Ein Körnchen Wasser auf dem Rücken der Wüste
1. Dass Lyrik es auf dem Buchmarkt schwer hat, ist eine Tatsache, die von Verlagen und Dichter*innen Deutschlands gern wortreich thematisiert wird. Vor allem die fehlende Aufmerksamkeit des Feuilletons, das Nichtvorkommen der eigenen Bücher in den Besprechungen überregionaler Medien wird beklagt. Vergleichsweise rosig scheint die Rezeption der heutigen deutschsprachigen Dichtkunst hingegen, vergleicht man sie einmal mit der Wahrnehmung jener Poesie, die von Urheber*innen nichtdeutscher Muttersprache verfasst und ins Deutsche übertragen wurde. Diese kämpft auf dem kleinen Lyrikmarkt um die Aufmerksamkeitsgunst desselben Publikums und derselben Rezensent*innen und haben von vorneherein die schlechteren Karten, sobald es gilt, über den Tellerrand hinauszublicken und das Fremde, noch Unbekannte wahrnehmen und besprechen zu wollen. Dies hat zum Teil mit dem spärlichen Raum zu tun, der für Lyrikrezensionen zur Verfügung steht, zum Teil mit der fehlenden Expertise, wenn etwa zu besprechende Werke aus einem Land kommen, dessen Sprache man nicht beherrscht, weil man die Qualität der Übersetzung nicht beurteilen kann, und man mit Schriftstellern konfrontiert wird, von denen man nichts in Erfahrung bringen kann. Das sind nur drei der Gründe, weshalb auch wohlwollende, von Neugier getriebene Rezensent*innen bei Recherchen nach dem überaus spannenden Werwowiewas schnell an Grenzen stoßen, vor allem dann, wenn sie eine Buchsprechung für mehr als die bloße Absonderung einer halbprivaten Meinung halten, Kritik fundiert argumentieren und in einen Kontext einbetten möchten.
2. Um sich als Verleger*in an die Veröffentlichung einer Übersetzung zu wagen, muss man wohl im besten Sinne „verrückt“ sein, muss brennen für ein Werk oder eine Autorin, einen Autor, oder hat es mit Herausgeber*innen und Übersetzer*innen zu tun, die ihr Brennen in Überzeugungskraft lenken können. Meist bedeutet dieses „Verrücken“ zugleich ein Abrücken von der Idee, mit dem Verlegen einer Übersetzung wenigstens die damit einhergehenden Kosten hereinspielen zu können. Wirtschaftstreibende erachten ein solches Vorgehen als ökonomisch unsinnig, weshalb es gut ist, dass Buchmacher*innen Bücher machen und nicht Kapitalisten, die zuvorderst Bankkonten und Renditen im Blick haben, und aus Überzeugung ganz sicher keine Lyrikbände und mit noch größerer Bestimmtheit keine übersetzten Lyrikbände ins Programm eines Verlags rücken würden. Man mag diesen Hinweis für einen Allgemeinplatz halten, doch das Verlegen einer Lyrikübersetzung kommt einer Überzeugungstat gleich, die das Risiko einer „normalen“ Lyrikveröffentlichung noch übersteigt und trotzdem Wiederholungstaten nach sich zieht – ein Gewinn für die Diversität der Buchlandschaft und ein Geschenk für Lesewillige. Unter anderen sind die Verlage parasitenpresse, kookbooks, Elif, Edition Korrespondenzen, Drava und eben Reinecke & Voß zu erwähnen. Sie „sind die Vögel“, die eine bunte Vielfalt in unserer Leselandschaft zum Tönen bringen, indem sie immer wieder auch Übersetzungen aus sogenannten kleinen Sprachen in ihr Verlagsprogramm rücken, etwa aus den Niederlanden, aus Lettland, Island, der Türkei, Slowenien oder Griechenland.
3. Auf der Homepage des Verlags „Reinecke & Voß“ stößt man auf die etwas großspurig anmutende Selbsteinschätzung „Fachverlag für Horizonterweiterung“. Doch „Horizonterweiterung“ ist genau das, was uns Verlage wie dieser seit Jahren bietet und was man von einem guten Verlag auch erwarten mag, nämlich ein Angebot, das nicht nur Gleiches Gleichem nachwirft und Ähnliches in Serie produziert, sondern Entdeckungen ermöglicht und damit unseren Lese- und Lyrikhorizont erweitert. Anna Griva ist solch eine Entdeckung, eine erstaunliche Stimme aus Griechenland, die bereits vier Gedichtbände veröffentlicht hat. Nur einzelne Gedichte konnte man bisher auf Deutsch nachlesen, u.a. bei Fixpoetry 2016 in der Reihe Poiemata / Ποιήματα. Nun liegt erstmals ein ganzer Band mit ihren Texten vor, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen. Was dem Buch allerdings fehlt, ist ein Nachwort und damit die Vermittlung. Oder anders ausgedrückt, etwas weniger „Fach-“ und mehr Blick auf die Breite wäre wünschenswert.
