Kriminal Tango in acht Folgen
4 Perugia
Oktober 2012
Am sonnigen Vorabend promenieren die Bewohner von Perugia wie überall in Italien in ihrer Hauptstraße, den Corso Vanucci immer auf und ab zwischen dem Domplatz und der Stadtmauer, dort muss man anhalten und weit über die Felder und Hügel sehen, zurück bis zum Duomo, hochgucken, wie die Handwerker zum Feierabend das Gerüst runter klettern, rund herum um den von einer Plastikglocke abgedeckten Fontana Maggiore. Etwas von einer Prozession hat solch ein Corso, und jeder Ort hat seine Flanierzeile dafür.
In Chioggia liefen sie, Katharina und Alfredo, ein Paar unter vielen, Leute sehen, immer hin und her zwischen dem großen Canale und dem Lido. Katharina riss sich los von dem krummen Loddel, wie sie ihn heimlich nennt. Wunders wie schön dünkt er sich, über jede Frau mault er, wie kommt er dazu. Mag sie auch Angst vor ihm haben, ihren Jähzorn hat sie ebenfalls, wie oft hat er sie alle Vorsicht vergessen lassen. Der brach aus ihr raus, als er wieder über eine schöne junge Frau meckerte: "Und du meinst, deinen dicken Bauch nackt zeigen zu können, guck an dir runter, der Nabel blinkt zwischen Hose und Hemd, das sich in der Knopfleiste breitzieht vor Fett, deine Pirelli-Ringe findest du allein so charmant!" Da hat er ins Gesicht geschlagen, fester als der Vater, geblutet hat es, die Lippe rechts ist nun geschwollen. Vor allen Leuten, die sofort weggeguckt haben. Demütigungen werden schlimmer durch Zeugen, werden unvergesslich eingebrannt durch den Schmerz. Ihr Hass auf den Loddel wächst und zieht wieder ein wenig ab vom Hass auf den ehemaligen Geliebten; ob Gefühl wandern könne, von einem Mann zum andern? Ob es einen Wander-Hass gibt? Auch zwingt die Situation zum Vergleichen: wie liebenswert ist Piero neben Alfredo! Wenn der sie vor dem schützen soll, hat sie doch den Bock zum Gärtner gemacht. Und diese Anmaßung, über sie zu verfügen, sie sich anzueignen, der da ausgerechnet sie.
Katharina sieht nicht mehr die Palazzi, kaum noch die promenierenden Personen davor, ist blind vor Hass und Wut. Als ob der Globus unter einem Grauschleier hängt, die Vorstellungskraft im schwarzen Schlamm dümpelt: sie kann keine heiteren Bilder mehr erzeugen. Väter und Töchter, Eltern und Kinder. In neuen Kleidern spazieren sie, Sich treffen und Sprechen, Sehen und Gesehen-Werden sind die Rituale des Corso. Das wäre etwas für ihre Mutter gewesen. Stolz hatte Katharinas Mutter im Nachkriegs-Leipzig ihr 'Drei-Mädelhaus' vorgeführt, schön anzuschauen fand sie die drei staksigen Zopfmädchen in hellen Kleidern mit den von Omakleidern abgetrennten Spitzenkragen und Knöpfen. Schon Katharinas eigener Vater hätte "seine Töchter am liebsten in Kartoffelsäcke eingenäht", hatte die Mutter ihre listigen Scherze gemacht, wenn sie ihnen 'in der schlechten Zeit' Kleider genäht hatte; schwer war der Stoff bei irgendwelchen Tauschgeschäften zu beschaffen, anstrengend die Arbeit an der ererbten Nähmaschine mit Fußtrampel-Antrieb. Je älter die Mädchen wurden, umso mehr hatte der 'kritische Journalist' über "die teuren neuen Kleider" gespottet. Sorgen waren es auch. Denn es war gerade, als er die Reportage über "die Bestie von Poldowo" schrieb. Im Dreiländereck waren die letzten drei Jahre zwanzig Mädchenleichen gefunden worden, mal in Polen, mal 'in der Tschechei' und mal in der Oberlausitz; keiner wusste, wie der oder die Mörder die Grenze überschritten. Warum das gleiche Muster?
