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Kritik

Erkundungen in Raum und Zeit

Chlebnikov weint: Ein starkes Lyrikdebüt von Anne Seidel
Hamburg

Die 1988 in Dresden geborene Lyrikerin Anne Seidel ist eine vielseitig begabte Künstlerin, die mit Sprache in verschiedenen Bereichen experimentiert. In Dresden hat sie verschiedene "surreale und minimale Projekte" initiiert, bei denen es einerseits um den Zusammenhang und das Zusammenspiel von Text und Musik geht und andererseits, wie in "Sound Memories" Erinnerungen bewusst gemacht werden.

Dieser Ansatz ist auch in Anne Seidels Romandebüt "Chlebnikov weint" spürbar, denn wie im Nachwort von Jayne-Ann Igel zu lesen ist, richten sich die Gedichte an tote Dichter, wobei sie sich nicht nur auf den russischen Futuristen Velimir Chlebnikov bezieht, der dem Band den Titel gegeben hat. Die Slawistin Anne Seidel spricht nicht nur Russisch und übersetzt aus dieser Sprache, sondern sie kennt auch die russische und insgesamt osteuropäische Geschichte. Dieser Hintergrund wird in dem Lyrikband erfahrbar. So bezieht sie sich gleich im ersten Zyklus mit dem Gedicht "Sarat II / herkunft" durch eine einzige in Klammer gesetzte Einfügung -

(tristia)

- auf Ossip Mandelstam der seinerseits Ovids Klagelieder aufgegriffen hat. Konkreter wird der russische Dichter Konstantin Nikolaevič Batjuškov in "Abwesenheiten X / batjuškov" benannt und seine Geisteskrankheit bildhaft und konkret zugleich ausgedrückt:

batjuškov, bei dir wird es frueher dunkel. schleier und waende (batjuškov) über schnee geschoben

Das Gedicht ist Teil des Zyklus "Abwesenheiten (insgesamt 12)", in dem Anne Seidel assoziativ Momente einfängt. Oft sind es ruhige Augenblicke, die Titel wie "i am sitting in a room", "silence", "bitte schweigt", "in der stille" oder "silenceetsilence" haben.

Abwesenheiten IV / bitte schweigt

eine ganze landschaft redet sich ein, stumm zu sein, subjektivität fließt in adern ab, sucht, wie
vom schlaf getrocknetes haar, eine erinnerung an schnee zu sein: ‚bitte schweigt‘
schnuerende zugbloecke, nacht für nacht, zu seiten trockenschwerer felder, nur ihr geraeusch,
gezogen durch schwarze haende oder blaue kehllaute, salz.
das gleisbett der epoche: 12 monate holzlautlos

Sprachliche Mittel, mit denen Anne Seidel arbeitet, sind Alliterationen und Umlaute (die sie in einzelne Buchstaben zerlegt). Diese Elemente und Wörter mit gleichen Vokalen machen die Musikalität der Texte aus.

(augen, kammerlicht) irrlichterlirende erinnerung klirrt muedegetragen, magnetisches licht

heißt es beispielsweise in "Abwesenheiten IX / schlafepoche". Den Einfluss der russischen Futuristen auf Anne Seidels Lyrik sieht man auch an ihrer Lust, mit Wortelementen zu spielen, Wörter und Bilder neu zusammenzusetzen oder neu zu erfinden: "salzweiße kuehle", "rotmorgen", "gluehende Wassertropfen", "holzlautlos", "schneiend-schwarz".
Manchmal sind es Lautmalereien: "glomm, glomm"; "schucht, schucht, schucht".

Zwei Motive ziehen sich durch den ganzen Band: Schnee und Erinnerung. Da ist das

auge voll schnee, wie nie schaffen sie den schnee beiseite, hell / schreitet schnee.

Wichtiger aber noch ist die immer wieder auftauchende Erinnerung an etwas, die besonders in dem bemerkenswerten Zyklus "Hygiene der Angst" zum Ausdruck kommt. Denn dieser Zyklus spricht von den politischen Verfolgungen in der Sowjetunion, die für viele Menschen (auch für viele Dichter) in einem Lager und dort häufig mit dem Tod endeten. Den nur zweimal angesprochenen Bezugspunkt dieser Gedichte bildet das Gulag-Lager Solovki auf der gleichnamigen Inselgruppe im Weißen Meer, das das Vorbild für Solschenizyns berühmten Roman "Archipel Gulag" war. Allerdings findet man in den Gedichten nur wenig konkrete Ortsangaben:

eingaenge solovki, kalter schaum auf der neva, licht der transsibirischen eisenbahn.

Vielmehr beschreibt die Autorin in sublimen Bildern mögliche Ängste der betroffenen Menschen. Jedes dieser Gedichte hat zwei Strophen, die sich in Wortwahl und Aufbau sehr ähneln, wobei Anne Seidel durch minimale, aber bewusst eingesetzte Verschiebungen die Schrecklichkeit der Geschehnisse und die damit verbundenen Ängste umso deutlicher hervorhebt. Dazu ein Beispiel:

Hygiene der Angst IV

schwarze spitzen, weiße linien, russland, so hilflos zieht
stille ein, die namen getraenkt, ende der waelder,
es fehlte immer eine Hand, versunken im pelz

schwarze spitzen, weiße linien, da warst du, so hilflos zog
stille in dich ein, in namen und waelder, ferne,
es fehlte immer eine hand, versunken im schnee, solovki

Man muss sich auf Anne Seidels Gedichte einlassen. Sie sind nicht alle leicht zugänglich, manche sehr hermetisch. Aber auch in den Texten, die sich einem nicht so leicht erschließen, spürt man ihren Klang und die Ernsthaftigkeit der jungen Autorin. Eine Ernsthaftigkeit, durch die es ihr gelingt, Erinnern und Erinnerungen (an die Geschichte, an tote Dichter, an alltägliche Dinge) mit der dafür passenden poetischen Sprache zu beschreiben.

Anne Seidel · Jayne-Ann Igel (Hg.) · Jan Kuhlbrodt (Hg.) · Ralph Lindner (Hg.)
Chlebnikov weint
Poetenladen Verlag
2015 · 72 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691-67-5

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