|
Operation Titanensturz
Die Dunkelheit war undurchdringbar. Gedämpft hörte er Stimmen in der Finsternis. Wo war er?
Er war sicherlich noch immer in der Kapelle. Die Wände waren abgerundet und glitschig, und er hatte nicht viel Platz. Seine Arme waren gebunden, eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Befand er sich in einer Art Röhre? Er konnte sich bewegen, doch dies verursachte ihm höllische Schmerzen.
Ein schwacher Lichtschimmer durchdrang die Schwärze. Und er spürte etwas, das er noch nie gekannt hatte. Einen seltsamen Hunger. Ein Verlangen, wie er es noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Er begriff instinktiv, dass er nicht dagegen ankämpfen konnte.
Wo waren Kroog und Hauser?
Langsam näherte er sich der Lichtquelle. Selbst aus dieser Entfernung schmerzte das Licht in seinen Augen, wie feine Nadeln stach es in seine Pupillen. Aber es zog ihn an, denn er musste diesen Hunger stillen. Also begann er zu kriechen. Mit kraftvollen Bewegungen zog er sich voran, schob sich immer näher an die ferne Lichtquelle. Denn der Hunger trieb ihn vorwärts, ließ ihn die Schmerzen vergessen. Er spürte Übelkeit, sein Magen verkrampfte sich.
Und da wurde es ihm bewusst. Dass er nicht Sol Cryjack war, sondern etwas anderes, das man nur schwer einen Menschen nennen konnte. Und er schob sich die glitschige Röhre entlang, dem Licht und den Stimmen entgegen.
Sol fuhr aus dem unruhigen Schlaf hoch. Verwirrt sah er sich um, versuchte einzuordnen, wo er war und was um ihn herum geschah. Hastig suchten seine Finger nach dem Holo-Kristall. Als sie ihn fanden beruhigte er sich. Doch dann sah er Kroogs besorgtes Gesicht in der verstaubten Säulenreihe auftauchen, und ihm wurde alles klar.
Diese Alpträume entwickelten sich langsam zu einem Problem.
Der Alte hatte aus seiner Vorratstasche etwas Essbares herausgekramt und für sich und Hauser eine Art Frühstück zubereitet. Sol wollte weder wissen, was das war, noch daran teilhaben. Er kannte Kroogs Kochkünste. Auch wenn der Alte ein passables Mahl aus dem üblichen zähen Rattenfleisch und den selbst gesammelten Pilzen zaubern konnte, Sol hatte keinen Hunger. Mehr denn je sehnte er sich nach einer Tasse Kaffee. Er brauchte einen Moment, um wach zu werden. Seine Beine schmerzten und seine Kleidung fühlte sich klamm an. Hauser hatte sich einigermaßen erholt, allerdings wusste Sol nicht, ob Kroog ihm bereits eine weitere Dosis des Schmerzmittels gegeben hatte. Ein leises Plätschern in der Nähe irritierte ihn.
Kroog sagte: Ein Abwasserrohr, nichts besonderes.
Hast du herausgefunden, was hier nicht stimmt?
Wie ich bereits gesagt habe, das Mosaik an der Decke geht auf die USith zurück, während die Bauweise humanarchitektonische Züge trägt. Der Name tut nichts zur Sache, ich denke, wir können den getrost ignorieren. Wahrscheinlich wurde er bewusst zur Irreführung gewählt. Herzhaft biss er in sein Frühstück.
Und wenn der Künstler ein Eklektiker war?
Solomon! Mach dich nicht lächerlich. Wenn jemand eine kunstvolle Kirche mitten auf einem Planeten im Nirgendwo baut, dann weiß er genau, was er tut! Denk an den Rest der Stadt. Nichts aus der Gründerzeit wurde ohne Grund gebaut, alles folgt genauen Überlegungen, einem funktionalen Schema. Kroog lächelte.
Es gefiel ihm nicht, aber der Alte hatte Recht. Wieder einmal. Aber was könnte die Intention sein?
Ich habe mir das Mosaik genau angesehen. Es dreht sich um die vorbiblische Sage des Weltenwurms, eine Legende die wir auf der Erde nur bedingt kennen, die für die USith jedoch eine viel bedeutendere Rolle spielt. Wir kennen dies lediglich als die Andeutungen aus der Mythologie. Gemäß Psalm 104,26 hat Gott den Leviathan geschaffen, und er tat dies noch vor dem Menschen. Dies begründet eine gute Frage die Theodizee! Kann das Böse das Spielzeug Gottes sein? Ist Gott gut, da er ja Böses geschaffen hat?
