Lesenswertes zu Eseleien auch unserer Tage
Melanchthons berühmte Klage über die Leiden der Lehrer aus dem Jahr 1533 ist aktueller als so ziemlich alles, was aktionistische Reformexperten in den letzten Jahren zum Thema zu sagen hatten. Wurde dort aus dem, was dem Gehirn angeblich zuträglich sei, auf das geschlossen, was einem Schüler später im Leben helfe, aus den Vorschlägen der Arbeitgeberverbände abgeleitet, daß Bildung verstaubt, aber Ausbildung zeitgemäß sei, obwohl jene, die solche Empfehlungen ventilieren, ihre Kinder zuverlässig ganz anderen Schulen als den von ihnen öffentlich erträumten anvertrauen, aber auch gerne umetikettiert, weil sich eine Neue Mittelschule ungleich besser als die fast identische Hauptschule verkaufen läßt, wurden Kompetenzen erfunden, wo Bildung die Fragen lehrt, deren Beantwortung vielleicht Kompetenz dienlich ist, und Gegenstände erfunden, die Schüler in regressive und restriktive Lebensformen einpassen, etwa das Schulfach Glück, … – weiß der Praeceptor Germaniae, wie Melanchthon genannt wurde, sehr genau, was seit nun fast 500 Jahren die Pädagogik zu dem macht, was sie ist; und was sie zu dem machen könnte, was sie sein sollte.
Man lese etwa jene Klage über den Schüler, dessen Betragen man sich heute gerne als löbliches Aufbegehren pseudo-emanzipatorisch schönredet oder als Benehmen neutral vorstellt, als ginge es nicht irgendwann vor dem Abitur auch schon um so etwas wie Haltung. Melanchthon:
„Nicht eher scheint das Alter des Jungen reif genug, dass er in die Elemantarschule geschickt werden kann, als wenn er durch häusliche Nachgiebigkeit verdorben ist und Laster bald versteht, bald selbst gekostet hat. Dieser Bengel bringt von zu Hause nicht nur keine Leidenschaft oder Bewunderung für die Studien mit, sondern den stärksten Widerwillen gegen jene, Verachtung gegenüber den Lehrern und höchst unanständige Vorbilder.”
Es einmal so anzugehen und im Schüler, der sich so beträgt, schon auch den Wutbürger zu sehen, zu dem er, wenn man ihn nur ausbildet, aber seinen Mangel an Neugier und Haltung als Ausdruck von Persönlichkeit deutet, wird, das wäre zu diskutieren. Die Nachgiebigkeit vor narzißtischen Kindern beklagen inzwischen viele Pädagogen; die Angst der Eltern vorm Liebesentzug durch den Fetisch, der das Kind ihnen ist, ist ihrerseits infantil – die Infantilität aber als Verstummen vor der Macht ja das, was womöglich in der Bildungspolitik schier angestrebt wird. Infantile Schüler infantiler Eltern:
„Wenn ihr Sohn etwas richtig gemacht hat, erntet der Lehrer keinerlei Lob. Wenn er einen Fehler gemacht hat, wird es dem Lehrer zum Vorwurf gemacht.”
Der Lehrer, der einst unmittelbar im Lohn derer stand, deren Nachwuchs er unterrichtete; heute infantilisiert sich der systemkonforme Lehrer aus Angst vor den Eltern, die eher mit dem Anwalt über den Lehrer als endlich doch mit dem Kind reden. Dazu kommen Direktoren, die Angst um ihre Schülerzahl und sowieso weder Rückgrat noch etwas, das an das Rückgrat oben anschlösse, haben; und Inspektoren, die Angst vor fast allem haben, zurecht, wenn sie aufgrund der bewährten Kombination Parteibuch & Unfähigkeit aus dem Minenfeld hochgelobt wurden, an dessen Erhalt sie mitschuldig sind.
Immerhin ahnen das die Schüler, die trotz der Bildungspolitik sich aufklären…1 Der Lehrer hat so die Wahl, eine Provokation zu sein, um eines guten Unterrichts willen. Oder zurecht Objekt jener leisen Verachtung zu werden, von jenem „Aroma des gesellschaftlich nicht ganz Vollgenommenen” gezeichnet, das auch Adorno in Tabus über dem Lehrberuf 2 beschreibt.
Adorno sieht freilich stärker als Melanchthon den Lehrer von dem affiziert, wogegen er steht oder stehen müßte: restriktiv und regressiv, wo dem System entsprechend, das nur ausbildet: Damit „ist der Lehrberuf selbst archaisch zurückgeblieben hinter der Zivilisation, die er vertritt”… Und während Adorno dies vermerkt, betonend, daß er „nicht von der Wirklichkeit des Lehrberufs” spricht, daß er überhaupt „lediglich eine Problemstellung” biete, und während Melanchthon betont, daß er keine Theorie vorlege, sondern eine Klage, ist von ihnen eben doch mehr ausgesagt, als von besagten Reformern, die selbstzweckhaft und ohne jene Begriffsreflexion ihr Utopia malen.
Das Tun des Lehrers sei, dem Esel das Lyraspiel beizubringen – „docere […] asinum fidibus ludere” –, so Melanchthons recht drastisches Bild, doch „schlechtes Betragen” der Kinder wider die Eltern, denen diese Unerzogenheit freilich eigne, und wider die Lehrer mache das Unmögliche zur Qual, wobei Unerzogenheit meint, der Geist des Schülers sei doch „beim Würfelspiel”… Wider die Gewohnheit wirke der Lehrer also, breche gegen den Widerstand jener Trägheit etwas auf, was sich mit dem Bild des systemkonformen Lehrers, der konforme Kompetenzler in dem trainiert, was diese wollen, kaum vereinbar erscheint. Nicht nur die Schüler „fühlen” „sich zu ihresgleichen hingezogen”, auch der moderne Lehrer, der seine Provokation ablegt und auf den Anpassungsdruck, den er (wie sein Fach) moderiert, schimpft, der freilich das, was einmal Autorität war, unmenschlich ersetzt; aber des modernen Lehrers Komplize ist.
Die Pädagogik hat seit jeher „schlecht in die Unterweisung der Jugend investiert”, so Melanchthon, der keine bessere Schule vorschlägt; die, die dies tun, investieren vielleicht günstiger in sie, aber nicht zugunsten der Jugend. Womit das Austragen des Problems, die Strategie, den Diskurs über die Schule wie das Gespräch mit dem Schüler „absichtlich in die Länge zu ziehen”, vielleicht doch der Scheinlösung überlegen ist.
Die kleine Schrift des großen Humanisten, der auf vertrackte Weise zuweilen auch human ist, überbietet fast alles, was heute im Wochentakt zu Schule der Zukunft phantasiert wird. „Dixi”, schließt ihr Verfasser knapp, doch das Gesprochene hallt nach und wird die Zukunftsexperten des Schulbetriebs gewiß überdauern – auch dank Carolin Ritter, deren Übersetzung und Edition verdienstvoll sind.
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Kommentare
bildung und ausbildung, eliten und "die da unten"
wunderbarer kommentar. das lachen über die geschliffenen und pointierten wendungen bleibt einem angesichts der brisanz des themas allerdings fast im halse stecken.
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