Der Aspektraum der Arroganz

Essay

Autor:
Frank Milautzcki
 

Essay

Der Aspektraum der Arroganz

Ein kleines Beispiel: In einer reduktionistischen Sicht besteht eine Gitarre aus einer ungeheuren großen und komplex angeordneten Menge von Atomen. Sie bilden unterschiedlichste chemische Elemente, vom Holz über den Nylonstrang bis hin zur gewickelten Metallsaite, die wiederum Einzelteile bilden, die wiederum alle zusammen in einer sehr speziellen und faszinierenden Architektur zueinander angeordnet und miteinander verbunden sind. Auf der Grundebene besteht die Gitarre unbestreitbar aus einer konkreten Anzahl von Atomen, die alle zunächst in ihrem eigenen spezifischen Kontexten vertreten und danach miteinander in Verbindung gebracht sind. Theoretisch ist es möglich einen atomaren Bauplan dazu zu zeichnen.

So würde vorgehen, wer reduktionistisch eine fertige Gitarre anschaut und eine Idee davon erhalten will, woraus sie besteht und wofür sie gut ist.

Eine Gitarre ist jedoch völlig anders entstanden, als sie der Reduktionist in der Rückschau zerlegt. Niemand würde auf die Idee kommen, einzelne Atome zu veranlassen gezielt gewisse Elemente zu bilden, diese in ausreichender Menge  und vorgegebener Form sich anreichern zu lassen, quasi Stück für Stück, Einzelteil für Einzelteil nacheinander aus Elementarteilchen entstehen zu lassen, Wirbel, Stege, Schräubchen, Leim, verschiedenste Hölzer mit verschiedenen Eigenschaften, Bügel etc. jeweils nach einem atomaren Bauplan herzustellen, diese miteinander zum Instrument zu verbinden, und zwar jedes Mal, wenn er einen Ton spielen möchte. Das entspräche der reduktionistischen Sicht: die Gitarre ist eine Ansammlung von Atomen und wird nach einem speziellen Bauplan hergestellt.

Die lebendige Sicht heißt: Die Gitarre ist eine Kombination aus verschiedenen Materialien mit jeweils eigenen Möglichkeitswelten und Dimensionen, die gleichzeitig in einer bestimmten Lebenssphäre verfügbar sind. Wobei die Materialien aus ganz unterschiedlichen Lebensräumen stammen, die alle nicht existent wurden, um dereinst etwas zu einer Gitarre beizutragen, weder als Stück Holz, als Darm einer Saite, als Metallsteg im Hals. Die Gitarre war sozusagen niemals im Erz beabsichtigt und auch nicht im Baum. Erz und Baum entwerfen erst dem Menschen gewaltige Möglichkeitsräume vom Speer bis zur Tür, vom Möbel bis zur Gitarre, und sie entwerfen diese Räume ausschließlich in der Sphäre des Menschen, für das Tier, das sich auf den Baum flüchtet, hat er eine ganz andere „Bedeutung“. Die Gitarre ist die Verwirklichung eines Möglichkeitsraumes des Menschen.
Das Sprachspiel, das dazu führt, dass sie entsteht, kombiniert atomare, chemische, physikalische, mineralische, pflanzliche, tierische und menschliche Sprache und zwar nicht nacheinander, sondern als gemeinsames Hier und Jetzt. Das ist kein babylonisches Sprachgewirr, sondern ein fein abgestimmtes Konzert. In der Gitarre finden wir Eigenschaften des Holz, Eigenschaften des Metalls, sogar Eigenschaften des Menschen kombiniert, die schließlich eine wunderbare, weit über jede reduktionistische Analyse hinausgehende musikalische Sprache möglich machen, die wiederum Welt und Menschen verändert.

Eine Gitarre auf dem Dachboden allerdings hält schon wieder völlig neue Möglichkeitsräume bereit, die nicht in der menschlichen Absicht lagen – dort ist sie ein wunderbares Versteck und trockener Platz für das Nest eines Mäuschens. Eine Chance dort im Winter zu überleben. Für eine Maus hat die Gitarre und ihr Schallloch völlig andere Entwicklungsräume, als für den Menschen.  Für manchen ist eine Gitarre  womöglich mehr eine Geldanlage, als ein Instrument, vor allem wenn Jimi Hendrix einmal auf ihr gespielt hat.

Das gleiche Ding, die gleiche Ansammlung von Atomen, hat – je nachdem, mit wem oder was sie auf der Welt, zufällig oder nicht, den Raum teilt - Dimensionen in sich, die zu völlig neuen Weltkonstellationen führen. Und dabei verheiraten sich die Möglichkeitsräume – jene der Maus, die auf dem Dachboden herumstreicht und nach einem geschützten Plätzchen sucht, und jene der Gitarre, die einen Resonanzkörper hat, um Jazz erklingen zu lassen. Dieser Hohlkörper ist plötzlich eine Dimension des Möglichkeitsraumes der Maus. Öffnet sich die Luke und der Opa kommt herauf, um für seinen Enkel, der heute Gebursttag hat, seine alte teure Ovation zu holen, dann wird aus dem Hohlkörper sofort einen anderen Raum.

Das sind tatsächlich Dimensionen. Mathematiker wissen das nicht und Physiker beginnen es erst zu ahnen. Die Welt steckt voller Möglichkeitsräume, in die hinein sie sich entwickeln kann. Keine Formel könnte diese je abbilden, kein Vektor sie beschreiben. Aber es ist genau der Weg, den die lebendige Welt geht. Bei jeder Begegnung enstehen zuvor nicht erahnbare und ausrechenbare, neuartige Möglichkeitsräume, Dimensionen, in die hinein sich die gerade entstandene Beziehung entwickeln kann. Wir ahnen das, wenn wir uns gegenüber stehen – etwas in uns checkt und erriecht den möglichen gemeinsamen Raum, es ist der Raum, der den anderen mit einbezieht, beinhaltet und dafür darf sich der eigene sogar verändern. Auf jeden Ebenen unserer Welt ensteht Potenz, sobald sich die Möglichkeitsräume zweier Dinge kreuzen, sobald ein großer Stein vor eine Grünalge rollt, die an Land gespült wurde, hat sie dort Schatten und vertrocknet nicht in der prallen Sonne – es kann Moos aus ihr werden.