Kroogs Benehmen verfehlte seine Wirkung auf Hauser nicht. Der Arbeiter starrte das Knautschgesicht mit offenem Mund an, doch er bezweifelte, dass Hauser wirklich verstand, wovon der Rattenfänger sprach.
Unsere Vorstellung des Leviathan wurde durch verschiedene altorientalische Mythen überliefert. Denk an die mesopotamische Tiamat, an das kanaanitische Seeungeheuer Lotan. Aber sie sind nicht vergleichbar mit dem Weltenwurm der USith. Sieh dir die Engel auf der Darstellung an, diese missgünstig dreinschauenden eifersüchtigen kleinen Wesen. Siehst du sie?
Brav nickte er, um dem Dozenten sein Verstehen zu bestätigen. Er folgte den Anweisungen und betrachtete die Gesichter der Engelsfiguren. Auf den ersten Blick hatten die androgynen Knaben mit den mottenartigen Flügeln nichts Außergewöhnliches, aber es gab da ein unterschwelliges Element, etwas, das störte. Es fiel schwer, den Finger darauf zu legen, aber etwas stimmte in ihrer Darstellung nicht. Sol betrachtete den finsteren Schwung ihrer Augenbrauen und die ungewöhnlichen Augenformen. Die Bosheit in ihren Blicken war absonderlich, und wirkte abgrundtief. Noch ein Rätsel, das er nicht verstand.
Das Plätschern des Rohres drang wieder an seine Ohren. Er mochte dieses Geräusch nicht.
Lauf weg!
Er sah sich um. Hatte jemand etwas gesagt? Er sah Hausers fragenden Gesichtsausdruck, doch der galt den Ausführungen des Rattendozenten. Waren sie allein hier unten?
Die USith sind überzeugt von der transmateriellen Natur des Universums, und speziell des Metaphysischen. Das heißt, alles ist materiell, auch was wir die Seele nennen, und auch Gott! Es ist nur auf einer für uns unerreichbaren Ebene der Protagenoi, der voneinander getrennten materiellen Realitäten. Sie behaupten, sie haben ihn getroffen und mit den Malach, gesprochen.
Den Malach?
Ein hebräisches Wort, gleichbedeutend mit unserem Engel. Aber man weiß mittlerweile, dass man den Begriff nur bedingt gleichsetzen kann. Das wirft ein völlig neues Bild auf diese Darstellung, oder?
Aber man kann all das nicht beweisen, höchstens glauben. Für unsere Technologie verwenden wir die Überlagerung von Physis und Turbulenz, und dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich erwiesen.
Wissenschaft! Das sieht dir ähnlich! Aber nun sieh dir diesen Jesus Christus an.
Er deutete auf einen Punkt im Deckengemälde, der nur schwerlich die Aufmerksamkeit eines Betrachters auf sich ziehen konnte. Die Darstellung zeigte, wie er seinem steinernen Grab entstieg, während der heilige Geist in Form eines strahlenden Vogels über ihm schwebte. Doch irgendetwas missfiel Sol. Er hegte den Verdacht, dass der Künstler an dieser Stelle einen Fehler gemacht hatte, den er jedoch nicht benennen konnte.
Das ist nicht Jesus!
Kroog lächelte wissend. Genau das ist es. Ich, der unbedarfte Betrachter, soll das zwar glauben. Aber es ist nicht Jesus. Die Stigmata fehlen, und die Wunde in seiner Seite ist falsch platziert. Und sie stammt nicht von einer Lanze.
Sol betrachtete die Seite des gefälschten Jesus. Dünne rote Striemen zogen sich über die blasse Haut. Der Vogel?
Genau das ist es. Die Wunde stammt von des Vogels Krallen. Und dieser Vogel ist nicht der heilige Geist, sondern ein Adler. Der Adler Ethon. Ein breites Grinsen verunstaltete das Knautschgesicht. Darf ich vorstellen? Der wieder auferstandene Prometheus.
Sol betrachtete die Gestalt, doch dann durchzuckte ein stechender Schmerz seinen Schädel. Und diesmal hörte er die Stimme ganz deutlich.
Flieh!
Instinktiv fuhr er mit der Hand zur Stirn. Er spürte seinen Schweiß auf der Handfläche, fühlte sich fiebrig. Das war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte. In seinen Ohren konnte er ein schwaches pfeifendes Geräusch vernehmen.
Was war los mit ihm?
Wahrscheinlich wuchs ihm diese ganze Geschichte über den Kopf. Er verharrte noch ein, zwei Sekunden, dann wurde er sich seiner Umgebung wieder bewusst. Und er sah, dass Kroog ihn mit besorgtem Gesicht beobachtete.
