Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Kriminal Tango in acht Folgen

Autor:
Mechthild Curtius
 

Kriminal Tango in acht Folgen

4 Perugia

Harte Hände reißen sie zurück. "Du versaust mir das Geschäft nicht." Alfredo zischt es durch die gespaltenen Zähne, sie wehrt sich, keiner kommt ihr zur Hilfe, warum nicht. Der ziehende Schmerz um das Kind mengt sich mit Todesangst für sie beide, hell und klar blitzt es ihr durch den Kopf: der Killertyp muss weg von Sandro, bei den Frauen ist das Kind sicherer als bei mir. Erst mal fort. Wie eine Stoffpuppe zieht Alfredo sie durchs Gedränge, und sie lässt sich ziehen, jäh gestürzt in Depression, im  dem Brunnen tief unten zu sitzen im Schlamm, nicht viel mehr als tot. Er muss sie nur im Rücken leicht anschieben, sie tapst vor ihm her, Angst würgt wirklich, sie hustet. Jemand ist nun doch aufmerksam geworden. "Signora ... Dottore", hört sie wie hinter Glas. Alfredo klopft ihr auf den Rücken und hält sie, beugt sie nach vorn, das sieht fürsorglich aus: "Nur ein Hustenanfall. Meine Frau hat Asthma, das Wetter." Sie ist auch noch erleichtert, als er sie auf einen Stuhl vor dem Café am Museum niedersetzt und zwei mal Espresso doppio con Anice bestellt. Es bricht alles zusammen. Eigentlich ist längst alles zusammengebrochen, nun wieder, wie vor fünf Jahren bei Norberts Tod. Die Diagnose von seiner tödlichen Krankheit hatte uns beide überfallen, Tag für Tag war er schwächer geworden. Ich hatte ihn monatelang gepflegt. Die Söhne hatten die Krankenatmosphäre geflohen. Wochenlang war ich fast immer mit einem allein, der nur noch wenige Minuten am Tag wach wurde. Nach seinem Tod hatte ich mich mit ihm begraben gefühlt. Wieder hatte es ein halbes Jahr später, im mittleren Lebensabschnitt, eine unerwartete Wende gegeben, dieses Mal zum Guten. Bloß weg, nur fort. Wie hatte ich nach dem überraschenden Erbe auf einen neuen Anfang in der neuen Stadt gehofft, im Westen noch dazu. Frankfurt, nicht dem an der Oder, sondern am Main. Einige Male noch waren im Jahr 1990 Briefe hin und hergegangen, mehrere Poststempel bezeugten diese Verwirrung.

Wie ein zweites Leben nach dem Tod hatte das angefangen, bald nach dem halbherzigen Umzug erst nur mal so nach Frankfurt in das fremde Haus. Durch Pieros Liebe erst wurde es das eigene Haus, und daraufhin war sie erst ganz in Frankfurt geblieben. Sandro war neun Monate später sowieso neues Leben, sie würde für ihn da sein bis zum seligen Ende. Denkst du, hast du gedacht. Bitteres Ende. Unerwartet und bald. Was werden sie dem Kind erzählt haben? Katharina stürzt den Espresso herunter und den fiesen Anis hinterher. "Na siehst du, dein Maul tut' s ja wieder!" Alfredo scheint wirklich erleichtert zu sein, gutmütig ist der tatsächlich, wenn er sich nicht selber bedroht fühlt, Bösewicht muss anstrengend sein. Na siehst du, das Hirn funktioniert ja wieder! Auch der Galgenhumor. Sie hatte dem Vater von Sandro, Piero, wieder und wieder geschrieben, angerufen: "Strategisch vorgehen, in Güte versuchen", hatte ihr der Anwalt geraten. "Wenn die Angehörigen erst einmal mit den Kindern im Ausland sind, ist es sehr schwer, sie ausfindig zu machen. In Ihrem Fall eigentlich günstig für Sie, dass Sie nicht verheiratet sind."

