Mit Minna nach Sachsen oder Bitterfeld liegt am Meer

Reisenotizen

Autor:
Susanne Neuffer
 

Reisenotizen

Ein Ausflug

Dann ist ein paar Stunden später alles entschieden. Das Saallicht war für uns alle heruntergefahren, hatte uns nur den kleinen Lichtkreis der Leselampe gelassen. Ich lese als letzte, aufgedreht und entspannt zugleich von den wunderbaren Geschichten der anderen, und ich bringe meine Geschichte ohne größeres Gestolpere zu Ende, über den Tisch, über den Sender. Für mich Rundfunkfreak ist das berauschend, ich bin hier drin im Radio, hinter der beleuchteten Frequenzanzeige, neben dem grünen Licht – natürlich habe ich zu Hause ein altes Radio. Nur kann man da den SENDER nicht hören, also korrigiere ich meine nostalgische Inszenierung und werfe mich in den Livestream.
Es kommt ein bisschen anders als gedacht, und ich tauche kurz vor den 23-Uhr –Nachrichten mit Urkunde und Blumenstrauß in das Trio der Preisträger als Zweite ein, schüttle Hände mit Leuten, mit denen jetzt gut ein Bier trinken wäre, wundere mich, freue mich.
Die Jury macht einen erschöpften Eindruck, da sind ein paar Menschen aus der Gegenwartsliteratur,  mit denen ich jetzt gerne mal reden würde. Aber die sind zum Rauchen auf dem Balkon, unser Erstplazierter gibt ein Interview, und der Rest plant mit dem ORGANISATOR die Lesereise.

Jena. Ach ja, Schiller, und Jenaer Glas , und Jena und Auerstädt.
An der Strecke liegen die Leunawerke und verbreiten eine bizarre Industrieschönheit, kilometerlang, bis die Saale aus der Gegend eine romantische Wein- und Wanderlandschaft macht. Wie heißt die wunderbare Stadt auf dem Berg? Der junge Mann im Abteil tippt auf Weimar, die Schaffnerin hält das für ausgeschlossen, der Bibliothekar in Jena sucht später in Reiseführern und im Netz mit mir die Strecke ab und meint, es müsse Weißenfels gewesen sein. Es sieht aus wie die Dornburger Schlösser auf der kleinen  Radierung in meinem Arbeitszimmer, aber wer weiß.

In Jena lesen wir in der Ernst Abbe-Bibliothek, die einen Teil des Volkshauses einnimmt. Eine mehrstöckige alte Bibliothek mit riesigen Räumen, mit einem unglaublichen Bestand. Hier müsste man sich eine Nacht einschließen lassen, herumblättern, durch die großen Fenster die Nacht hereinsinken sehen, sich hinter dem Regal mit Updikes Biografie zusammenrollen.  

Die Leser kommen und besetzen alle Plätze in der Bibliothek, auch ein paar Treppenstufen. Wir lesen schon etwas entspannter als in Leipzig, erkennen die Geschichten der anderen wieder. Zwei lesen heute zum letzten Mal und fahren dann nach Hause, eine seltsame Wehmut macht sich breit. Der ORGANISATOR hat es vorausgesagt: Erst denkt ihr, ihr seid Konkurrenten, und am Schluss könnt ihr nicht voneinander lassen!
Ich bin umgeben von jungen Autoren, und allmählich spüre ich, was das bedeutet. Für die Berichterstattung ist es vor allem interessant, sozusagen ein unterscheidendes Merkmal, dass ich die älteste Teilnehmerin bin.  Das hört sich  nach Gehwägelchen an. Es steht in der Zeitung, und klingt immer wieder durch. Leute, ich kann noch ganz selbständig lesen und schreiben, wie findet ihr das. Ich rette mich in den Kalauer, beim Karate sei ich auch immer die älteste. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es eine Rolle spielen würde, es geht ja schließlich um Literatur. Na, sage ich zu Minna, die mit mir reist auf sechseinhalb Seiten – da hätten wir wohl das nächste Thema.

Die Zuhörer sind neugierig, zugewandt, aufmerksam. Eine Frau in Jena sagt zu mir: „Wissen Sie, was ich die ganze Zeit bei Ihrer Geschichte gedacht habe? Die Frau kommt aus dem Westen, die Geschichte ist auch aus dem Westen. Und dann habe ich mich geärgert, dass ich nach so vielen Jahren immer noch so denke.“ Daraus wird ein Gespräch über Wahrnehmen und Bilder im Kopf, ein klares, hartes Gespräch über die Frage, ob die Unterschiede etwas Gutes, Spannendes sind (was ich denke) oder ob sie allmählich aus der Wahrnehmung verschwinden sollten (was sie denkt), über die Scheußlichkeit des Zentrums von Jena (Marke West) und die Schönheit seines „Damenviertels“.

Weil der Wirt vom „Roten Hirschen“ kein Zimmer mehr frei hat, hat er mir geduldig ein Bett für die Nacht gesucht, ich bin in einem Traditionshotel gelandet, wo vor mir schon Martin Luther, Walter Ulbricht und Roy lack  geschlafen haben. Damit ich von der teuren Übernachtung etwas habe, läutet die Glocke der sehr nahen Kirche getreulich die ganze Nacht hindurch jede Viertelstunde. Wenn ich mich im Bett aufsetze, sehe ich gegenüber Schillers Kopf auf einer Säule Wache halten.
Es ist schon eine sehr literarische Reise.

Und nun nach Chemnitz. Karl-Marx-Stadt. Meine Freundin aus der Grundschule kam aus Karl-Marx-Stadt, war irgendwie über die Grenze gekommen, hatte in einem Flüchtlingslager gelebt. Sie konnte tolle Modezeichnungen machen und hatte uns fränkischen Kindern etwas Abenteuerliches voraus, über das sie aber beharrlich schwieg.