Der Aspektraum der Arroganz

Essay

Autor:
Frank Milautzcki
 

Essay

Der Aspektraum der Arroganz

Die Vergangenheit ist eingeflochten in die Struktur der Gegenwart, in den physikalischen Fakt, der im Jetzt aufschwimmt. Die Zukunft ist in jedem Augenblick ein Bestandteil der Gegenwart, weil die Welt neben faktisch auch ein zweites ist, nämlich möglich. Das Implizite übersteigt das Faktische bei weitem. Die Möglichkeiten der Welt sich zu entwickeln sind deshalb so ungeheuer und astronomisch, weil selbst kleinste Abweichungen zu Ursachen dramatischer Entwicklungen werden können. Und das in Etagen hinein und über Etagen hinweg. Eine kleine Schraube, die sich im Keller löst, kann das ganze Gebäude zum Einsturz bringen. Alles wirkt auf unglaublich komplexe Weise miteinander zusammen, ist miteinander abgestimmt, die real existierenden Weltmuster sind Resultate gemeinsamer vergangener Gegenwart und jede Änderung an einer Stelle hat unausweichlich Folgen für das Gesamte, nur selten in dramatischen Ausmaßen und kolossalen Tragödien und deshalb für uns oft nicht erkennbar.

Jeder, der das Leben beobachtet, weiß, wie kleinste Entscheidungen, wenn man auf sie in der Rückschau blickt, das Schicksal eines Menschen bestimmen. Da sind angeflogene Launen beteiligt, Wackeln zwischen zwei Ideen, das nicht länger währt als ein Blinzeln. Das wenigste in der Welt ist sensationell, aber das eine bewirkt das andere und selbst die Unterlassung von etwas, verändert den Möglichkeitsraum der Welt für immer. Insofern kommt es drauf an, was jeder Einzelne tut oder nicht tut.

Am 9. Juli 2000 erneuert ein Mechaniker in Houston, Texas an einer Klappe am Hecktriebwerk einer DC-10 der Continental Airlines einen Metallstreifen, der zuvor bereits im Juni in Tel Aviv ausgetauscht worden war. Irgendetwas passt nicht. Der Mechaniker beschließt einen Streifen zu benutzen, der nicht ganz den Vorgaben des Herstellers entspricht, aber dennoch sitzt. Ungefähr zwei Wochen später, am 25. Juli 2000 startet die DC-10 vom Flughafen Paris-Charles de Gaulle und noch bevor sie abhebt, löst sich die Titan-Lamelle und fällt auf das Rollfeld nieder.
Kurz darauf startet der Air-France-Flug 4590, eine Concorde auf dem Weg nach New York, überrollt mit dem rechten Reifen die herumliegende Lamelle, durch die hohe Geschwindigkeit platzt der Reifen, Gummifetzen wirbeln hoch, schlagen an, lösen im Tank der linken Tragfläche eine Schockwelle aus, sodaß Treibstoff austritt. Reifenteile werden auch gegen die Fahrwehrselektrik geschleudert, beschädigen sie und verhindern so das Einfahren nach erfolgtem Start. Man versucht es vom Cockpit aus mehrfach, es bilden sich Funken in der beschädigten Elektrik, die den austretenden Treibstoff entzünden. Die zwei linken Triebwerke verlieren an Schub, aber man hebt ab, weil die Geschwindigkeit kein Abbremsen auf der Startbahn mehr zuläßt. Das Feuer läßt die zwei Triebwerke nun ganz ausfallen, der betroffene Tragflügel beginnt in der Hitze zu schmelzen, die Concorde dreht aufgrund des Schubverlustes um ca. 100° zur Seite und stürzt eine Minute nach dem Start auf das Nebengebäude eines Hotels und brennt völlig aus.

Ein sehr dramatisches Ereignis, das eine beiläufige Ursache hatte – der Mechaniker hat dem sicher keinerlei Bedeutung zugemessen. Was passt und verschraubt ist, passt und ist verschraubt.  
Die Welt funktioniert nicht nur in ihren dramatischen Entwicklungen, sondern immer und überall genau so: kleinste Ursachen können extreme Folgen haben. In den allermeisten Fällen strengen wir keine so detaillierten Untersuchungen an, um den casus malus zu ergründen. Was genau uns in welchem Moment dazu verführt hat, nach links zu blicken, wo die Sonne durch einen blühenden Kirschbaum blinzelt, während von rechts ein Moped herantuckert. Und streng genommen ist die Ursachenanalyse nie wirklich komplett. Vielleicht für menschliche Begriffe wie Schuld und Sühne. Weshalb hat der Mechaniker so entschieden?

Wer will das wissen und je nachvollziehen – vielleicht war er verärgert über einen defekten Toaster, der kein Frühstück abwirft und die Laune verdirbt, ihn so miesmutig macht, daß er die Sicherheitsbestimmungen nicht 1:1 einhält, er muß sich beeilen damit er rechtzeitig in die Kantine kommt. Er denkt daran, daß er seine Frau zu genau diesem Toaster überredet hat, obwohl sie ein verchromtes Gerät mit mehr Schnickschnack, dafür auch zum dreifachen Preis bevorzugt hätte – und ärgert sich nun maßlos über sich selbst. Vielleicht hat aber einfach nur seine Lieblings-Baseball-Mannschaft verloren. Das ist vielleicht nicht zwingend, aber dennoch ursächlich.
Und auch hier reißt die Ursachenkette eigentlich nicht ab. Sie reißt niemals und nirgends ab. Vielleicht gibt es ein Kindheitserlebnis, ein Flughafenbesuch, der in dem Mann erst den Wunsch Flugzeugmechaniker zu werden entstehen ließ. Ohne diesen begeisternden Moment hätte er seinen Beruf nicht gewählt. Man kann das weiterspielen: Sein Daddy hat vielleicht nur deshalb mit dem Jungen den Flughafen besucht, weil dieser auch mit seinem Vater etwas ähnlich Aufregendes erlebt hatte und er seinem Kind etwas mitgeben wollte, was ihm selber zuteil geworden war: die Faszination der Technik. Also macht er mit seinem Jungen bei schönem Wetter einen Ausflug zum Airport, während die Mutter zuhause ihre Migräne pflegt.