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Leseprobe 2
Verlorener Sohn Der lange Gang erstreckte sich in die Ewigkeit. Zumindest auf den ersten Blick. Langsamen Schrittes bewegte sich der Engel vorwärts. Seine schwarzen Stiefel berührten abwechselnd die dunklen Steinplatten, welche den Boden bildeten. Eine schwarze Hose aus dickem Stoff umschmeichelte seine Beine, während ein gleichfarbiges Hemd seinen Oberkörper bedeckte. Die obersten Knöpfe ließ er dabei offen. Darüber trug der Engel einen bodenlangen, dicken braunen Wintermantel mit einem prachtvollen Kragen aus Adlerfedern, die seinen Nacken verhüllten. Sein Blick fiel auf die Wände um ihn herum, welche aus massiven schwarzen Felsen bestanden, die gleichmäßiger nicht hätten sein können. In perfekter Symmetrie erhoben sie sich und verschmolzen gut zehn Meter über ihm zu einem einwandfreien Halbbogen. Der Totengang führte direkt zum Thronsaal des Seelenpalasts. Natürlich wäre es für den Erdengel ein leichtes gewesen, direkt dorthin zu fliegen, doch es ziemte sich nicht, ohne direkte Aufforderung im Thronsaal zu erscheinen. Daher der umständliche Weg über den Totengang. Uriel hatte keine Ahnung, wie oft in seinem unsterblichen Leben er diesen Weg bereits beschritten hatte. Gerade als sein Leben als Malak Al-Maut begonnen hatte, war diese Umgebung so etwas wie sein zweites Zuhause geworden. Er konnte sich kaum noch vorstellen, jemals im Erdpalast gelebt zu haben. Und dies über Äonen hinweg. Die Umgebung wirkte gespenstisch, leer und tot. Nichts zeugte von Leben. Man hörte keine weiteren Bewegungen, keine anderen Geräusche, kein einziges Lebewesen außer Uriel selbst. Bis auch seine Schritte verstummten, als er das Ende des Weges erreichte. Vor ihm ragte das schwere schwarze Tor auf. Es bestand aus dickem, glattpoliertem Obsidian und besaß keine einzige Unebenheit. Es gab weder Griffe noch Klinken. Nichts durfte seine Reinheit entweihen. Außerdem waren solche Details unnötig, denn allein die Malak Al-Maut waren imstande, es zu öffnen. Uriel streckte seine rechte, mit einem Stoffhandschuh versehene Hand aus. Für einen kurzen Augenblick erstrahlte ein schwaches grünes Licht über seiner Handfläche. Es schwebte davon, berührte den Obsidian und ließ dessen Rand aufleuchten. In der Mitte formte sich ein senkrechter Schnitt, der sich daraufhin spaltete. Wie zwei Flügeltüren schwang der Stein auf. Uriel wartete, bis der Spalt groß genug war, dann schritt er hindurch. Erneut hallten seine Schritte wider, als er sich zum Zentrum des Thronsaals vorwagte. Uriel konnte keine Details ausmachen, da fast der gesamte Saal in Finsternis lag. Allein einzelne, spärlich gesäte grüne Flammen, die wie Irrlichter in der Luft schwebten, erhellten geringfügig die Dunkelheit. Dem Erdengel war die Umgebung jedoch vertraut. So wusste er genau, wo sich der Thron befand und ging geradewegs darauf zu. Man erkannte auch von diesem Prunkstück, das auf einem über sieben Stufen zu erreichenden Podest stand, nur wenig Einzelheiten. Er war hauptsächlich in Schwarz und Grün gehalten und beherbergte eine hochgewachsene Gestalt normaler Statur. Sie war zu stark in Schatten gehüllt, um Genaueres zu erfassen. Drei Meter davor kam Uriel zum Stehen. Er kniete nieder und verbeugte sich tief vor der thronenden Gestalt, die er nur allzu gut kannte. Schließlich verdankte er ihr sein neues Leben seine zweite Existenz. »Ich bin zurückgekehrt, Vater wie ich es versprochen habe«, erhob Uriel seine Stimme. »Das sehe ich, mein Sohn«, antwortete der Mann in einem ruhigen Ton. »Und nun erhebe dich.