Man kann nun trefflich darüber diskutieren, ob es genügt, eine Übersetzung vorzulegen und allein das Buch mit seinen Texten sprechen zu lassen, was viele bejahen werden, oder ob es nicht hilfreich für Lesewillige (und für Rezensent*innen) wäre, Informationen über das Wie und Warum der Zusammenstellung beizufügen. Ich neige in diesem Fall der zweiten Fraktion zu, weil ich bei Recherchen an Grenzen stoße, denn ich kann kein Griechisch. Und es führt deutlich zu weit, bei den Herausgebern persönlich nachfragen zu müssen.
Googelt man den Namen der Lyrikerin, kann man wohl einzelne Übertragungen ins Italienische, Deutsche und Englische finden. Man erfährt aber kaum etwas über die Autorin und nichts über Titel und Inhalt von Grivas bisherigen vier Lyrikbänden, es sei denn, ja, es sei denn, man ist des Griechischen mächtig. Die im vorliegenden Buch abgedruckte Biografie ist schmal, soll sein, ihr Werk jedoch wird in nur sechs Zeilen, die dem Buch vorangestellt sind, abgehandelt und damit deutlich zu knapp. Womit ich beim Titel „Glaub den Wörtern nicht. Sieh hin.“ bin, der mit zwei Punkten auskommt, wo Rufzeichen stehen könnten, denn es sind Aufforderungen der Lyrikerin. In den sechs Zeilen der Einführung steht, Griva erweise sich „als Meisterin ganz unterschiedlicher Arten poetischen Sprechens“, und weiter:
Die hier vorgelegte Auswahl versucht, Vielfalt und Qualität ihres spannenden Werkes einzufangen.
„Meisterin“! „spannend“! Das sind Worte, denen im Sinne Grivas nicht zu trauen ist. Was genau wollen die beiden Herausgeber, die wiederholt bewiesen haben, wie sorgsam sie als Übersetzer mit Sprache umgehen, mit solchen Schlagworten sagen? Wie beurteilen sie die hier nicht näher erläuterte Vielfalt und Qualität von Grivas Werk, von dem im Buch nur eine Auswahl vorliegt, was war für sie spannend und warum? Was waren die Kriterien der Auswahl? Hat Anna Griva diese mitbestimmt? Und wo steht dieses Werk im Kontext der neueren griechischen Lyrik? Man hätte darüber in einem Nachwort Auskunft geben können, das einführt, vermittelt und über das Brennen der Herausgeber für eine noch wenig bekannte Lyrikerin und ihre Dichtung Zeugnis gibt. Hätte solch ein Nachwort denn Auswirkungen auf die Lektüre dieses Buchs?, könnte man fragen. Für mich schon, nämlich im Sinn eines umfassenderen Eindrucks, mit dem nicht zuletzt diese Rezension gefärbt hätte werden können.
4. Und so bleiben allein die Gedichte und mein Versuch, sie aus dem Vagen ans subjektiv Faktische zu binden.
Das Buch enthält vier Zyklen – aus der eben erschienenen Rezension von Kristian Kühn erfahre ich, dass die Überschriften der vier Kapitel „die Titel der griechischen Originalbände wiedergeben“, eine Information, die ich trotz Recherche nirgendwo entdecken konnte und die ich nicht für unwichtig halte. In vielen Gedichten dieser Auswahl spricht ein lyrisches Ich. Es ist zumeist als das Ich einer Frau zu erkennen, das sich in Inhalt und Bildsprache aus einem weiblichen Erfahrungshorizont speist. Nicht jedoch vermag ich in den Gedichten eine „Beschwörung des Weiblichen“ (©Kristian Kühn) entdecken und auch Kühns Satz „hier (Anm: im 2.Zyklus) beginnt bei ihr ein gewisser Feminismus“ führt in eine Richtung, die nicht meiner Lesart entspricht. Hier spricht unzweifelhaft eine Frau, doch diese Zusammenstellung bezeugt das Ringen einer Dichterin um das poetische Wort und ihre Fähigkeit zu dichten. Programmatisch für diesen Kampf ist der Buchtitel, eine Abwandlung zweier Verse aus „Woher die Gedichte kommen“:
Glaub den Wörtern nicht,
sieh gut hin, sieh genau hin,
mit letzter Kraft und zusammengebissenen Zähnen!
