Mit Minna nach Sachsen oder Bitterfeld liegt am Meer

Reisenotizen

Autor:
Susanne Neuffer
 

Reisenotizen

Ein Ausflug

Auf der Fahrt nach Chemnitz rekonstruiere ich meine Beziehung zur DDR. Sie bestand in erster Linie im nächtlichen Hören des Deutschlandsenders (die Zeit nachmittags bei den Hausaufgaben gehörte dem Countrysound des  AFN).
Da war etwas Zweites, eine andere Sicht auf die Welt, eine fremde Terminologie.
Ein anderes lauthals beschwiegenes Deutschland, für das wir diese merkwürdigen Kerzen ins Fenster stellen sollten und das hier eine andere Geschichte in einer fremden Tonart erzählte. Ich sprach mit niemandem darüber, es war etwas zwischen mir und dem kleinen Radio, das auf dem Kopfkissen lag.  

Auf dem Weg nach Chemnitz : Zwickau, Crimmitschau. Assoziationen an Germanistik- Seminare und an Folkfestivals, auf denen vergnügt über Textilarbeiteraufstände und 1848 gesungen wurde. Ich lese nach in meinem Sachsen-Reiseführer und finde die Textilarbeiteraufstände. Crimmitschau hat vom Zug aus gesehen etwas sehr Ernstes, eine schmerzhafte Würde. Ich würde gerne aussteigen und bleiben, nachsehen. Das Gefühl taucht nun immer wieder auf: aussteigen, bleiben, warten, bis mir jemand etwas erklärt.

Chemnitz ist ganz still am Mittag, der Bahnhof wird umgebaut, die Trassenführung der Straßenbahn wohl auch, die Straße der Nationen, liegt schweigend da. Wo sind die Leute? Sie können nicht alle in den Einkaufszentren und Bankhäusern sein, die man an den realsozialistischen Boulevard gesetzt hat wie extraterristrische Bllwerke. Der dicke Marxkopf steht zornig vor dem Finanzamt; aus der „Freien Presse Chemnitz“ erfahre ich am nächsten Morgen beim Frühstück, dass seine immer wieder nötige Sanierung von einem schwedischen Möbelhaus finanziert wird – damit er nicht vom Sockel fällt.

Ich setze mich ins Café Moskau, das diskret mit der Vergangenheit flirtet und doch ganz neu und ein Ort für lässige Eventkultur ist. Dann  lesen wir  im Foyer des Stadttheaters, hängen vorher in der Künstlerkantine ab, fühlen uns gerne ein bisschen dazugehörig, während aus dem Lautsprecher die Probengeräusche von Amphytrion kommen. Dort stöbern uns der ORGANISATOR und der MODERATOR auf  und treiben uns an die Arbeit. Wir sollten schon längst aufgeregt in der ersten Reihe sitzen. Wir kennen unsere Texte gegenseitig  schon so gut, dass wir mitsprechen können, und es gibt in jedem Text einen Satz, auf den ich warte, weil er so schön ist. „Wir weichen aus nach Minsk“. Hier sind die Zuhörer verhaltener, schneller weg, und wir haben uns an diesem Abend alle an irgendeiner Stelle verlesen.
Von Chemnitz bleibt ein ungelöster Rest. Als der Zug die Stadt in Richtung Leipzig verlässt, zeigt sie ihre Schönheit. Jemand hat gestern etwas vom alten Glanz und Reichtum dieser Stadt erzählt, von ihrem  umtriebigen  Kulturleben. Zu spät.

