Tollheit

Die Neuherausgabe einer Auswahl von Vincent van Goghs Briefen gibt Rätsel auf

Von Valeska BertonciniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Valeska Bertoncini und Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sprechen wir nicht über die Briefe Vincent van Goghs. Denn wer diese Briefe nicht gelesen hat – diese aufwühlenden, beredt artikulierten Dokumente des Ringens um den malerischen Ausdruck, um die Eroberung der Farbe und um die epistolarische Legitimation der Existenz als Künstler und als Mensch –, der hat sein Leben ohnehin verwirkt. Denn „nicht der Kunstgeschichte, sondern dem blutigen Mythos unserer Existenz als Menschen gehört van Gogh an“, wie Georges Bataille kurz und skrupellos konstatiert hat. Schweigen wir also hier über diese Briefe, für diese Briefe.

Sprechen wir lieber über die vorliegende deutsche Neuausgabe dieser Lebensdokumente. Da besteht nämlich schon deshalb Klärungsbedarf, weil bereits zwei deutsche Ausgaben existieren: die dreibändige von 1928, deren französischsprachige Teile immerhin Carl Einstein übertragen hatte, und die sechsbändige Edition von 1965–1968, übersetzt von Eva Schumann, die angetreten war, die Makel in der Übersetzung und den Mangel der Vollständigkeit ihres Vorläufers zu korrigieren.

Jetzt also diese dritte deutsche Ausgabe. Wozu nun tritt diese an? Was will sie korrigieren? Einmal offensichtlich – das liegt auf oder besser: schwer in der Hand – die Mehrbändigkeit der Vorgänger-Editionen. Denn die Neuausgabe besteht aus nur einem einzigen, baumstamm-schweren, gefühlt meterdicken Band, der trotz seiner Unhandlichkeit wohlgeraten ist vor allem deshalb, weil das Format an Briefseiten erinnern mag. Die Haptik des Papiers ist angenehm, man liest gerne, auch wenn man einen niederländischen Bauerntisch besitzen müsste, um den Band angemessen zu durchpflügen. Das ist etwas.

Auf dem Einband ist kursiv gesetzt und mit Anführungszeichen versehen zu lesen, dass manch einer „ein großes Feuer in seiner Seele“ habe, dann der Name des Verfassers, dessen Selbstportrait den Einband schmückt, darunter „Die Briefe“, und endlich in kleinerer Schriftgröße: „Mit 110 Originalzeichnungen“. Daran ist nun einiges misslich. Zunächst nämlich der bestimmte Artikel der Titelei: „Die Briefe“, weil der bestimmte Artikel suggeriert, man habe es mit allen Briefen Vincent van Goghs zu tun, was aber, trotz des beeindruckenden Volumens des Bandes, keineswegs der Fall ist. Lediglich ein Drittel der gesamten Korrespondenz hat es zwischen die festen Deckel geschafft. Wer sich also die komplette Chronologie der verbrieften existentiellen Ereignisse erhofft, um die inneren und äußeren Wendungen und Windungen dieses wilden, umgetriebenen Künstlerlebens nachzuverfolgen, wird enttäuscht. Das grenzt, mit Verlaub, an Bauernfängerei.

Ohne Zweifel ist die systematische Aufnahme der Originalzeichnungen aus den Briefen, wenngleich auch aus den Vorgängerausgaben nicht ganz unbekannt, ein großes Plus, aber auch diese Ankündigung ist eine Irreführung der Behörden, kreuzen doch immer wieder und immer mehr farbig abgebildete Öl-Gemälde den Lektüreweg, die nun einmal bei den Briefen nichts zu suchen haben und deren Bekanntheit allgemein vorausgesetzt werden darf. Allenfalls als – deutlicher vom Briefkorpus geschiedener – visueller Kommentar und Erinnerungsstütze, von welchen Bildern in den Briefen denn da gerade die Rede ist, wären diese Bildunterbrechungen legitim und hilfreich gewesen. Vermutlich aber plante man einen Mix aus Bildband und Briefausgabe und ersann diesen Kompromiss, um die museal bewanderten Adressaten nicht um ihre van Gogh-Bilder, um ihr van Gogh-Bild zu bringen. Ein Kompromiss, der den Band kompromittiert.

Nun ließen sich diese misslichen Umstände sicher aufhellen, wenn die drei wissenschaftlich dekorierten Herausgeber zunächst und deutlicher erklären würden, was zu dieser Ausgabe geführt hat. Etwa, wie eher beiläufig mitgeteilt, dass im Laufe ihrer 15-jährigen Forschungsarbeit neue Briefe aufgefunden, andere neu datiert werden konnten und man sich deshalb entschlossen hat, den Gesamtbestand neu zu transkribieren und neu durchzunummerieren, um der Forschung eine möglichst gesicherte Grundlage zu verschaffen; dass dieser revidierte Bestand – immerhin das wird verraten – in einer sorgfältigen, wissenschaftlich besorgten Gesamt-Web-Edition der Originalbriefe in Faksimile mit Umschrift und englischer Übersetzung zur Verfügung gestellt werden und mit sämtlichen Zeichnungen vorbildlich verknüpft werden konnte (vangoghletters.org, 2009, seitdem mit laufenden Updates); dass diese Netzausgabe inzwischen zugleich auf Niederländisch, Englisch und Französisch auch gedruckt vorliegt und deshalb, weil nun die alten Ausgaben numerisch obsolet geworden sind, auch eine deutsche Neuausgabe notwendig geworden ist – das wäre eine Begründung gewesen.

