Ein Text über einen Text über einen Text über einen Fall von politischem Terror
Gewalt verengt den Blick. Es mag der Kontext eines Gewaltaktes noch so kompliziert oder weiträumig zu denken sein - in dem Moment, da die Fetzen fliegen (da Leute andere Leute verletzen oder umbringen, oder selbst nur, da sie glaubwürdig genug damit drohen), verengt sich für Zeugen wie Beteiligte die Welt aufs Allerunmittelbarste. Nachvollzug dessen, "was es bedeutet", dass jemand schießt und jemand erschossen wird, schließt Nachvollzug dieses Moments mit ein.
Das meint nun nicht nur Empathie mit der Panik der an einem Kampf Beteiligten. Das meint auch: Respekt vor dem Umstand, dass, wer über die nötige Disziplin und Bewaffnung verfügt, durch schiere Gewalt die Diskurse und Narrative formt. Motivation und Implikationen einer Entscheidung-zur-Gewalt können, aus der sicheren Distanz betrachtet, beliebig nuanciert beschreibbar sein. Der Moment, da diese Entscheidung jedoch umgesetzt wird, markiert "auch" die Setzung jener diskursiven Geste, mit der die Welt klar in das Eigene und das ganz Andere geschieden wird. Mehr noch: Wer so handelt, zwingt diese Unterscheidung seinem Gegenüber - Opfer, Gegner, Zeuge - auf. Gewalt verankert in dieser Weise die Menschen in einer gemeinsamen Wirklichkeit, und den Gewalttäter als die Instanz, die die Grenzen dieser Wirklichkeit festsetzt.
Die unbedingte Bereitschaft, bei dieser Gelegenheit selber draufzugehen, vergrössert die Wirksamkeit dieser Geste - will sagen, sie unterstreicht die Schärfe der Trennung der Menschheit in "uns" und "die", indem sie allen Interessierten tatsächlich bestätigt, was in den meisten anderen Konfliktfällen eine psychotische Wahnvorstellung darstellen würde: Kein Kompromiss, keine Verhandlung, keine Vermittlung. Die Welt, die solche Täter erschaffen - der Diskursraum, den sie den Überlebenden errichten - ist tatsächlich schwarz-weiß.
Von Martin A. Hainz erschien auf Fixpoetry am 14.11. ein Kommentar auf die Terroranschläge des Vortages in Paris sowie auf ihre zu erwartende Rezeption. Dieser Kommentar kann gelesen werden als Versuch, dieser beschriebenen Schwarz-Weiß-Welt, in die sich die Täter von Paris offenkundig posthum einzuschreiben wünschten, die Würde der längeren, komplexeren Analyse entgegenzusetzen: Sich den Blick just nicht verengen zu lassen. Hainz verknüpft in seinem Text relativ unkontroversielle politische und soziologische Fakten miteinander und mit dem Anschlagsgeschehen. Er verknüpft sie in einer bestimmten Weise, der man nicht durchgängig zustimmen muss; und er schreibt als wäre etwas gewonnen, wenn wir nur das wasserdichte Argumente dafür liefern könnten, dass Säkularismus und Demokratie besser sind als vormoderne Unvernunft. Dieses letztere ist die große Schwäche von Hainz' Texts, aber als Geste des Beharrens auf - eben! - Argumente vollkommen schlüssig für den Kontext.
Auf diesen Text von Martin Hainz gibt es eine Erwiderung von Christophe Fricker, erschienen ebenfalls auf Fixpoetry, zwei Tage später. Fricker insistiert in ihr verständlicherweise darauf, dass es sich bei den Toten von Paris um Individuen gehandelt habe, nicht um Spielsteine in einer Partie Diskursschach zwischen "Westen" und "Islam". Hainz benennt geopolitische Zusammenhänge, in Bezug auf welche man nicht nur die Anschläge selbst, sondern auch ihre Folgen denken müsse. Dies liest Fricker anscheinend als Unterstellung, man sei als "Westler" automatisch Soldat in Huntingtons "clash of cultures"; oder anders: Als würde der Hinweis, dass es einen grösseren Kontext gebe, den Opfern der Morde vom 13.11. die Würde der ihrer Individualität nehmen - nämlich, indem Hainz diese Opfer unter der Hand ihrerseits zu Märtyrern eines "westlichen Wir" mache, derer sich dann Demagogen und Machthaber nach Belieben bedienen könnten (und das je nach Bedarf "im Recht" oder "schuldig" geworden sei [etwa am Zustand Syriens] - mit den Attentaten habe es nun eben "Konsequenzen" erfahren). Frickers Lesart von Hainz' Text würde, mit anderen Worten, genau dann stimmen, wenn Margaret Thatcher recht gehabt hätte, als sie sagte: "There is no such thing as society."
Wenn zutreffen würde, dass die Welt so eingerichtet ist, wie Thatcher und ihre weltanschaulichen Nachfolger sie sich dachten und denken - hier stehen die Individuen, ausgestattet mit mehr oder weniger Handlungsfreiheit, ihnen gegenüber stehen sämtliche Instanzen, die aus welchem Grund immer "das Ganze" wollen, verwalten oder auch nur in Rechnung stellen - Hainz' Text wäre tatsächlich Futter für die Demagogen. Allein: Die Welt ist glücklicherweise durchaus nicht so eingerichtet. Die Totalitarismustheorie ist schlicht falsch. Es ist prinzipiell möglich, über grössere Zusammenhänge als den Einzelnen, sein Eigentum und seine unmittelbare Familie Erkenntnisse zu erzielen und auf der Grundlage dieser Erkenntnisse zu handeln, ohne, wie Fricker befürchtet, zu vergessen,
(...) dass sich i[m] Mittelpunkt [der Systeme, Diskurse und Strategien] Menschen befinden und dass Menschen nicht austauschbar sind.
Man könnte solche systemischen Erkenntnisse beispielsweise mal nutzen, die realen Probleme bei der Unterbringung der Flüchtlinge in Österreich, Deutschland oder Slowenien zu lösen. Denn dass es sich bei diesen Flüchtlingen - mit Hainz gesprochen - um "Massen" handelt, ändert nichts daran, dass sie - wie Fricker über die Opfer von Paris sagt - "ganz bestimmte Menschen mit einer Geschichte und einem Gesicht" sind.
Fixpoetry 2015
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Kommentare
Streitgespräch
Find ich prima, wie Stefan Schmitzer hier auf feine argumentative Weise das Streitgespräch zurückholt auf eine verstehbare Ebene. FM
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