Warum komme ich mit Gedanken so von Höcksken auf Stöcksken, wie die Norddeutschen sagen? Eines haben sie gemeinsam: Kriminalfälle und negativ sind sie. Sie beobachtet, wie die italienischen Eltern mit ihren Kindern umgehen, und den Söhnen alles durchgehen ließen. Ihnen auf der Nase herumtanzen, Sandro eigentlich auch. Ob bellissimo Sandro ein verwöhntes Balg war, oder ob die Nachbarin in der ausgebauten Dachwohnung sich als "ahnungsvoller Engel" erwies? Jedenfalls ist auch dieser langmütigsten seiner Babysitterinnen einmal der Geduldsfaden gerissen. Aus Leipzig waren sie wiedergekommen, Frau Schmid hatte Sandro vier Tage lang betreut. Sie öffnete die Wohnungstür, Geschrei tönte und lautes Miauen, Sandro warf sich Katharina an den Leib und trommelte wild auf sie ein: "Ra-ben-Mut-ter! Du hast mich alleingelassen! Pappa hat mich mitnehmen wollen!" Das wollte der auch. Aber von ihrem Leipzig hätte er dann keinen Meter gesehen, von ihr sowieso nicht, immer nur aus dem Kind einen Affen gemacht und kein Haus ohne das Söhnchen gefilmt. Sandro kletterte sogleich schmeichelnd an Pappa Piero hoch und lugte, ob die beiden Frauen sich auch richtig ärgerten. Sie hatte mit dem Durcheinander genug zu tun, Frau Schmid blieb gelassen und überlegte sehr laut: Auch ein Mafia-Boss muss eine Kindheit haben - so wie die von eurem Bengel, so stell ich sie mir vor."
Was ist gewesen? Ob es Absicht war oder die übliche Art kleiner Kinder, etwas beim Wort zu nehmen: für einige Abendstunden war Frau Schmid bisher immer gut mit dem Kind zurechtgekommen. Wenn sie "von Alt-Frankfott" erzählte, "Hessisch-Babbele" solle sie, über die Gasthäuser ihrer Familie am Römer, "Tante Schmids Märschenschdunde", wünschte sich Sandro. Vergilbte Radierungen und Fotografien hingen rings in ihrer Wohnung, Zinnkrüge und Bembel. Sandro liebte es, sie zu betrachten und ihre Erklärungen zu hören. Vor allem mochte der Junge Erzählen, das machte ihn ruhig, er war "hypermotorisch".
