Die Antiquiertheit des szenischen Schreibprozesses II

November 22nd, 2012 § 0 comments Autor: Ulf Schmidt

Thea­ter ist ganz selbst­ver­ständ­lich ein kol­la­bo­ra­ti­ver Pro­zess, aus dem, über­ra­schen­der­weise, nur eine Funk­tion nahezu kom­plett aus­ge­schlos­sen ist: die Schrei­ber. Das sorgt dafür, dass „eigen­stän­dige“ Texte ent­ste­hen, mit denen Thea­ter meis­tens in die­ser Form, mit die­ser Beset­zung, in die­ser Tona­li­tät nichts anfan­gen kön­nen. Und es sorgt auch, auf­grund der damit ver­bun­de­nen Unge­wiss­heit hin­sicht­lich der Finan­zie­rung der eige­nen Arbeit, dafür, dass Schrei­ber nach eini­gen Tex­ten auf­ge­ben. Wer wäre so dumm, seri­en­weise Texte zu pro­du­zie­ren, die keine Abneh­mer fin­den? Die nur ein paar­mal auf einer Neben­stätte gespielt wer­den? Die, selbst wenn sie Ein­nah­men erbrin­gen, diese Ein­nah­men – auf­grund der lang­wie­ri­gen Vor­lauf­zei­ten – so spät kom­men, dass inzwi­schen irgend­ein Brot­job ange­nom­men wer­den muss? Der übli­cher­weise durch­aus für eine Aus­las­tung in einem Maße sorgt, dass kon­zen­trier­tes Schrei­ben dann nicht mehr mög­lich ist. Dass die ers­ten Arbei­ten direkt eine Per­fek­tion haben, dass meh­rere Häu­ser sie spie­len, ist zumeist nur dem jähr­li­chen Hype-Autor gegönnt. Der zwei oder drei Texte spä­ter dann wie­der in der Ver­sen­kung ver­schwin­det. Oder einer Hand­voll Groß­au­to­ren von der Kate­go­rie Handke, Strauß, Jelinek, die „es geschafft“ haben.

Hin­ter die­sem Umgang mit Schrei­bern und Tex­ten schlum­mert noch immer der Mythos vom Ori­gi­nal­ge­nie, vom aus sich selbst und ein­sam schaf­fen­den Schrift­stel­ler, der in sei­nem Stüb­chen den Kampf mit sich und der Welt auf­nimmt und als Sieg die­ses Kamp­fes einen Text vor­legt. Die­sen Mythos gilt es zu zer­trüm­mern. Weil er der Arbeits­weise der Gegen­wart nicht mehr ent­spricht, nicht ein­mal der Arbeits­weide der Thea­ter, die kol­la­bo­ra­tiv orga­ni­siert sind. Und zwei­tens, weil er fak­tisch ein Geschöpf von Kom­pe­ten­zen for­dert, die in ihrer Kom­bi­na­tion enorm sel­ten sind. Dass es auch anders geht, zei­gen die Pro­duk­ti­ons­wei­sen von Film und Fern­se­hen, die es nicht dar­auf anle­gen, Texte als Lite­ra­tur oder not­wen­di­ger­weise als sakro­sankte Werke her­vor­zu­brin­gen, son­dern viel­mehr Scripte, die einen mehr oder min­der star­ken Impuls­ge­ber und ers­ten Bear­bei­ter haben, aber im Pro­zess der Ent­wick­lung selbst der Ver­än­de­rung unter­zo­gen wer­den. Durch­aus kon­flik­tu­ell. Ein rosa­ro­tes König­reich fin­det sich hier nicht. Aber in jedem Falle auf ein gemein­sa­mes Ziel aller Betei­lig­ten aus­ge­rich­tet: einen guten Film zu machen. Davon lässt sich lernen.