Flieh oder du stirbst!
Wie ein Flüstern zuckte der Gedanke durch seinen Schädel. Sol versuchte sich auf sein Verhör zu konzentrieren. Dann hörte er das Schleifen erneut. Doch diesmal war es laut und deutlich. Hauser fixierte ihn mit seinen leidenden Augen. Dann sah er auf Kroog. Langsam zog Sol seine Waffe.
Kroog, wo ist das Abflussrohr?
Der Alte fuhr herum. Er sah ihn verwirrt an. Sekunden verstrichen, ehe der Rattenfänger reagierte. Dort hinter der Säule, warum?
Sol stürzte nach vorn. Packt alles zusammen, wir müssen weg!
Mit zwei langen Schritten erreichte er den genannten Steinpfeiler. Er verbarg sich dahinter und spähte vorsichtig auf das rostige Rohr. Ein kleiner Rinnsaal tropfte gemächlich aus der dunklen Öffnung in den Innenraum der Kapelle. Doch es war still. Seine Augen konzentrierten sich auf den Bereich, der von seiner Taschenlampe erhellt wurde.
Dann bemerkte er es.
Der Rinnsaal floss nicht gemächlich, sondern in schwachen Schüben, als würde jemand das Wasser in kurzen Abständen nach außen pressen. Als krieche jemand durch das Rohr auf sie zu. Jemand, oder etwas. Übelkeit stieg in ihm auf. Eilig lief er zu seinen Weggefährten. Rücksichtslos trieb er sie zum Ausgang der Kapelle.
Das schleifende Geräusch in ihrem Rücken wurde lauter und lauter.
Sie hetzten den Kanal entlang, so gut es Hausers Zustand zuließ. Sol hatte gute Lust, den gierigen und verlogenen Arbeiter zurückzulassen, aber wie so oft tat er sich schwer, den Mann für die Umgebung verantwortlich zu machen, die ihn geformt hatte. Aus weiter Ferne drang ein rauschendes Geräusch an ihre Ohren. Sicherlich hatte das Rauschen mit dem Wasser des Kanals zu tun. Wo die Wasserstraße noch am Vortag völlig vertrocknet war, konnte er nun eine Wassertiefe von mindestens einem Meter ausmachen. Woher war das Wasser gekommen? War einer der an den Kanälen angeschlossenen Stauseen, welche die größten Trinkwasserspeicher der Stadt darstellten, geöffnet worden?
Die kunstvollen Fassaden, deren bröckelndes Gestein den schwungvollen Konturen etwas Trauriges verlieh, sahen teilnahmslos auf die kleine Gruppe herab. Er betrachtete die halbverfallenen Häuser, deren betholitgraues Gestein die Fassadenfarbe nicht hatte halten können. Bestimmt war dies einmal ein farbenprächtiger Ort gewesen, mit roten, grünen und gelben Gebäuden, doch irgendwann waren die Farben verblasst. Schließlich waren sie abgebröckelt und die Ratten hatten den verbliebenen Putz vertilgt.
Das venezianische Viertel in all seiner verblichenen Schönheit war ein Ort der Ruhe und Einsamkeit, doch an diesem Tage war alles anders. Die Ruhe glich mehr einer Atempause zwischen zwei panischen Luftzügen. Das schleifende Geräusch aus der Kapelle ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. War es vielleicht doch nur Einbildung gewesen? Er wagte es nicht, sich einzugestehen, dass es schließlich nicht das erste Mal wäre.
Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Die Ratten, wo waren sie? War das venezianische Viertel nicht immer ein Paradies für die Rattenfänger gewesen? Eine ungestörte Parzelle für das Ungeziefer und die Männer, die es jagten? Aber wo waren die Viecher?
Kroogs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
Langsamer! Hauser macht sonst schlapp!
Sol hatte gute Lust dem alten Wichtigtuer zu sagen, dass der Kerl diese Behandlung am meisten verdient hatte, doch er schluckte die Bemerkungen herunter. Der Alte hatte Recht, ein toter Hauser nützte niemandem. Aber er spürte Panik in sich, die er sich nicht erklären konnte und die ihn nur widerwillig anhalten ließ.
Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit. Mehr noch als in der Kapelle konnte er die Geräusche hören, und allmählich wurde ihm klar, dass sie nicht von einer einzelnen Quelle verursacht wurden. Hatte er in den letzten Stunden noch Zweifel gehegt und seine überreizten Nerven für die Dinge verantwortlich gemacht, so hatte er nun Gewissheit. Sie waren nicht allein hier unten.
© http://www.andrae-martyna.de Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|
|