Was nützt dir alles Recht, hatte Sandro sie schon vorher verlacht. Monatelang sind ihre Briefe für die Katz gewesen. Jemand hat ihr auf den letzten Brief geantwortet, unterschrieben als Piero. Aber er ist es nicht. Italienisch der Brief, der Poststempel verwischt, aber vielleicht heißt das auf dem Balken über der Briefmarke mit dem Gesicht vom Papst Pius 'Ascoli Piceno', irgendein langes Wort, wer kennt die Hunderte kleiner Gemeinden in einem anderen Land. Dass es piccolo Sandro gut geht, behauptet die anonyme Schreiberin nicht nur, sie beweist es auf die Art, wie sie das Kind beschreibt. Katharina ist sicher, dass es eine Frau ist. Ohne Güte ist der Brief nicht; eine der beiden Frauen, die eine Frau wie sie begreifen, sich in ihre Sorgen hineinversetzen kann, könnte es sein. Oder beide. Frauen-Komplott hinter aller Männer Rücken. Oder gar doch mit Pieros Wissen? Der italienische Brief hat sie getröstet. Und doch hat sie sich daraufhin auf den Weg und auf die Suche gemacht. Katharina trinkt den Espresso aus und sieht sich vorsichtig um, der Corso verläuft sich, Abend wird, sie riskiert einen Blick auf Alfredo, ihren Beschützer. Ihr Gefängniswärter ist er wieder geworden. "Geh vor. Und mach keinen Quatsch mehr." Er müsse erkunden, wo Piero sei. "Wenn schon die Familie hier ist, ist er es auch." Er hält sich auf Abstand, das ist gut. Ihr traut er nicht, sie durchschaut er: "Die siehst du nie wieder, längst sind die auf dem Heimweg, wer weiß wohin. Ich krieg es raus. Geh zurück ins Hotel. Ich melde mich dort."

Perugia, eng wie alle Altstädte auf Bergen, hat sein Problem gelöst mit Rolltreppen und Parkplätzen in der Ebene. Am weiten Platz unterhalb einer "Scala mobile" steht das Hotel Rosalba. Katharina duscht, liegt wach auf dem Bett, wartet, wartet, fährt mit der Rolltreppe in die Oberstadt, geht allein durch Perugia, allein ins Ristorante Perugino. Was heißt allein, beobachtet fühlt sie sich. Den ganzen Abend. Innere Monologe, Vorwürfe: In diese Zwickmühle, Katharina, hast du dich selbst gebracht. Mit Piero war es richtig. Dein Leipzig hat er sehen wollen und besichtigt wie du sein Italien. Ins Museum, da gehst du morgen allein. Versuchst abzuschalten. Ach was. Sobald ich einen Vierjährigen sehe, kommt mit der Sehnsucht der Hass. Ich werde langsam verrückt. Nicht mehr allein sein. Nach Norberts Tod hatte ich eine Weile gebraucht, um das Alleinsein zu genießen, jetzt ist es mir leid. Aber immer noch besser als ihre gezwungene Zweisamkeit mit Alfredo, dem Ekel. Mit der Skala mobile morgens allein ins Centrum, in die Galleria Nazionale dell'Umbria, Museo Vanucci, am Corso Vanucci. Vieles ist hier nach dem Bürgernamen von Perugino genannt, dem großen Sohn der Stadt. "Viele seiner Gemälde hängen hier", erzählt ein älterer Herr am Eingang und führt sie ins tertio piano, dritte Stockwerk, die zwei unteren sind Ämter der Stadt Perugia. "Seid ihr teuer!" Das Palazzo-Gemäuer und die Fensterfront außen ist mit Sandstrahlgebläse gereinigt, der breite Palazzo außen und innen für Milliarden Lire restauriert. Achttausend Lire zahlt jeder Eintritt. "Unter Achtzehn und über Sechzig gratuito. Zeigen Sie Ihren Pass." Er sei nicht Greis, sei Künstler und Kunstfreund, sagt der Herr und zahlt. "Unvorstellbar, dass Michelangelo oder Picasso als Rentner gratis in ein Museum gegangen seien!" Er schüttelt lachend den Kopf und sagt das alles in Katharinas Gesicht hinein. Stutzt dann, schweigt, starrt. "Mamma mia, diese Ähnlichkeit!" "Was ist los, was hab ich angestellt?" "Kommen Sie, Signora, ich zeig Ihnen etwas!" Sie ist erhört worden, mit der Einsamkeit ist vorerst ein Ende. Im samtigen Grausilber kleben Teppiche an Stellwänden, daran die Bilder. Drinnen überall Madonnen mit Jesuskindern und draußen wirkliche Mütter mit Bambini. Meint er die? Woher weiß er ... er kann nichts von ihr wissen. "Scusi, Signora." Er nimmt sie zart beim Arm und führt sie an vielen biblischen Szenen und Madonnen vorbei. Hält vor der finster blickenden Madonna des Piero deIla Francesca. "Das sind im Augenblick Sie." Der bannende Blick aus den schmalen schrägen Augen der Madonna kommt ihr bösartig vor. Schierlingsgrün, lauernd. Nicht fromm. Aber womöglich wachend, über das Jesuskind, das viel zu schwer auf ihrem Arm thront. Aber auch der Mann zieht sie in seinen Bann, hat seine Augen abwechselnd auf sie gerichtet und auf das Madonnengesicht. Doch, die Augen gucken so, als sei Hass hinter der sehr hohen Stirn.