Die Hausaussuchung in Lenggries

Essay

Autor:
Tobias Roth
 

Essay

Die Hausaussuchung in Lenggries – ein Volkslied aus Bayern und: wo der Staat nichts zu suchen hat

Das Gedicht ist natürlich, wie auch meine anschließenden Überlegungen, ganz aus der Perspektive der Bergbauern verfasst. Zudem kommen mildernde Umstände wie Unwissenheit, Dummheit, niederträchtige oder noch unwissendere Befehlshaber, Ungeschicklichkeit, Unerfahrenheit für die Jäger (zu Recht) nicht in Betracht, auch deren eigene Armut nicht, die das Gedicht implizit durchaus zu Verstehen gibt. Die Punkte, die aber aus dieser Perspektive benannt und angeklagt werden, gelangen zu einem karikaturistischen Detail und einer poetischen Aussagekraft, die weit mehr bezeichnet als nur Lenggries an jenem Tag. Jede Karikatur ist die Steigerung eines bestimmten Wesenszugs und somit eine Abstraktion unter diesem Gesichtspunkt. In jedem Detail wird die Grundkonstellation des Konflikts mit einer Unmittelbarkeit und Treffsicherheit aufgefaltet, dass das Gedicht über alle solchen Konstellation zu sprechen beginnt: Eine Razzia, die Fremde durchführen, zumal im Gebirge. Im Gebirge wird die Fremdheit räumlich eng, durch die schiere Kleinteiligkeit und Riesenerstreckung des Geländes. Ein Jäger aus München ist beispielsweise in den Bergen um Lenggries erst einmal genauso fremd wie in den Bergen um Kundus. Mit einem Blick darauf, woher die Jäger anrücken, zeigt sich erst, wie wenig es braucht, um jenes im Gedicht offenkundig gemachte Orientierungsgefälle signifikant werden zu lassen; die Jäger kommen aus Fall und Jachenau, vom Walchensee und aus Vorderriß, also aus Orten die südlich von Lenggries gelegen sind, noch weiter im Gebirge (9).

Die Polizeiaufgaben, die der Jäger im Gebirge zu übernehmen hat, sind durch jene Fremde nicht von jener (ebenerdigen) Zivilgesellschaft kontrollierbar, die ihn losgeschickt hat; ein Kennzeichen der militärischen Operation. Von seiner ungewohnten, freigestellten Willkür in die Enge getrieben findet sich der Jäger im Tal, und die Burg und Freiheit des Bergbauern wird seine Klaustrophobie, in der er fast notwendig falsch handeln muss. Dass er, zusätzlich angeheizt durch diese Phantasie der eigenen Unkontrollierbarkeit (10), auch eigene handfeste Interessen mitbringt, macht die Sache noch schlimmer. Den unkontrollierbaren Raum des Gebirges durch Exekutivgewalt maßregeln und kontrollieren zu wollen (als ob es keine anderen Mittel gäbe), ist der erste Schritt ins Desaster; dass der Kontrolleur selbst in diesen Raum eintaucht und unkontrollierbar wird, ist das Desaster selbst. Der satirisch-humorige Ton des Gedichtes quillt spätestens bei dieser Erkenntnis von Bitterkeit über: es gilt Gesang gegen Gewalt.

Die Gesetzesordnung, eine Ruhe, die, mit Wilhelm Heinse zu reden, auch in Kerkern herrscht, und die inszeniert werden soll, wie es im Gedicht angelegt ist, ist von genau der kontraintuitiven Abstraktion jeglicher Landesherrlichkeit, und folgt dem alten Muster: Meine Impotenz soll deine Tugend sein, meine Dürftigkeit deine Pflicht. Über Sinn und Unsinn des Verbots der Wilderei unter gegeben Umständen braucht hier nicht viel gesagt werden; mit einiger Wahrscheinlichkeit würden sich die Fronten hier wohl auf den Punkten verhärten, dass einerseits Gämsen und Wälder niemandem gehören und Jagdprivilegien so unhaltbar sind wie das feudale System, aus dem sie abgeleitet werden, und dass andererseits erfahrungsgemäß Allmende ein anderes Wort für die Vernichtung der betreffenden Ressource ist. Von einer heiligenden Wirkung des Zwecks kann in jedem Falle keine Rede sein. Welchen Stand das nun auch immer hat, was von den Jägern im vorliegenden Gedicht durchgesetzt werden soll, die Maßnahme der Durchsetzung selbst liefert die besten Gegenargumente: eingesponnen in die (das zu sagen sollte keine noch so scheinbar sachliche Erörterung versäumen) wunderbare Bildsprache und Theatralik des Gedichts.

Was als erstes ins Auge springt, und unter dem Thema der Kontrolle bereits anklang, ist der offene Eigennutz, mit dem die Jäger vorgehen, konfiszieren, stehlen (vgl. v.a. IV, XII, im Grunde: passim). Besonders die Gewehre sollen beschlagnahmt werden – weil die Jäger selbst keine haben, gerne hätten oder verkaufen wollen. Im Zuge dieser harten, merkantilen Interessen ist auf den mitgeführten Schriftführer gewiss kein Verlass; der Gemeindediener tut einfach mit, und sein Haus wird gewiss nicht durchsucht. Mit diesem Grundzug der gesamten Maßnahme einher geht zudem die Beliebigkeit und Willkür, mit der gesucht wird (vgl. I). Die Jäger wissen nicht, was sie finden werden, und scheinen nicht einmal sicher zu wissen, was sie exakt suchen sollen: ob nun z.B. Hirschhäute in ihr Aufgabengebiet fallen, oder nicht. Hier bahnt sich das Problem aller Kriegsführung im Gebirge, zumal gegen Nicht-Uniformierte, an: ein Informationsproblem, bzw. -gefälle. Das klingt trivial und ist es auch, aber das Gedicht zeigt, welche Fäden sich aus dieser trivialen Sachlage ziehen. Fortan determiniert das Informationsgefälle die ganze Konstellation. Es beginnt schon damit, dass die Wilderer längst wissen, dass woher und wie viele Jäger anrücken, bevor diese überhaupt das Dorf erreicht haben (II, III). Schon jetzt ist die Razzia zum Scheitern verurteilt: wer von außen ins Gebirge oder auch nur in ein bestimmtes Tal kommt, kann niemals das Moment der Überraschung auf seiner Seite haben. Lenggries wurde 1924 an das Netz der Bayrischen Oberlandbahn angeschlossen, ist aber noch heute südliche Endstation (11). Der Eindringling ist immer langsamer, und wenn er nicht langsamer ist als die Bergbewohner selbst, ist er doch langsamer als eine Zeichensprache, die sich im Gebirge entwickelt hat. Was das lachende lyrische Ich weiß (III), weiß wenig später sicherlich das ganze Dorf.

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