Hier ist es auf einmal, das Rufzeichen! Es ist ein Ausruf, eine Aufforderung, ein drängender Befehl, gerichtet an ein Du, vielleicht an jeden von uns, zugleich gerichtet an sich selbst, an das dichtende Ich, eine Frau, ein Mann, ein Mensch, dessen Beruf der Umgang mit dem Wort ist, ein Aufruf zum steten Zweifel, noch „mit letzter Kraft“ und gegen alle Widerstände. Es ist kein gesunder Prozess, das Dichten, wie Griva es uns vorführt, sondern es ist bedrohlich, schindet, verwundet, schmerzt und geschieht unter Einsatz des ganzen Körpers. Es geht an die Substanz, führt an die Grenzen des Selbst und seiner Existenz. Doch das Buch beginnt, man ist versucht zu sagen: folgerichtig, nicht mit der poetischen Überlegung, „Woher die Gedichte kommen“ oder “Wohin die Gedichte gehen“, denn am Anfang steht „Der Kampf mit meinen Tieren“, steht beispielhaft der Kampf mit inneren und äußeren Dämonen und dem drohenden Verlorengehen
zwischen Grenzen, die nicht zu sehen sind
Da geschieht nichts lau, ist nichts hehr, nähert sich nicht sanft oder gar lieblich der Kuss einer Muse, sondern in den Gedichten herrscht das Dunkel, Angst und Schrecken, hier wird gezittert, geboren und getötet, wird um Genauigkeit gerungen und „aus den Scherben meiner Stimme“ ein Gedicht gemacht, werden Klone abgeschlachtet, bis Blut fließt und die Lider erschöpft sind. Hier gibt es keine Selbstgewissheit, auch keine Selbstzufriedenheit
ich habe keinen atem
der speichel
auch er eine lüge ...
Und an anderer Stelle heißt es:
ich bin feige
das schreibe ich
mit schweren buchstaben
aus stahl
und die Last dieser Buchstaben ist körperlich zu spüren. Die Dichterin liest im Anklang an griechische Mythen, die in Grivas Dichtung (offenbar häufig) thematisiert werden, die Eingeweide von Tieren, wird zu einer Art Priesterin, die aber nichts vorhersehen kann, dann wieder haucht sie bedürftig „ein Gebet / für alle Fälle“. Manchmal fühlt sie sich winzig, nah am Ersticken, „wie das Tier / mit dem aufgerissenen / Fell im Schnee“, und manchmal scheinen sie und alles verloren:
jetzt fürchte / ich mich wieder, denn der letzte trost der verse ist vorbei, die / worte sind besudelt worden in der spiegelung der augen, alles / sieht aus wie gefälscht
Hin und wieder gibt es scheinbaren Aufwind:
Ich gelange nach oben und stehe,
ohne meinen Blick zu finden,
die Finger sind die Spitze,
die nach Wärme tastet,
wenn die Wörter hinausblicken,
scheu und in der Ferne verloren
Griva gelingen, in der Übersetzung von Kartakis und Hansen, eindringliche, zuweilen verstörende Bilder, etwa wenn Finger auf Mauern gesät werden. Und sie lässt zuweilen die Gottgleichheit des Dichters beim Dichten aufflackern. Im vierten Zyklus mit dem Titel „Mit dunklem Faden umwunden“ tauchen wir ein in Geschichten der griechischen Mythologie. Griva holt sie ins Heute, kleidet sie in ihre kraftvolle, poetische Sprache, die uns das magische Ringen ums Wort zeigen in ihrer „Gespensterfabrik“ zwischen Sehnen und Ernüchterung
der Buchstabe rettet dich nicht
zwischen der Zuflucht bei Träumen und immer wieder neuen Anläufen „in den Unwegsamkeiten der Sprache“:
Ich mische Ton
mit toter Kamille
zwei Handvoll Asche
und einem Tropfen Meerwasser.Dann singe ich Beschwörungen,
damit der Brei
dämonische Kraft bekommt.
Dabei entstehen stimmige Klammern zwischen den Gedichten, die Bedeutungsräume erweitern. So sieht „Antigone“ im vierten Zyklus „die Hängende ... am Balken des Hauses“. Es ist eine dramatische Situation, die Hängende ist Iokaste, Antigones Mutter:
Ich war klein,
sie hielten mir die Augen zu,
sie hielten mir den Mund zu,ich hörte nur wie der Körper
fiel
mit einem Krachen
auf die Erde.
Und auf einmal funkelt das Gedicht „Die andere Welt“ aus dem dritten Zyklus in einem anderen Licht. Hier besucht ein Kind am Gedenktag das Grab der Mutter. Während bei einer fern sichtbaren Beerdigung Frauen lauthals klagen, beginnt es mit einem imaginären Ball zu spielen und setzt der Welt des Todes sein leichtes Spiel der Phantasie entgegen. Dieses Gedicht wiederum legt u.a. Fäden zum letzten Gedicht des Buchs, wenn das lyrische Ich unter anderem bekennt, was „irgendwo tief in meiner Brust“ ist
ein kleines Mädchen, das ungezähmt tanzt
So spannt und verwebt Griva einzelne Fäden zu einem poetisch dichten Gewebe, das von Schaffenswillen und Vergeblichkeit, vom Brennen und von Verheerungen zeugt, trotzdem immer wieder leichthin zu schweben scheint und auch noch beim mehrfachen Lesen Entdeckungen bereithält.
*
Anna Griva, Trau den Wörtern nicht. Sieh hin. Gedichte, übersetzt von Jorgos Kartakis und Dirk Uwe Hansen, ISBN 9783942901345, 92 Seiten, 10 Euro, Reinecke & Voß 2019
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