« Zur Bekräftigung seiner Worte hob er seine rechte Hand. Uriel kam der Aufforderung nach und stand auf. Sein Kopf blieb dabei jedoch leicht gesenkt. Aus Ehrerbietung. »Wie ich spüren darf, hast du ihn mitgebracht?« Beide wussten, dass es eine Feststellung und keine Frage war und somit eine Antwort sinnlos. Dennoch gebot es der Anstand, die Tatsache laut auszusprechen. »Ja, Vater. Wie es sein Wunsch war.« Der Mann auf dem Thron nickte. Seine Gesichtszüge blieben dabei weiterhin in der Finsternis verborgen. »Und was gedenkst du nun mit ihm anzufangen? Er ist weder tot noch eine Seele. Er hat im Hades nichts verloren. Allein wir Malak Al-Maut und die Seelen bewohnen dieses Reich. Er ist nicht willkommen.« »Aber er ist der Messias«, erwiderte Uriel vorschnell und viel zu laut. Am liebsten hätte er sich sofort selbst getadelt, doch die kurze Regung des Mannes genügte vollständig, um dem Erdengel seinen Fauxpas offenzulegen. »Das behauptest du, Uriel«, erwiderte der Mann erbost. Uriel wusste genau, dass, wenn sein Vater ihn mit seinem Namen ansprach, er einen üblen Nerv getroffen hatte. Er musste schleunigst einlenken. »Es tut mir leid, Vater. Ich weiß, was du von meinem Handeln haltet. Dennoch habe ich mich dafür entschieden. Nun liegt es an mir, das neue Schicksal voranzutreiben.« »Du weißt so gut wie ich, dass wir in das Schicksal nicht eingreifen dürfen. Warum auch immer offenbarte dir der Spiegelsee einen weiteren Pfad der nahenden Zukunft. Ich riet dir, dich nicht einzumischen, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen doch du wolltest nicht hören.« Der Mann wandte sein Gesicht ab. Er wirkte beschämt, als könne er seinem Sohn nicht mehr länger in die Augen blicken. »Hätte ich einfach so zusehen sollen, wie Assiah untergeht?«, erwiderte Uriel abermals mit Zorn in der Stimme. Eigentlich müsste er sich zügeln, doch das war ihm in dieser Situation nicht möglich. Im Gegenteil. Er redete sich immer mehr um Kopf und Kragen. »Hätte ich nur dasitzen und darauf warten sollen, wie die Welt der Menschen auseinander bricht? Vater, bitte, dies kann niemals das Schicksal sein, das unser Schöpfer vorgesehen hat. Wenn Assiah gefallen wäre, dann auch die Menschheit und damit seine gesamte Schöpfung. Das kann niemals unser Schicksal sein.« »Und doch habe ich, haben wir es gesehen, Uriel!« »Aber, Vater « »Nein, Uriel! Der Spiegelsee offenbart das Schicksal. Nur einer Handvoll Engel ist es möglich, einen Tropfen davon zu erblicken. Und ich habe den Untergang gesehen. Dadurch ist er vorbestimmt.« »Und doch gab es ein weiteres Schicksal. Dieses Schicksal.« »Nur zu welchem Preis?« Uriel stockte der Atem. Er wusste keine Antwort. Nein. Vielmehr hatte er sich zu sehr vor dieser Frage gefürchtet, da er sie sich selbst schon tausende Male gestellt hatte. »Niemand kann sagen, was dein Handeln dem Lauf des Schicksals angetan hat. Wer weiß, ob dein Zutun nicht noch größeres Unheil hervorbringt.« »Doch trotz allem ist er der Messias, Vater « »Wie ich schon sagte«, er sah seinem Sohn abermals tief in die Augen, ohne sein Antlitz in den Schein der grünen Flammen zu tragen, »dies behauptest du. Dafür gibt es keine Beweise.« »Noch nicht«, erwiderte Uriel gekränkt. Der Mann wurde hellhörig. »Nun denn. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Sag mir, mein Sohn, was gedenkst du nun mit ihm zu tun?« »Ich hoffe, dass er erkennt, warum er hier ist. Daraufhin werde ich ihm helfend zur Seite stehen.« »Er erinnert dich stark an dich selbst, nicht wahr, mein Sohn?« Uriel nickte zögernd. »Ich verstehe deine Beweggründe. Es ist nicht so, dass ich dich hasse oder dafür verurteile, was du getan hast. Der Spiegelsee muss einen Grund gehabt haben, dir eine weitere Version der Zukunft zu offenbaren. Dennoch niemand weiß, was nun geschehen wird. Niemand kann uns sagen, ob er wahrhaftig der Messias ist, von dem uns Äonen zuvor berichtet wurde.