Die Gegenwart, was heißt das schon?
Der Kontext ist variabel, und jede seiner Änderungen verleiht dem Wort eine neue Bedeutung. Darin liegt die schöpferische Kraft des literarischen Zeichens. (Roman Jakobson: Die Zeit in der Systematik der Zeichen. in: Roman Jakobson, Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik. Frankfurt am Main 1982)
Lektüren ziehen Lektüren an und zwar auf verschiedenste Weise. In den letzten zwei Jahren habe ich mich durch verschiedenste Facetten des Werkes von Felix Philipp Ingold gelesen: Übersetzungen, Gedichte, Romane, theoretische Erwägungen usw., und ich habe das an verschiedenen Orten auch dokumentiert.
Zuletzt kam eben der aktuellste Roman des Autors hinzu: Noch ein Leben für John Potocki.
Aber nicht nur die Lektüre von Ingolds Texten selbst waren Ergebnis dieses literarischen Magnetismus, sondern eben auch die anderer Autoren. Zeitgenossen und historische Figuren. Als hätte ich mich in ein Paralleluniversum begeben.
Der zunächst äußerst vieldeutige Titel des neuen Romans löst sich auch nach dem ersten Kapitel nicht in Einfältigkeit auf, auch wenn er hier eine bestimmende Tendenz bekommt.
Der Erzähler nämlich testet im Auftrag einer Spirituosenfirma ein Computerspiel, in welchem John Potocki eine oder die zentrale Figur ist. Der Leser selbst schaut dem Erzähler gewissermaßen über die Schulter, wird dabei aber zugleich in die Konstruktion des Textes mit hineingezogen.
Damit hätte die Handlung einen Pflock in die Gegenwart eingeschlagen.
Da es sich aber bei eben jenem John Potocki um eine historisch belegte Figur handelt, bilden seine Lebensdaten weitere Pflöcke, zwischen denen sich die Handlung (oder das Spiel) entfalten oder vielmehr verwickeln kann.
Die Romanfigur John Potocki hat also eine Vorlage. Diese reale Person hat natürlich mit der Roman- und Spielfigur einiges gemeinsam. Auch wenn ihr Ende, das in der Überlieferung schon mehr als denkwürdig erscheint (Potocki hat angeblich den Metallknauf eines Dosendeckels zu einer Pistolenkugel zurecht gefeilt, um sich zu erschießen), von Ingold in einen Heißluftballon verlegt wird. Die Vergangenheit wird so gleichsam in ihren gegenwärtigen Momenten gezeigt. Beginnendes Flugwesen.
Schon die Vieldeutigkeit des Titels verspricht eine produktiv verwirrende Lektüre. Ein Zeitlabyrinth. Seine Romane „Die Handschrift von Saragossa“ und „Die Abenteuer in der Sierra Morena“ erschienen in verschiedensten deutschsprachigen Ausgaben, und wie dem so ist, scheinen sich die jeweils neusten dem Original immer weiter zu nähern.
Das ist ein merkwürdiger Umstand, nicht nur in Bezug auf diesen Roman, als würde die zeitliche Entfernung den Blick auf den Ursprung immer klarer werden lassen, als würden wir die Dinge im Grunde erst kurz vor ihrem Verschwinden erkennen. Aber der Ursprung selbst wird Erzählung.Wie dem auch sei, jedenfalls schreibt Ingold über die letzte Ausgabe von Potockis „Die Handschrift von Saragossa“, die im Jahre 2000 im Züricher Haffmans Verlag erschienen ist, in der Neuen Züricher Zeitung. Ich zitiere hier die Zusammenfassung der Besprechung aus dem Perlentaucher:
Die von ihm angesprochene "präkere Quellenlage" des Textes, die selbst diese "bisher umfangreichste deutschsprachige Ausgabe" zu einem "Kompilat von unsicherem Status" macht, wird da schnell zur Nebensache. Um so intensiver widmet sich Ingold der "mythopoetischen Einbildungskraft und der künstlerischen Ambition" des Autors und macht uns gleichzeitig klar, dass wir uns von diesem Roman weder eine Wirklichkeitsentsprechung noch einen rekapitulierbaren Plot erwarten dürfen. Stattdessen erwarte den Leser so ziemlich alles, was menschlichem Wissen und menschlicher Imagination erreichbar sei - ein Patchwork aus formalen und thematischen Versatzstücken des Schauer- Ritter- und Bildungsromans, der orientalischen Erzählkunst, der alteuropäischen Mythologie, der religiösen Erbauungsliteratur usw., usw.