Hätte man aber nun mit einem solchen Ansinnen ernst gemacht, hätte man die bereits bestehenden Übersetzungen lediglich den neuen Erkenntnissen anpassen und alle noch nicht übersetzten Briefe einpassen können, um die Ausgabe auch in einer parallelen deutschen Webedition zur Verfügung zu stellen und also den Gesamtkorpus der Briefe nach letztem Stand in neuer Nummernfolge auf Deutsch tatsächlich neu zu edieren. Stattdessen begnügt man sich aber auch hier mit dem kompromittierenden Kompromiss einer deutschsprachigen Auswahl, verweist ansonsten auf die Web-Edition und fährt entschieden halbherzig-zweigleisig.

Das aber hat zur Folge, dass die HerausgeberInnen nun erklären müssten, warum man die vorliegende Auswahl so getroffen hat, wie man sie getroffen hat, warum also welche Briefe aufgenommen und neu übersetzt, welche ausgespart worden sind und warum man die ausgesparten Episteln weder einer Publikation noch einer neuen Übersetzung für würdig erachtet hat. Denn für die Neuübersetzung, die sicherlich schwierig und aufwendig gewesen ist, muss es ja Gründe in den beiden vorherlaufenden Übersetzungen geben, sie müssen Schwachstellen besessen haben, die so gravierend gewesen sein müssen, dass man sich zu dem bedeutenden Schritt entschloss. Wenn aber die alten Übersetzungen so mangelhaft gewesen sein sollten, wäre es unabdingbar gewesen, erstens zu erfahren, worin denn ihr Mangel bestanden haben mag, und zweitens, warum, wenn sie denn solch gravierende Mängel besaßen, nicht tatsächlich alle Briefe neu übersetzt worden sind. Was nutzt eine Neuübersetzung, die nur einen Teil neu übersetzt? Soll sich der museal bewanderte Interessierte nun alle nicht aufgenommenen Briefe, sofern er sie auf Deutsch lesen möchte – nächster Kompromiss –  in den alten Ausgaben nach alten Nummerierungen zusammensuchen in einer Übersetzung, der man durch die neue vorliegende ja gerade ihre Dignität abgesprochen hat? Oder soll er sich die ausgeschiedenen Episteln, wie von den Herausgebern nahegelegt, nach der Netzausgabe zusammensuchen, um sie sich aus dem Niederländischen, dem Englischen und Französischen selbst zu übersetzen? Wofür dann der neue übersetzerische Aufwand? Gäbe es ein Ethos des Herausgebens, dann müssten die HerausgeberInnen auf diese Fragen antworten, ihr Konzept aufhellen und ihre Entscheidungen darlegen und begründen. Was leider nicht geschieht.

Auch auf einen Sachkommentar wird verzichtet, um abermals auf die Web-Edition zu verweisen. Ist ein Sachkommentar aber nötig, so möge man ihn doch bitte auch auf Deutsch der Neuausgabe beigeben. Wird hier nicht abermals die Klientel enttäuscht, auf die das Buch abzielt? Die Verwandlung einer wissenschaftlichen Ausgabe in ein populäres Auswahlwerk gerät in immer neue Sackgassen. Und zur Textfassung selbst zu erfahren ist nur dies: Eigentümlichkeiten („unter Beibehaltung der ursprünglichen Anordnung [?] und von van Goghs eigentümlichem Stil“) seien bewahrt. Zudem: Van Goghs unterschiedliche Unterstreichungen seien in Kursivierungen, in Kapitälchen und Versalien aufgelöst. Wo eine einfache Lösung gut täte (Unterstreichungen), begeht man eine dreifache, das Auge strapazierende Dummheit. Das alles auf einer dreiviertel Seite.

Anstelle vernünftiger editorischer Erklärungen erhält man nun ein 60-seitiges Vorwort der drei HerausgeberInnen, das mit der weltentiefen ersten Einsicht anhebt: „In seinen Briefen und Kunstwerken rührt Vincent van Gogh (1853–1890) an Sehnsüchte und Gefühle, die jeder Mensch kennt.“ Nicht nur der enervierende Zusatz der Lebensdaten, die haarsträubende Banalität des Befundes und die Zuschreibung platten Sentiments an „jeden Menschen“, sondern auch die fragwürdige Neben- und Gegenordnung von Sehnsucht und Gefühl lässt tatsächlich „jeden Menschen“ den Band augenblicks wieder zuklappen. Denn den Durchgang durch das schwierige Leben Vincent van Goghs, der folgt und in dem in den Zwischentiteln erklärt wird, dass Vincent van Gogh „einen komplexen Charakter“, eine „Bindung zu Theo“ und eine „liebevolle, schützende Familie“ besessen habe und immer so weiter, den erspare man sich, mit Verlaub, dann doch. Und ob eine Übersetzung, die van Goghs grundstürzende Begegnung mit der siegreichen Himmelsherrschaft der provencalischen Sonne, mit der „glorreichen Sonne“ des Südens, wie Eva Schumann übersetzt hatte, zu allerweltswetterfühligem „prachtvollen Sonnenschein“ verflacht, wirklich zu rechtfertigen ist, darf angezweifelt werden. Ist dies schon Tollheit, heißt es bekanntlich im Hamlet, so hat es doch Methode. Diese Tollheit hier hat keine. Warten wir also – denn am Warten liegt alles – auf eine neue deutsche Ausgabe, die Sinn ergibt, und erfreuen uns bis dahin an der hervorragenden englischsprachigen Web-Edition.

Titelbild

Vincent van Gogh: „Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele“. Die Briefe.
Ausgewählt und herausgegeben von Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas und Susanne Röckel unter Mitarbeit von Andrea Prins.
Verlag C. H. Beck, München 2017.
1056 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783406685316

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