« »Doch was, wenn er es wirklich ist?« »Dann steht uns eine noch düstere Zukunft bevor, als ich mir ausmalen möchte. Vielen mag der Messias als Erlöser erscheinen, doch in Wahrheit kann sein Auftauchen alles verändern, gar in den ewigen Abgrund stürzen. Du hast gesehen was geschieht, wenn ein Mensch die Macht eines Engels erhält. Nichts hat mehr Bestand.« »Dennoch glaube ich daran, dass er ein wahrer Messias werden kann.« »Was macht dich so sicher, dass er Assiah nicht abermals vernichten wird? Oder gar Atziluth?« »Dass er am Ende das Richtige getan hat«, antwortet Uriel gelassen und voller Überzeugung. »Dass er am Ende die Dunkelheit besiegt hat.« »Ja, auf dein Eingreifen hin. Und glaube nicht, er habe die Dunkelheit in seinem Innersten bereits besiegt. Du selbst weißt, dass es nicht so einfach ist.« »Genau deswegen will ich ihm helfen. Darum habe ich seinen Ruf erhört. Sein Wunsch nach der Seele seiner Freundin ist nicht alles, was ihn in den Hades getrieben hat. Und ich vertraue darauf, dass er die Einsicht in seinem Herzen finden wird.« »Du bist wahrlich das Kind der Malak Al-Maut. Du bist noch so jung, was das Dasein als Todesengel betrifft. Ich hoffe, deine Naivität bringt uns nicht allen das Verderben.« »Du lässt ihn also gewähren?«, fragte Uriel unsicher. »Ich gestatte dir, deinen nun gewählten Weg weiterzugehen. Du hast die Vernichtung Assiahs verhindert. Du hast diesen Jungen gerettet. Seine Seele ist nicht in den Hades eingekehrt, wie es vorbestimmt war. Nun liegt seine Existenz in deinen Händen. Sein Schicksal ist so ungewiss wie das deine. Möge die Zukunft zeigen, was dies für uns bedeutet.« »Danke, Vater.« »Danke mir nicht«, erwiderte der Mann ohne Schärfe in der Stimme. »Noch habe ich kein Vertrauen in diesen Jungen und wenn ich ehrlich bin, auch nicht in dich. Ich habe keine Vorstellung, was genau du nun mit dem Jungen anstellen willst, vor allem hier, im Reich der Toten. Dir sollte doch klar sein, dass sich sein Wunsch niemals erfüllen kann. Sie ist « »Ich weiß, Vater, ich weiß «, unterbrach Uriel ihn zum ersten Mal in dieser Konversation. Erneut hatte der Mann auf dem Thron einen wunden Punkt getroffen. Diesmal konnte Uriel es nicht zulassen, dass er diese Tatsache aussprach. Sie hätte womöglich seine letzte Hoffnung in die Zukunft des Jungen zerschmettert. »Warum also, Uriel? Warum das alles?« Der Erdengel senkte sein Haupt und schloss die Augen. Erinnerungen flatterten über seine Lider, ließen ihn in die Vergangenheit reisen. Freude, Trauer, Hoffnung, Schmerz, Krieg, Dunkelheit, Blut, Wut, Verlust, Zorn, Tod. Alles vermengt in einem unsterblichen Strudel im See der Zeit. Uriel schwieg, atmete tief ein und aus, öffnete dabei gelassen die Augen und blickte starr in die verborgenen seines Vaters, ehe er mit fester Stimme antwortete. »Weil er ist wie ich und weil ich durch ihn vielleicht die Möglichkeit erlange, für meine Sünden der Vergangenheit Buße zu tun.« Nun senkte der Mann sein Haupt. Er gab sich geschlagen. »Dann gehe deinen Weg, mein Sohn. Ich hoffe wirklich, du findest, was du suchst.« Diesmal bedankte sich Uriel nicht. Ein Kopfnicken musste genügen. Der Erdengel wandte sich ab. Ein braunes Licht umschloss ihn wie eine schützende Aura. Sekunden später erlosch seine Gestalt vollständig und hinterließ lediglich ein Meer aus Adlerfedern. Dabei entgingen ihm die letzten Worte seines Vaters. »Viel Glück mein Sohn.« Weitere Leseproben
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