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Kritik

Etwas ist anders

Hamburg

Zunächst ein Geständnis. Ich habe mich lange Zeit schwer getan mit den Gedichten Thomas Klings. Woran das liegt, ist mir nicht ganz klar. Ich bekam einfach keinen Zugang zu seinem Werk, und vieles, was ich sah und las, hielt ich für bloße Pose. Irgendwann aber fiel mir die von Thomas Kling besorgte Anthologie Sprachspeicher in die Hände, und mein Verhältnis zum Autor begann sich nach und nach zu wandeln. Als wollten meine Gedanken einen Umweg über andere Dichter nehmen, deren Texte von ihm zusammengestellt und arrangiert worden waren, und jenen Trampelpfad betreten, den mir der Dichter durch diese Zusammenstellung geschaffen hatte. Von nun an näherte ich mich dem Werk Klings Stück für Stück und mit Vorsicht, und mein einstiges Misstrauen schlug zunächst in Bewunderung um. Eine Bewunderung, die ich mit vielen anderen und sehr verschiedenen Kollegen teilte. Auch die Bewunderer bilden ein disparates Völkchen, von Norbert Lange über Sabine Scho bis hin zu Norbert Hummelt und Marcel Beyer. Kling scheint ein Kraftfeld gewesen zu sein, und seine Texte sind es noch heute.

Als dann jenes Schreibheft 78 erschien, Das brennende Archiv, das ganz dem Nachlass des Dichters gewidmet war und auf dessen Cover ein Foto des jungen Kling zu sehen ist, der ein Wespennest wie einen Helm auf dem Kopf trägt, war es ganz um mich geschehen. Ich las geradezu befreit auf und erkannte inzwischen auch den Klingschen Humor, der mir bis dato entgangen war.

Nun ist also im Wallstein Verlag die Dokumentation Zur Leitcodierung – Manhattan Schreibszene erschienen. Herausgegeben wurde sie von Kerstin Schüssel und Gabriele Wix, die jeweils auch erläuternde Texte beitrugen.

Dieses Heft wird meinen Widerstand gegen Autorenkultstätten allerdings nicht brechen. Ich werde nicht zur Raketenstation pilgern, genau so wenig wie ich das Arno Schmidt Haus in Bargfeld besuchen werde. Ob es die Originalmöbel verstorbener Dichter sind oder von ihnen benutzte Pfeifen in einer Vitrine. Derartige Ausstellungen verursachen in mir im Grunde nur Langeweile. Schon in der neunten Klasse, als wir turnusgemäß mit der Schulklasse nach Weimar fuhren, um Goethes Hinterlassenschaften zu bestaunen und uns im Lichte deutscher Klassik zu sonnen, dachte ich angesichts Goethes Gießkanne im Gartenhaus nur: Ah, eine Gießkanne! Dichter also gießen auch nur mit Wasser.

Aber, und dieses Aber ist ein großes, derartige Ausstellungen führen zu Katalogen, und als brauchte ich ein Papier, das sich zwischen mich und das zu bestaunende Objekt legt, schlägt mein Herz angesichts mancher dieser Kataloge höher. Auch weil sie das Temporäre aufheben, das Ausstellungen innewohnt.

In dem diesen Katalog beschließenden Essay von Kerstin Stüssel Schreibszene Manhatten findet das von mir hier Beschriebene eine Entsprechung. Eingangs erzählt sie eine Episode aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach, die sich in Harry Mulischs Roman Das steinerne Brautbett befindet. Einem amerikanischen Bomberpiloten wird im zerstörten Dresden am Loschwitzer Ufer das Schillerhaus gezeigt. Stüssel benutzt diese Episode als Auftakt einer äußerst lesenswerten Reflexion über die Schreibszene, das heißt über den Einfluss der unmittelbaren Umgebung des Schreibenden auf den Text:

In der Schreibszene finden sich Körper, Technik, Linguistik und – was m. E. zu wenig betont wird – räumliche Konstellationen zusammen, mithin Determinanten von Werk und Autorschaft, die in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Gewichtungen auftreten: Der Körper des Schreibenden, seine Gestik zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Aktivität und Passivität, die Hand, die ein Schreibgerät führt oder bedient, körperliche Stärke oder Schwäche,...

Es geht hier also um die physischen Bedingungen des Schreibens und ihre Auswirkungen auf den Text, aber auch um die technischen Hilfsmittel (Schreibmaschine, Computer, Stift) die diese physischen Bedingungen beeinflussen und verändern. Im Katalog findet sich eine Fotografie Langankys, die das hinsichtlich ihres Mediums illustriert. Es ist die erste Aufnahme eines Films, der man noch die vordigitale fotochemische Technik ansieht, weil sie zur Hälfte stark überbelichtet ist, ein Effekt, der sich beim Einlegen des Filmes außerhalb eines dunklen Raumes zeitigt.

Auf der Raketenstation Hombroich, auf der Kling mit Ute Langanky von Mitte der Neunziger bis zu seinem Tod lebte, ist das Thomas Kling Archiv eingerichtet worden. Und hier also fand die Ausstellung statt, aus der dieser Katalog hervorgegangen ist. Sein Titel entstammt einem Terminus des Postwesens. Kling hatte eine Sendung, die unter anderem ein Notizbuch enthielt, aus New York an sich selbst geschickt. Da es dem Zusteller zunächst nicht gelang, die Empfängeradresse zu finden, erhielt diese Sendung den Vermerk: zur Leitcodierung. Natürlich ist dieses Wort Leitcodierung ein gefundenes Fressen für einen Autor Klingschen Zuschnitts.

Am beeindruckendsten jedoch ist für mich die Abbildung und Transkription jenes Notizbuches selbst, das sich im Postpäckchen befand, im ersten Drittel des Kataloges. Einiges von Klings Arbeitsweise wird hier sichtbar.

Und ich begegne dort den verschiedensten anderen Autorinnen und Autoren (Zwetajewa, Erb, Lorca, Beyer ...), und nicht nur Autoren, auch Architekten, Künstler überhaupt, Gegend. Das, was sich letztlich in Klings Texten verdichtet, kommt also von außen, der Dichter ist Medium, seine Leistung besteht darin, einen Platz, einen Raum einzunehmen und dort Schnittstelle zu sein, Strahlen auf sich zu ziehen. Voraussetzung scheint mir eine gewisse leidenschaftliche Weltzuwendung und ein (fast unbestimmtes) gesteigertes Interesse an Sachverhalten, das ihnen diese Einfälle ermöglicht.

Kerstin Stüssel (Hg.) · Gabriele Wix (Hg.)
Thomas Kling. Zur Leitcodierung
Manhattan Schreibszene
Unveröffentlichtes Arbeitsmaterial als Faksimile und Transkription zu zwei zentralen Gedichten im Werk von Thomas Kling.
Wallstein
2013 · 96 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-8353-1375-0

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