leningrad) nach Istanbul (Konstantinopel), von dort nach Wien und schließlich nach Lissabon am anderen Ende des europäischen Kontinents reicht. Vom historischen Standpunkt aus befände sich in Lissabon der älteste Schatz der Melancholie, in St. Petersburg der jüngste. Natürlich gewinnen die genannten Orte ihr intensivstes Leben in der Literatur und hängen nicht oder nur sehr bedingt vom jeweiligen Wohnort der Autoren ab. Fernando Pessoa, der einen Teil seiner Jugend in Südafrika verbrachte, verließ später kaum einmal seine Geburtsstadt Lissabon; Joseph Roth flüchtete vor dem Nationalsozialismus und starb als „heiliger Trinker“ in Paris; Olga, Oleg und Daniel leben nach wie vor in Frankfurt, obwohl sie Rußland häufig besuchen. Die Schöpfer dieser oft heiteren, bisweilen verzweifelten europäischen Melancholie sind daran gewöhnt, in der Diaspora zu leben. Sie wissen, daß das Exil letzten Endes unsere conditio humana ist. „Literatur und Exil“, sagte der chilenisch-mexikanisch-spanische Autor Roberto Bolaño im April 2000 in seiner Rede in Wien, „sind zwei Seiten derselben Münze, unser Schicksal in der Hand des Zufalls.“
Transversale Ästhetik
Was ich in diesem bescheidenen Beitrag zu einem unermeßlichen Thema auszudrücken versucht habe, ist Teil dessen, was ich als „transversale Ästhetik“ zu bezeichnen pflege 2– eine Formulierung, die sich von der globalisierten Kultur des 21. Jahrhunderts abgrenzt, jenem neuen Kulturimperialismus, der auf der Basis abstrakter, technologisch generierter Strukturen funktioniert. Verbindungslinien zu ziehen zwischen verschiedenen Stellen auf der kulturellen und sprachlichen Weltkarte ist eine Art, Freundschaft zu praktizieren, sowohl auf einer persönlichen als auch auf einer literarischen Ebene. Diese Stellen – ich nenne sie lieber „Topoi“ – mögen einander ähneln oder sich voneinander unterscheiden, und es kann sein, daß sie mehr oder minder imaginären Charakter haben, bloße Konstruktionen einer Gemeinschaft, die erst noch zu leben bleibt und weiter entwickelt werden kann.
Wovon wir geredet haben
Am Ende dieser Ausführungen muß ich mich entschuldigen. Indem ich über meine Freunde, die Russen, gesprochen habe, konnte ich nicht umhin, über mich selbst zu sprechen, einen österreichischen Autor und Übersetzer im freiwilligen, wenngleich notgedrungenen Exil.
- 1. Wolfgang Herrndorf in Arbeit und Struktur (Berlin: Rowohlt 2013. Tellkamps Roman Der Turm bezeichnet Herrndorf drei Tage nach diesem Eintrag als „sprachlich verlotterten Scheißdreck“. – Der Gerechtigkeit halber sei hier hinzugefügt, daß Herrndorf sich selbst gegenüber auch nicht immer zimperlich ist: „Die Selbstzweifel. Was für eine stilistische Scheiße ich zu schreiben imstande bin.“
- 2. Leopold Federmair: Einige Anmerkungen zur transversalen Ästhetik, http://www.begleitschreiben.net/einige-anmerkungen-zur-transversalen-aes...
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