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Essay
Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki
Die Tatsache, dass man mit Formelsprachen und wissenschaftlichem Jargon definierte Hintergründe aufstellen kann, täuscht über das natürliche Geschehen der Sprache und verführt zu der Annahme, dass allgemeingültige Exaktheit möglich ist. „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben“ hat Galileo Galilei euphorisiert. Und er irrt. Bloß weil man einige wenige, ausgesuchte und idealisierbare Weltverhältnisse mathematisch recht gut abbilden und brauchbar definiert kommunizieren kann, sollte das Mittel der Abbildung nicht zur Sprache des Abzubildenden hochstilisiert werden. Es sind numerische Aspekte, Beziehungen auf quantitative Merkmale heruntergebrochen, die in der Mathematik aus der Sicht des Menschen „eine Sprache finden“.
Dass man jemanden auf einem Foto wiedererkennt, selbst wenn man ihn nur schräg von der Seite sieht, macht nicht den Fotoapparat zur „Sprache“ des Fotografierten, mit der er versucht, sich in die Welt zu stellen. Der Weltauftritt eines Menschen ist wesentlich komplexer und ein Abbilden optisch wahrnehmbarer Aspekte auf einem Foto sagt nur bedingt etwas über seine wirkliche Anwesenheit. „Wer in einem blühenden Frauenkörperdas Skelettzu sehen vermag, ist ein Philosoph“ hat Tucholsky gesagt. Münzen wir den Satz um auf Mathematiker und Physiker alter Schule.
Wenn man die Welt rein mathematisch abfotografiert, nutzt man Aspekte, die sicherlich vorhanden und von ungeheurem Nutzen, aber nicht umfassend und erschöpfend sind. Einige Qualitäten (vor allem lebendige) bleiben unberücksichtigt – wohl auch, weil wir bislang keine mathematischen Sprachen dafür haben. Den meisten Fortschritten in der Physik lagen in der Vergangenheit Fortschritte in der Mathematik zugrunde und so ist es bis heute geblieben. Die Theoretiker der Superstrings harren der Neuigkeiten und arbeiten selbst daran mit.
Aber selbst, wenn man die numerischen Methoden und Verfahren stets weiterentwickelt, werden Aspekte in der Realität bleiben, die sich nicht auf diese Weise abbilden lassen, bspw. wenn die Beobachtungen biologische Prozesse aufgreifen. Es ist unangemessen (und wir vermessen uns), wenn wir in der Welt nur quantifizierbare Eigenschaften wahr haben wollen und parallel dazu beharrlich andere, qualitative Merkmale durch Reduktion zum Verschwinden bringen – noch heute unser gängigstes Denkmuster, das sich allmählich auflöst. Mathematische Sprache sagt von der Welt, sie sei reduzierbar auf mathematisch darstellbare Bezüge. Sie ist eine eng begrenzt gültige Fachsprache und arbeitet mit strengen Urteilen, die im Voraus axiomatisch festgelegt wurden.
Solche Vor-Urteile sind von Vorteil. Das Vorgefasste liegt griffbereit und passt auf die Welt schnell und ausreichend genau, um einen Vorsprung zu erwirtschaften. Das Hantieren mit Kategorien und Urteilen, die nicht immer wieder neu erarbeitet werden müssen, hat uns in der Evolution entscheidende Wettbewerbsvorteile gesichert, erst recht wenn es Bestandteil der Kommunikation war. Das Vor-Urteil, so es die Strukturen des Milieus trifft, erlaubt ein planvolles ontologisches Schichten entsprechend der autopoietischen Bedürfnisse. Das Wissen um Ding und Gesetz verleiht die Macht, der Zeit voraus zu sein und macht gerade deshalb zum zeitlichen Wesen. Wir entfliehen der Gesamtheit der Gegenwart, um in ihr noch besser zu bestehen. Unser Denken zerreißt den Moment, um ihn beurteilen zu können.
Wie kommt die Poesie in die Welt?
Die Poesie ist ein Schritt hinaus, ein nächster gangbarer Weg - über das normale Denken hinaus. Indem es den autopoietischen Zweck übergeht und unbeherrschte Sprachräume aufsucht. Poesie sollte sich vom Vor-Urteil lösen, also vom bekannten und bereits vorhandenen Urteil, das in uns auftaucht, sobald uns ein Verhalt begegnet oder sich ein Begriff aufdrängt. Das Unbekannte ist dabei nicht unbedingt das Unbenannte. Das poetische Benennen kann Bekanntes frei setzen und wiederbeleben, was tot schien. Poesie ist das Reich des Möglichen und unsere Welt ist eher möglich als durchkalkuliert, also poetisch. Von der Poesie können wir lernen, wie Dinge geschehen. Nicht als a+b=c, sondern als komplexe Geschehensräume, reaktive Sprachräume, unbeschrankte Lebensaufenthalte. Durch die Poesie erfahren wir das Lebendige, geben dem Material den Puls seiner Form. Sie geht nicht vorbei, sondern ist alles, was Vorbeigehen sein kann. Sie bleibt nicht stehen, sondern ist alles, was Stehenbleiben sein kann. Sie ist nicht betroffen, sondern alles was Betroffenheit sein kann.