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Reisenotizen
Ein Ausflug
05.05.2012 | Hamburg
Wer sich an literarischen Wettbewerben beteiligt, tut das um einen Text zu Ende zu bringen, weil es ja ein Einsendedatum gibt. Das ist das Datum, an dem man sich vom Text verabschiedet, ihn trotz aller Mängel für volljährig erklärt. Sonst würde man ihn noch viele Male umarbeiten… Einen anderen vernünftigen Grund dürfte es wohl kaum geben. Um einen Preis zu gewinnen? Nicht ernsthaft, ein bisschen vielleicht doch, aber… Im Normalfall gewinnt man nicht. Man gewinnt auch nicht im Lotto, und auf der Kirmes kriegen eigentlich immer nur die anderen das große Plüschtier, das dann vermutlich hinten wieder in die Bude hineingereicht wird, damit es weitere hoffnungsvolle Spieler heranlocken kann.
Ich sehe den dicken Umschlag des SENDERS an und finde, dass es recht spät für eine Absage ist. Und der Umschlag ist zu dick für eine Absage. Ich werde also nach Leipzig fahren, dort meine Geschichte lesen, mit sechs anderen um die Wette, die auch ihre Geschichte lesen.
Um die Wette lesen, was für eine Idee. Als ich den Text losschickte, fand ich die Idee reizvoll, aber eigentlich ging sie mich nichts an. Jetzt denke ich über die Casting-Gesellschaft nach. Es wird eine Jury geben, die mehr will, als der Text ihr geben kann, eine Performance. Sonst hätten sie das ja ohne uns klären können.
Der Osten. Es wird eine Lesereise geben. Ich blättere in Merianheften („nach der Wende“), suche Stadtpläne und Landkarten. Außer Leipzig, Niederpölnitz, Weimar und dem G8-Schlachtfeld am Hafen von Rostock kenne ich nichts. Die ersten Vorstellungen entstehen: ein Biergarten in Jena, laut lachendes Publikum im Theater von Chemnitz, falls es etwas zu lachen gibt, Pensionen in Halle und Leipzig. Die kennt man aus den Fernsehkrimis, da steigen die mürrischen frisch geschiedenen Fernsehkommissare ab und trinken mit dem Nachtportier Schnaps. Bilder einer brüchigen sächsischen Behaglichkeit steigen auf, Kirchentag in Leipzig, volle Kneipen, rasante alte Straßenbahnen.
Die Unruhe wächst. Bei anderen Literaturpreisen hat man gewonnen oder nicht, fährt hin (oder nicht), holt seinen Preis ab. Ich fühle mich wie vor der Karate- Gurtprüfung: Ich habe trainiert, ich kenne meine Kata, ich muss sie nur anständig vorführen. Der Vorteil ist, dass ich diese Kata vom Blatt ablesen kann. Ich rühre das Manuskript nicht an, auch nicht zum Üben, es könnte ja sein, dass die Geschichte unendlich dämlich ist und nur aus Versehen aus dem Sack mit den anderen Geschichten gefischt wurde.
Erstes leichtes Befremden: man wird uns nicht gemeinschaftlich durchs Sendegebiet kutschieren und vor einer Unterkunft ausladen – wir sollen unsere Anreise selbst organisieren. Das macht mir eine Nacht mit unruhigen Träumen, in denen ich immer wieder zwischen Jena und Chemnitz hin- und herfahre. Es wird Zeit, auf die Landkarte zu schauen, da ist etwas nachzulernen. Wo hört Thüringen auf? Wo fängt Sachsen-Anhalt an? Wie fremd ist mir Sachsen? Ich werde jeden Tag woanders sein. Träume von falschen Zugstrecken: davon handelt auch meine Geschichte, meine Minnageschichte. Das passt ja.
Ich muss einpacken: die Minna, ein paar Anziehsachen; ob ich ein bisschen Charisma eingepackt habe, kann ich nicht mehr feststellen, der Rucksack ist voll, ein recht unpassender Alpinrucksack mit der Aufschrift TRECKING, aber was soll es, ich muss die Hände frei haben.
Wo fängt der Osten an? Historisch gesehen schon kurz hinter Hamburg, aber das ist es nicht, es ist der gefühlte Osten, den ich identifizieren möchte. Andere Häuserfarben, Klangfarben , Speisekarten, Literatur – aber bisher springt mich am Zugfenster nur der gelbe Raps von Mecklenburg –Vorpommern an, riesige Felder und Wiesen, Baumgruppen, die präzise Schatten werfen.
Und da ist dann Leipzig und sieht nicht mehr aus wie Kirchentagsleipzig und schon gar nicht wie Vor-Wende-Leipzig. Es ist angenehm widersprüchlich, zeigt immer noch seine Zahnlücken zwischen den Einkaufspassagen und durchsanierten Gebäuden, zeigt der drohenden Vervollkommnung ein tapferes widerborstiges Grinsen.
Das erste Treffen der Finalisten findet im Haus des Buches statt (was für ein schönes Wort, es werden noch ein paar dieser ernsthaften Namen dazukommen, ein Kulturpalast, ein Volkshaus). Noch sind wir fremd, vorsichtig, beäugen uns, sind aufgeregt, was uns langsam zusammenrücken lässt. Und da sind nun auch der MODERATOR und der ORGANISATOR, zwei, die uns begrüßen, beruhigen, auf uns aufpassen, damit wir nicht verloren gehen, und uns eindringlichst bitten, während der Lesung keine überflüssigen Kommentare und Grußbotschaften zu versenden. Die Sendezeit!