Was Ingold hier über Potockis Roman sagt, könnte man auch über Ingolds Potocki-Roman sagen, abgesehen natürlich von der in Ingolds Fall wohl besseren Quellenlage bezüglich des Manuskriptes, wobei, was Ingold macht, ist, gewissermaßen Quellen zu imaginieren und mit vorhandenem Material zu verknüpfen.
In einem Kapitel am Ende des Buches, Potocki hat ein großes Fest zu organisieren, lädt der Held, zwar noch nicht alt, aber inzwischen gebrechlich, Stendhal ein, um ihn in poetologische Debatten zu verwickeln. Im Grunde versucht er mit der Hilfe des berühmten Romanciers, eine Ordnung für sein eigenes Material zu finden, was im Grunde misslingt, aber eben nur der Figur. Der Autor lässt Stendhal sagen:
Die Welt, die sie in ihren Büchern vorführen, ist trotz räumlicher und zeitlicher Beschränktheit eine offene Welt, die sich beim Lesen in all ihren Möglichkeitsformen offenbart, und so an einem Eigenen Wirklichkeitscharakter gewinnt.
Eine der Grundfragen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung scheint über den Satz Stendhals schon gelöst, und das ist die Frage nach der Vollständigkeit. Im Sinne einer offenen Welt kann ihre Konstruktion gar nicht auf Vollständigkeit zielen. Da die Kunstwelt aber auch keinen Abbildcharakter trägt, sondern eine Gegenwelt entwickelt, die der sogenannten Realität zuweilen recht nahe kommt, liegt auch hier die Vollständigkeit außerhalb ihrer eigenen Möglichkeit. Aber vor allem ist es unmöglich, in dieser Rezension vollständig auf Ingolds Roman einzugehen. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sich manche Passagen wie Meditationen zu philosophischen Themen lesen lassen, unter andrem las ich auf Seite 80 ff. so etwas wie eine Meditation über Vollständigkeit eben.
Das klingt jetzt ein wenig trocken, aber das klingt nur so. Der Roman bzw. Potocki bewegt sich über die verschiedensten Schauplätze Europas und Nordafrikas. Der Held erleidet Schiffbruch und wird am Strand eines Sultanats angespült, er verliebt sich, lässt sich von einem Pariser Schankwirt (namens Levinas!) ins Judentum einweisen, dient am Hofe des Russischen Zaren und trifft auf einen alten, aber frisch verliebten Klopstock.
Den Roman durchziehen Motive, wie die der Maschine und Menschmaschine. Wir begegnen dem Schachautomaten in verschiedensten Ausformungen, als verschleierter Frau, aber auch als jener Türke, in dessen Gestalt er in Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte auftaucht.
Durchbrochen wird die Erzählung immer wieder durch Aufzählungen und Listen, dass es eine Freude ist, die Aufzählung wird hier selbst zur strukturierenden Form, aber im Erzählgefüge eingebettet. Zweck und Selbstzweck zugleich, bis auf Seite 142 die Aufzählung selbst zum Bestandteil einer Liste wird.
Im Buch finden sich viele Abbildungen, die weniger als Illustrationen zu betrachten sind, sondern vielmehr in Material eingehen, und wie ich es gewohnt bin, blätterte ich mich vor der Lektüre durch diese Bilder, ohne zunächst einen Zusammenhang zwischen z.B. der Abbildung eines Tintenfisches, der Fotografie eines Baumstumpfes und einem Screenshot aus der Weltraumsaga Star Wars herstellen zu können. Meine Neugier aber war geweckt. Souverän spielt der Text mit historischer Motivik und Zeitgenossenschaft.
Dieser Roman ist bislang mein Roman des Jahres 2013.
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