Nur eine kleine Liste der Kom­pe­ten­zen, die ein Thea­ter­schrei­ber heute noch iso­liert beherr­schen soll:

  1. Die Wahl eines The­mas. Poli­tisch, gesell­schaft­lich, his­to­risch, fami­liär. Dafür braucht es ein Talent sowie die Aus­ein­an­der­set­zung mit ver­schie­de­nen The­men und die Defi­ni­tion der Rele­vanz eines Themas.
  2. Die Fin­dung einer Ker­n­idee: Wie funk­tio­niert der Text – sag­bar in einem Satz. Dazu braucht es ein krea­ti­ves Talent, das in der Lage ist, das Thema so zu ver­wan­deln, das es zu einer „Story“ wer­den kann.
  3. Die Gestal­tung eines Plot oder einer Sto­ry­line inklu­sive Defi­ni­tion von Figu­ren: Wer tritt hier auf? Wer tut was mit wem? Wie fängts an, wie endets? Und warum?
  4. Die Dra­ma­tur­gie: Wel­che dra­ma­ti­sche Form wird gewählt oder erfun­den? Dafür braucht es ziem­lich fun­dierte Kennt­nis über vor­han­dene Dramaturgien.
  5. Der Sze­nen­auf­bau: Wel­che Sze­nen gibt es, was geschieht in jeder Szene?
  6. Die Figu­ren­ge­stal­tung: Gibt es Cha­rak­tere? Wie sind sie beschaf­fen? Frau oder Mann? Alt oder jung? Ist das wich­tig oder irrelevant?
  7. Die Tex­ter­stel­lung: Dia­loge, Mono­loge, Cou­plets, was auch immer. Der Text muss erstellt werden.

Jeder die­ser Bestand­teile erfor­dert Talent, Erfah­rung, Übung, Inter­esse, Aus­ein­an­der­set­zung. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass jemand, der ein star­kes Thema fin­det auch starke Sprech­t­exte schreibt. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass jemand, der starke Texte schreibt einen Plot oder eine Dra­ma­tur­gie bauen kann. Und dass alle diese Kom­pe­ten­zen in glei­cher Weise bei ein und der­sel­ben Per­son aus­ge­prägt sind, das kommt alle Jubel­jahr­hun­derte oder in Mär­chen vor.

Das ist über­trie­ben kom­plex? Wer mit Thea­ter zu tun hat und in sich geht, wird fest­stel­len, dass jeder ein­zelne die­ser Punkte ver­brei­tete Zurück­wei­sungs­ar­gu­mente für einen Text sind. Die Spra­che gefällt mir nicht. Das Thema ist nicht gut. Der Plot funk­tio­niert nicht. Die Dra­ma­tur­gie ist alt­ba­cken usw. Dass jemand schrei­ben kann, garan­tiert noch nicht, dass s sich zu zei­gen lohnt, was er oder sie geschrie­ben hat. Und ein Anlie­gen oder Thema zu haben, ist wert­los, wenn es nicht in Plot und Spra­che gegos­sen wird.

Film und Fern­se­hen zei­gen, dass diese Kom­pe­ten­zen erfolg­reich auf ver­schie­dene Schul­tern, Köpfe und Schreib­ti­sche ver­teilt wer­den kön­nen. Und dass in dem Pro­zess der Erstel­lung auch Regis­seur, Pro­du­zent, Schau­spie­ler mit­re­den kön­nen. Oder vor­ge­ben kön­nen, wie es denn sein sollte.

Wie also muss ein Schreib­pro­zess zukünf­tig stattfinden?

  1. An Thea­tern müs­sen Auto­ren ganz selbst­ver­ständ­lich ange­stellt wer­den. Und zwar nicht ein oder zwei Iso­la­ti­ons­häft­linge, son­dern ein Auto­ren­team. Sagen wir 10 Auto­ren an klei­ne­ren, 20 an grö­ße­ren Häusern.
  2. Diese Teams set­zen sich aus ver­schie­de­nen Kom­pe­ten­zen zusam­men, die bereits bei der Ein­stel­lung eines Autors Kri­te­rium sind. Wer kann starke Plots schrei­ben? Wer kann Dia­loge und Figu­ren zeich­nen? Wer hat Ideen? Wer fin­det Themen?
  3. Der Pro­zess läuft dann: Der The­men­fin­der defi­niert mit Dra­ma­tur­gie und Regie auf Grund­lage des Spiel­plan­kon­zep­tes The­men. Er recher­chiert sie, berei­tet seine Ergeb­nisse auf und stellt sie den ande­ren Auto­ren, Dra­ma­tur­gen, Regis­seu­ren zur Ver­fü­gung. Das Lei­tungs­team ent­schei­det, wel­ches Thema ange­gan­gen wird.
  4. Der oder die Ide­en­fin­der brain­stor­men nach Ideen, wie ein gewähl­tes Thema ange­gan­gen wer­den kann.
  5. Lei­tungs­team ent­schei­det sich, wel­che Idee gemacht wird.
  6. Die Idee geht in Plot– und Dra­ma­tur­gie­kon­zep­tion. Hier wer­den rohe Sto­ry­lines, dra­ma­tur­gi­sche Mit­tel, und natür­lich auch For­men von Inter­ak­ti­vi­tät mit dem Publi­kum aus­ge­dacht und gemein­sam ver­ab­schie­det. Dabei kann sich auch die Idee noch ein­mal verändern.
  7. Dann geht’s in Figu­ren­de­fi­ni­tion. Und zuletzt kön­nen sich die Schrei­ber dar­auf kon­zen­trie­ren, Plot, Dra­ma­tur­gie, Figu­ren usw. in Spra­che zu bringen.
  8. Man wählt einen Schrei­ber, der geschlif­fene Komik beherrscht, oder einen melan­cho­li­schen Spe­zia­lis­ten. Oder man lässt beide zusam­men dar­auf los und lässt sie unter­schied­li­che Sze­nen bear­bei­ten. Schau­spie­ler geben ihre Mei­nun­gen ab, machen Vor­schläge, arbei­ten mit am Text. Der Büh­nen­bild­ner gibt wün­sche ab, wie sein Büh­nen­bild text­lich auf­ge­nom­men wer­den kann und so weiter.
  9. All das mit Feed­back– und Überarbeitungsschleifen.

