Essay
Der Aspektraum der Arroganz
Alles das ist irgendwie in der Titanlamelle auf dem Rollfeld des französischen Flughafens eingewoben. Nicht sichtbar, nicht physikalisch, aber in der Faktizität, daß dieses Metallteil jetzt dort liegt und eine Concorde geradewegs darauf zufährt. Ein Hauch andere Luft in der Vergangenheit hätte genügt, das Unglück nicht geschehen zu lassen. Angenommen an dem Tag, an dem der Daddy des Mechanikers seinen Sohnemann zum Ausflug auf den Flughafen einlädt, hätte die Ehefrau zufällig keine Migräne gehabt und ein alternatives Ausflugsziel durchgesetzt. Der Junge wäre vielleicht nie Flugzeugmechaniker geworden. Ein Hauch in der gerade verflossenen Gegenwart hätte gleichsam genügt: wenn sich zwei Sekunden später die Lamelle von der DC-10 löst und ein Windhauch sie um Zentimeter wegträgt, während sie zu Boden flattert, wir hätten nie mehr etwas von ihr gehört.
Die Welt funktioniert als Moment und trotzdem als Geschichte. Jeder Moment bringt etwas zu Ende. Und behauptet gleichzeitig etwas Neues. Er muss stattfinden, weil die Dinge stattfinden. Ein Moment ist ein Gebirge aus Zeit, die überall anders geschieht. Im Kleinsten ist sie schnell und nach dem Großen hin verlangsamt sie sich. Die Welt ist in tausend Dimensionen organisiert und wie sie in der einen geschieht, ist das Schwungrad der nächsten. Struktur ist eine Folge von Eigenschaft, Komplexität ist eine Folge von Lesbarkeit und Sprache. So hat alles seine eigene Art, die Welt zu lesen und bewirkt damit eine Welt, die so ist, wie sie gelesen wurde. Wir Menschen bewirken eine Welt, die unverkennbar die Spuren davon trägt, wie wir sie lesen. Wir zerkratzen den Planeten und betonieren ihn, wir verändern das Klima und jagen seltsamen Träumen hinterher. Wir haben mit unseren Wahrheiten die Welt für immer verändert.
Und dabei bestimmte Aspekte der Welt angesehen und uns dafür entschieden, andere nicht zu betrachten. Was wir für uns als wahr festhalten, ist der Glaube, Aspekte, die in der Welt sind, ausreichend richtig gedeutet zu haben, sofern sie unsere Fragen beantworten. Dabei sitzen wir um ein Weltending, und denken, so wie wir es von unserer Seite aus erkennen, sei es tatsächlich beschaffen. Die Rückseite kennen wir nicht. Alle Wahrheiten sind ausschließlich Gültigkeiten eines speziellen Lebenskontextes, der sich aspektbezogen erarbeitet - die Wahrheit, die sich auf alle Ebenen bezieht, in denen sich Dasein organisiert, gibt es nicht. Nur kontextbezogene Konzepte. Wie das menschliche. Und unsere Welt (= unser Kontext) ist mittlerweile nicht mehr die natürliche, sondern eine technisierte und selbstgeformte. Die Aspekträume, die sie uns anbietet, enthalten in einem gewissen Sinn nur uns und wieder uns und immer wieder uns, mit allem, was wir in die Welt vor uns hinstellen. Wir formen und die Form prägt auf uns zurück. Immerwährende Rückkopplung. So sind wir irgendwann nicht mehr tauglich für die Welt, sondern nur noch für das, was wir von uns aus in die Welt stellen. Die Aspekte, die unser Leben ausmachen, spiegeln sich in allem, was wir tun. Wir wollen Strom, also bauen wir etwas, das Strom erzeugt. Jemand kommt auf die Idee eine Millionen Euro täglich damit zu verdienen, also baut er ein Atomkraftwerk und legt ein strahlendes Ei in die Landschaft. Wir nutzen einen Aspektraum, den die Radioaktivität uns bietet, und kreiieren einen Aspektraum, der im worst case auf Jahrzehntausende unbewohnbar ist. Wir sind nämlich kluge Supermänner, die alles im Griff haben. Die Wissenschaft hat alles hinterfragt und uns gekrönt. Sie hat ein paar reguläre Fälle angeschaut und ihre Lehren daraus gezogen. Und jetzt beherrschen wir die ganze Welt.