So viele Tage mit dem Kleinen allein, wurde Frau Schmid nicht mehr mit ihm fertig. Die Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld, liebe und wertvolle Andenken waren zerbrochen. Hatte er die Stecknadeln nun in ihren Lieblingskaktus gesteckt, um ihn zu zerstören, oder waren das harmlose kindliche Experimente? Das gleiche fragt sie sich bei der Sache mit Willi, dem weißen Kater. "Er wäscht sich gern", sagen alle."Am saubersten wird's in der Waschmaschine." "Wasch dich mal, putz den Kater mal ab, immer kugelt ihr euch auf dem Fußboden". Hatte die reinliche Frau Schmid geraten. Sandro hatte sie beim Wort genommen, Willi in die Waschtrommel gesetzt. Als Frau Schmid in die Küche kam, redete das Kind auf ihn ein, stellte einen Napf Breckis rein, "falls du Hunger kriegst oder dir langweilisch wird". Das hörte sich eher nach Fürsorge als nach Bosheit an. Sandro heulte, als sie den Kater aus der Waschtrommel nahm und wollte von ihren Erklärungen nichts wissen. Seitdem bin ich zwiespältig, einerseits vergöttere ich ihn immer noch, anderseits mache ich mir Sorgen. Anfangs nur, weil wir ihn verwöhnten, Piero geradezu hysterisch. Von seiner Familie wusste ich nichts. Jetzt kommen die neuen Befürchtungen dazu: die Genen von 'denen da'. Den italienischen Gangstern. Jedenfalls sind sie seit drei Wochen alle aus unserem Frankfurter Haus fort - die Pizzeria leitet der Cousin, falls er das ist: Piero, Sandro und sein langhaariger Kater Willi sollen irgendwo in Italien sein. Und nun bin ich auch hier. Katharina fragt sich, warum Alfredo sie wohl so krampfhaft gerade heute und von dieser Piazza fernhält. Das hat was zu bedeuten. Vielleicht hängt es mit den vielen Menschen zusammen? Am Vorabend, Stunde des Corso, Mädchen und Jungen in modischer Kleidung flanieren und flirten, Mütter mit Kinderwagen zeigen sich gegenseitig ihre Bambini. Eltern, eines links, eines rechts, führen ihre Kinder an den Händen spazieren. Wie sie sie herausputzen, die Mädchen mit Spitzenkragen und runden Hütchen wie winzige Damen. Vor ihr schaukelt ein kleiner Junge zwischen den Armen einer jungen Frau und einer in ihrem Alter, seiner Mutter und Großmutter vielleicht, den braunen Lockenkopf färbt die Abendsonne kastanienrot. Wie Sandro. Sandruccio. Wovon das Herz voll ist, läuft nicht der Mund über, hüten wird sie sich bei diesem miesen Begleiter; er würde das gegen sie verwenden. Doch überall sieht sie den Sohn, sicherlich fata morgana der Sehnsucht. "Du und ein Muttertier", hat sie der Miese verhöhnt. Eigentlich pervers, dass sie gerade der vor dem anderen 'beschützen' soll. Befreien. In welche Gesellschaft ist sie geraten? Mutterliebe, über die Piero niemals gelacht hat. Gar nicht dran denken. Und doch. Nun zappelt der kleine Junge dort vorn, dem Alter nach kann er es sein, die graden Beine sind zu dünn, auch hat ihr Kind keinen rötlichen Ausschlag in der Kniebeuge. Diese Rinne über der Wirbelsäule hoch in die Haare des dünnen Hälschens ist wie bei ihm, und dass er immer in Bewegung sein muss und so gern widerspricht. Den Kopf schüttelt er heftig, schreit no no, nein, nein. Oder redet sie sich das deutsche Wort ein? Keine Zeit zum Grübeln, zugucken: Er stampft mit dem Fuß auf. Bockig. Reißt sich los, rennt die Treppe hoch, liebevoll sind die beiden Frauen zu ihm, das ist wahr. Rennen zu ihm, fangen ihn ein. Keine schreit, keine schlägt. Rund um den eingerüsteten Brunnen am Domplatz jagt er, lacht und schreit. Rennt dann hoch zum Palazzo dei Priori, dem Rathaus, gerade als eine Hochzeitsgesellschaft aus dem Standesamt kommt; die bei den Frauen rufen von unten. Seinen Namen. Den gibt es wohl häufig hier. Er dreht sich um. Er ist es. Sandro. Steht auf der Treppe, die jüngere Frau fasst ihn liebevoll um, die Schwester des Piero könnte sie dem Gesicht nach sein. Das Kind reckt die Arme: "Mamma Mamma. Ich will zu meiner Mamma." Katharina bahnt sich den Weg durch die Menge, sieht ihn nicht mehr vor lauter Köpfen, herzzerreißend die verzweifelte Stimme, nun sieht sie ihn wieder, in ihre Richtung schaut er, hat er sie gesehen, oder hat er schon oft so gerufen, seit er von ihr fort ist.