Viel­leicht ist jemand für meh­rere Auf­ga­ben gut. Viel­leicht auch nur für eine. Die Erstel­lung des Tex­tes wird in jedem Fall zum Team­work. Im Schreib­team. Mit Dra­ma­tur­gie, Regis­seur, Schau­spie­lern. Auch mit Büh­nen­bild, Musik, Aus­stat­tung. Der Pro­zess erfolgt vom Anfang bis zum Ende kol­la­bo­ra­tiv im Theater.

Das hat fol­gende Effekte:

-          Es gibt keine Tren­nung mehr zwi­schen Text– und Regie­thea­ter. Die Arbeit ist eine gemeinsame.

-          Die Pro­duk­ti­ons­zeit von The­men­fin­dung bis Urauf­füh­rung ver­kürzt sich dra­ma­tisch. Die­ser Pro­zess kann inner­halb weni­ger Monate, im Extrem­fall sogar in weni­gen Wochen erfol­gen. Ein defi­nier­tes Thema kann in kur­zer Zeit auf die Bühne kommen.

-          Das Thea­ter kriegt starke Texte von Pro­fis, die Schrei­ber arbei­ten nicht mehr ins Blaue hinein.

-          Stär­ken und Kom­pe­ten­zen aller Betei­lig­ten ergän­zen sich; neue inter­ak­tive, ver­netzte, digi­tale For­men und Erwei­te­run­gen wer­den mög­lich und kön­nen gemein­sam rea­li­siert werden.

-          Nach der Pre­miere las­sen sich Über­ar­bei­tun­gen, Ver­bes­se­run­gen, Erwei­te­run­gen, Kür­zun­gen im Team ein­fach und schnell machen. Es gibt die sta­ti­sche Insze­nie­rung nicht mehr, die trotz schnar­chen­den Publi­kums in der Pre­miere wei­ter gespielt wer­den muss, wie Bern­hards Forellenquintett.

-          Wir ver­ab­schie­den uns alle zusam­men vom Geniebegriff.

-          Wir ver­ab­schie­den uns vom Auto­ren­be­griff (mein Gott, ist das überfällig)

-          Regie und Schrei­ber haben sich (meis­tens) wie­der lieb.

Und es kommt dar­auf an, dass das nicht nur an ein oder zwei Leucht­turm­thea­tern pas­siert. Son­dern an allen Thea­tern. Allen. Ausnahmslos.

Ich fänds geil.

Aller­dings stellt das Thea­ter­ver­lage vor ein Pro­blem. Das kann man sicher auch noch lösen.

 

Nach­trag:

Das alles ist über­haupt nicht neu. Die Male­rei des Mit­tel­al­ters und der frü­hen Neu­zeit war so orga­ni­siert. Selbst in der Kom­po­si­tion sind nicht unbe­dingt die Kom­po­nis­ten die­je­ni­gen, die die Instru­men­tie­rung machen. Das alles gibt es schon lange. Der Genie­kult hat es über­deckt. Es lohnt, daran anzuknüpfen.

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