Unser Weltbild ist ungesund. Für Jahrhunderte haben wir versucht durch Reduktion die Vorgänge in der Welt zu erfassen, haben alles ins Einfache und Regelmäßige geholt, ein Haus der Logik gebaut, dort unter Laborbedingungen Erklärungen evoziert und uns für unsere Genialität gegenseitig die Hände geschüttelt. Jetzt stehen wir vor komplexen Problemen und haben keine Ahnung, wie man sie löst. „Es wird schon gut gehen“, heißt es. „Wir werden schon eine Lösung finden.“
Das kann sogar stimmen. Wenn wir lernen komplex genug zu denken und Möglichkeitswelten nicht ausschließlich nach Aspekträumen abzusuchen, die nur uns zu pass kommen. Wir müssen weg vom Erkennen, das uns enthält, zu einem Erkennen, das ohne uns auskommt.
Erkenntnisse, die durch Reduktion gewonnen werden, können beim Erstellen eines Konzeptes hilfreich sein, das einen bestimmten Wirkbereich abdeckt, aber sie werden in den seltensten Fällen Gültigkeit für das Gesamte haben, denn dort existieren mannigfaltig emergente Phänomene, die aus den stufenweise auftauchenden Aspekt- und Möglichkeitsräumen entstehen, in denen sinnverändernde Kontexte herrschen (können), Phasenübergänge, Bifurkationsstellen. Man weiß mittlerweile einiges darüber. Zwei Jahrhunderte hat die Physik gedacht, alles erklären zu können, wenn die Ausgangssituation ausreichend bekannt ist – eine lineare Operation. Den Gedanken, daß etwas, das eine neue Qualität hat, urplötzlich entstehen könnte, wollte niemand assimilieren. Dabei ist es genau das, was sekündlich überall geschieht. Überall wo Dinge zusammen kommen und Räume entwerfen, zeitliche und geometrisch beschreibbare, entstehen auch Möglichkeitsräume mit Zugängen und Ausgängen, die nicht in reduktionistischen Beschreibungen enthalten sind. Und genau hier kann sich verwirklichen, was von einer reduzierten Anschauung her unerwartbar ist. Der amerikanische Physiker Philip W. Anderson hat das in Abwandlung des bekannten Satzes von Aristoteles so ausgedrückt: „Das Ganze ist nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile.“
Die Welt funktioniert als Moment und trotzdem als Geschichte. Jeder Moment bringt etwas zu Ende. Und behauptet gleichzeitig etwas Neues. Er muss stattfinden, weil die Dinge stattfinden. Ein Moment ist ein Gebirge aus Zeit, die überall anders geschieht. Im Kleinsten ist sie schnell und nach dem Großen hin verlangsamt sie sich. Die Welt ist in tausend Dimensionen organisiert und wie sie in der einen geschieht, ist das Schwungrad der nächsten. Struktur ist eine Folge von Eigenschaft, Komplexität ist eine Folge von Lesbarkeit und Sprache. So hat alles seine eigene Art, die Welt zu lesen und bewirkt damit eine Welt, die so ist, wie sie gelesen wurde. Wir Menschen bewirken eine Welt, die unverkennbar die Spuren davon trägt, wie wir sie lesen. Wir zerkratzen den Planeten und betonieren ihn, wir verändern das Klima und jagen seltsamen Träumen hinterher. Wir haben mit unseren Wahrheiten die Welt für immer verändert.