Ich muss der Versuchung widerstehen nach Freiberg zu fahren und dort ins Bergwerk hinabzusteigen; dort endlich würde meine Arbeit weitergehen, in der Gegenrichtung. Ein anständiger Autor recherchiert, nimmt wenigstens hinterher in Augenschein, was er schon beschrieben hat. Aber die Lesereise führt weg vom Bergwerk, an Grimma vorbei, wo angeblich immer noch Leute in Salons am Kamin sitzen und  sich Bücher vorlesen.  Wahrscheinlich heißt auch der Bäcker Göschen. Erinnerungen an das erste Semester: der literarische Markt (gewürzt wie üblich kurz nach 68 mit etwas Warenanalyse), Leipziger  Buchmesse, Verlagssystem, Moralische Wochenschriften, lesende Frauenzimmer, Kleiderrascheln der Aufklärung. Und in den Dachzimmern verenden die Dienstmädchen.

Suppen  in Sachsen wäre mal ein schönes Thema. Soljanka kann man mit mehr oder weniger Zitrone abschmecken, in kleinen Suppentassen oder Suppentellern mit riesigem Rand servieren, es gibt eine ganz Skala von Soljanka-Möglichkeiten, die ich ausprobiere. Dies ist die ruhigste  Reise  seit langem. Ich höre auf, überpünktlich am Bahnhof zu sein, es fährt ja immer ein Zug, wenn nicht, kann man ja Kaffee trinken, und endlich ist das da, was zu Hause immer fehlt: Zeit zum Schreiben, das letzte, was ich erwartet hätte. Immer schickt einen jemand in die Straße lang, dann rechts, dann links und über den Kreisel, in die  richtige Richtung, wo es ein Zimmer gibt und ein Frühstück.

Bis Halle als Halle erkennbar wird, dauert es eine Weile, jedenfalls, wenn man vom Bahnhof kommt. Wir lesen im Kunstforum der Sparkasse, es geht ein bisschen zu wie auf einer Vernissage, aber auch hier hören sich Leute mit großer Selbstverständlichkeit unsere Geschichten an, die sie im Radio hätten hören oder aus dem Netz hätten herunterladen können, auch hier geht es wieder um die Texte selber und die Wahrnehmungen, die sie auslösen. In der Glühbirnchen-Kneipe gegenüber stellen wir dann fest, dass die Reise zu Ende ist, dass wir am nächsten Tag in unsere Brotjobs oder an das zähe Projekt zurückkehren, das auf dem Schreibtisch wartet. Erst jetzt erzählen wir uns und der Kellnerin, wie wir arbeiten, wie wir leben, spät am Ende der Reise.

Ja, und dann Bitterfeld. Ich hätte es wissen können, dass der Zug aufreizend in Bitterfeld halten würde. Ich raffe meine Sachen zusammen und steige aus. Es ist der Name der Stadt, der mich zum Aussteigen bringt, nicht ihr Aussehen. Das verrät zu wenig, wenn man sich ihr mit der Bahn nähert. Natürlich habe ich Bilder  von Wolfen und Bitterfeld im Kopf, aber ich weiß nicht, woher sie stammen. Habe ich die Umrisse von Wolfen (schwarz, gespenstisch) einmal aus der Ferne, im Vorbeifahren gesehen? Hat man mir von Wolfen erzählt? Ich steige wegen des „Bitterfelder Wegs“ aus und einer dümmlichen Hoffnung, es könne ein kleines Literaturmuseum geben, das den „Bitterfelder Weg“ dokumentiert und meiner Naivität auf die Sprünge hilft. Ich war nie der Meinung, man könne das Schreiben in Zirkeln lernen, und doch haben mich die Erfahrungen der DDR-Schriftsteller immer mit diesem unbestimmten Neid erfüllt (vielleicht weniger  die Erfahrungen als die Möglichkeit, diese Erfahrungen zu machen). Als ich vorhin aus dem Zug sprang und den Rucksack über den Bitterfelder Bahnhof zerrte, hatte ich die Schwarzweißfotos im Kopf: die Brigaden, die Autoren, aber auch Bilder von Hoyerswerda, Wismut, Bitterfeld, Wolfen, übereinanderkopiert, einander löschend und verstärkend. Das Volk und die Kunst, die Kunst und die Arbeit  und das Leben. Konferenzen beschließen einen Weg, und sie schließen ihn wieder, bevor es die Geschichte tut.