Und dabei bestimmte Aspekte der Welt angesehen und uns dafür entschieden, andere nicht zu betrachten. Was wir für uns als wahr festhalten, ist der Glaube, Aspekte, die in der Welt sind, ausreichend richtig gedeutet zu haben, sofern sie unsere Fragen beantworten. Dabei sitzen wir um ein Weltending, und denken, so wie wir es von unserer Seite aus erkennen, sei es tatsächlich beschaffen. Die Rückseite kennen wir nicht. Alle Wahrheiten sind ausschließlich Gültigkeiten eines speziellen Lebenskontextes, der sich aspektbezogen erarbeitet - die Wahrheit, die sich auf alle Ebenen bezieht, in denen sich Dasein organisiert, gibt es nicht. Nur kontextbezogene Konzepte. Wie das menschliche. Und unsere Welt (= unser Kontext) ist mittlerweile nicht mehr die natürliche, sondern eine technisierte und selbstgeformte. Die Aspekträume, die sie uns anbietet, enthalten in einem gewissen Sinn nur uns und wieder uns und immer wieder uns, mit allem, was wir in die Welt vor uns hinstellen. Wir formen und die Form prägt auf uns zurück. Immerwährende Rückkopplung. So sind wir irgendwann nicht mehr tauglich für die Welt, sondern nur noch für das, was wir von uns aus in die Welt stellen. Die Aspekte, die unser Leben ausmachen, spiegeln sich in allem, was wir tun. Wir wollen Strom, also bauen wir etwas, das Strom erzeugt. Jemand kommt auf die Idee eine Millionen Euro täglich damit zu verdienen, also baut er ein Atomkraftwerk und legt ein strahlendes Ei in die Landschaft. Wir nutzen einen Aspektraum, den die Radioaktivität uns bietet, und kreiieren einen Aspektraum, der im worst case auf Jahrzehntausende unbewohnbar ist. Wir sind nämlich kluge Supermänner, die alles im Griff haben. Die Wissenschaft hat alles hinterfragt und uns gekrönt. Sie hat ein paar reguläre Fälle angeschaut und ihre Lehren daraus gezogen. Und jetzt beherrschen wir die ganze Welt.
Unser Weltbild ist ungesund. Für Jahrhunderte haben wir versucht durch Reduktion die Vorgänge in der Welt zu erfassen, haben alles ins Einfache und Regelmäßige geholt, ein Haus der Logik gebaut, dort unter Laborbedingungen Erklärungen evoziert und uns für unsere Genialität gegenseitig die Hände geschüttelt. Jetzt stehen wir vor komplexen Problemen und haben keine Ahnung, wie man sie löst. „Es wird schon gut gehen“, heißt es. „Wir werden schon eine Lösung finden.“
Das kann sogar stimmen. Wenn wir lernen komplex genug zu denken und Möglichkeitswelten nicht ausschließlich nach Aspekträumen abzusuchen, die nur uns zu pass kommen. Wir müssen weg vom Erkennen, das uns enthält, zu einem Erkennen, das ohne uns auskommt.
Erkenntnisse, die durch Reduktion gewonnen werden, können beim Erstellen eines Konzeptes hilfreich sein, das einen bestimmten Wirkbereich abdeckt, aber sie werden in den seltensten Fällen Gültigkeit für das Gesamte haben, denn dort existieren mannigfaltig emergente Phänomene, die aus den stufenweise auftauchenden Aspekt- und Möglichkeitsräumen entstehen, in denen sinnverändernde Kontexte herrschen (können), Phasenübergänge, Bifurkationsstellen. Man weiß mittlerweile einiges darüber. Zwei Jahrhunderte hat die Physik gedacht, alles erklären zu können, wenn die Ausgangssituation ausreichend bekannt ist – eine lineare Operation. Den Gedanken, daß etwas, das eine neue Qualität hat, urplötzlich entstehen könnte, wollte niemand assimilieren. Dabei ist es genau das, was sekündlich überall geschieht. Überall wo Dinge zusammen kommen und Räume entwerfen, zeitliche und geometrisch beschreibbare, entstehen auch Möglichkeitsräume mit Zugängen und Ausgängen, die nicht in reduktionistischen Beschreibungen enthalten sind. Und genau hier kann sich verwirklichen, was von einer reduzierten Anschauung her unerwartbar ist. Der amerikanische Physiker Philip W. Anderson hat das in Abwandlung des bekannten Satzes von Aristoteles so ausgedrückt: „Das Ganze ist nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile.“