Essay

Einiges über die Null

Null als Basis

Nützlich und genutzt ist die Null aber auch als Stellenwert oder Basis. Diessoll der Ort sein, an dem eindeutig etwas beginnt. Aber der physikalische Beginn von etwas liegt immer jenseits der Null, also so eben davor oder so eben dahinter. Am Bezugspunkt Null selbst geschieht nichts. Es gibt das Nichts nur als Partner, von dem aus das Etwas maßgeblich wirken kann. Die Null „existiert“ sozusagen nur als beigesetzter Schatten dessen, was ins Existieren kommt. Es gibt gerade schon das neue Ding und erst und nur weil es dieses gibt, können wir ihm gedanklich einen Punkt hinzusetzen, wo es noch nicht existiert. 

Wenn wir dann mit mathematischen Methoden die Gegenstände vor oder hinter dem Punkt so lange einschrumpfen oder erweitern bis sie in die Unendlichkeit entschwinden (Zenon lässt grüßen), bleibt gedanklich ein Rest – die große Leere. Aber wie groß ist denn diese Leere?

Mathematisch gesehen muss sie riesengroß sein, denn sie dient allen Zahlen von der kleinsten bis zur größten als Partner. Auf der Zahlenachse sind sie alle gegen die Null aufgetragen. Wenn wir sie einzeln auftragen und der Null gegenüberstellen, so muss jede auf seine Weise gegen die Null bestehen. Das große Ding muss genauso gegen Nichts abgrenzbar sein, wie das kleine Ding. Wir reden also von Grenzen, Grenzbereichen, in denen das Ding großes oder kleines Ding ist und anhand derer wir die Größe des Dings angeben wollen. Das können wir in der Praxis aber nur, indem wir nicht mit der Null allein vergleichen, was uns bestenfalls Auskünfte über Dinglichkeit an sich verschafft, sondern wir müssen auch Ding mit Ding vergleichen. Da hilft uns als drittes „Ding“ die Null. Ein großes Ding, das alleine gegen die Null steht, hat nur eine von Null verschiedene Größe – eine Idee von seinem Ausmaß wird uns erst bekannt, wenn wir ein weiteres Ding dagegenhalten.

So gibt uns die Null an sich keinen Wert an die Hand, sondern hilft uns nur bei der Beantwortung der qualitativen Frage, ob etwas existiert oder nicht existiert. Sie ist quantitativ wertlos und keine Zahl. Die Dinge an sich machen ihren Wert unter sich aus. Ob es sie gibt, erfahren wir durch den Vergleich mit der Null. Jede weitere Position auf dem Zahlenstrahl antwortet zwiefach: einmal dem Nullpunkt und behauptet damit seine Existenz, und zum anderen den weiteren Existenzen, inwieweit sie von Null verschieden sind. Eine Zahl sagt: ich bin von Null verschieden. Eine andere Zahl sagt: ich bin auf andere Art und Weise von Null verschieden wie du. Und eigentlich sagen die einzelnen Zahlen: wenn es mich nicht gäbe, würde ich auf meine spezielle Art und Weise fehlen. Sie sagen nicht, dass es dann statt ihrer ein zählbares Nichts gibt.

Der logische Fauxpas unseres Denkens ist der, dass wir den Bezugsschatten, sobald wir ihn installiert haben, nach Wegfall des Bezugs als weiterhin existent ansehen. Was bleibt von dem Ding, wenn es nicht mehr da ist? - nichts. Das Ding ist nicht mehr die Sache, die Ur-Sache der Zahl. Ich stelle nichts mehr fest, weil es die Ur-Sache nicht mehr gibt. Die Mathematik macht aus diesem simplen Sachverhalt einen anderen Satz: Ich stelle Nichts fest, weil es ein Nichts als Ur-Sache gibt. Das Nichts liegt als eine Ur-Sache vor, die ich ohne Ding feststellen kann.

Das ist nicht mehr als eine philosophische Behauptung und hat mit echter Logik nichts zu tun. Aber es ist gängige Mathematik und trabt in unseren Köpfen durch eine Welt, in der es das, was es behandelt, in Wahrheit nicht gibt.

Wir sollten uns darauf einigen, dass das Nichts ein nur gedachter, dynamischer Gegenpart des Etwas ist, je größer das Etwas, desto größer das Nichts um es herum und je kleiner und verschwindender ein Etwas, umso kleiner und verschwindender auch der Bezugsschatten des Nichts. So verschwindet mit dem Etwas schließlich auch seine Bühne. Wenn ein Quantum restlos verschwindet (was in der Realität nicht vorkommt), verschwindet damit auch sein Bezugswesen.

Es ist das alte Problem der Dinglichkeit. Machen die Dinge, dass es bestimmte Attribute und Aspektwahrheiten gibt, oder bilden die auftretenden Attribute und Aspektwahrheiten Eigenschaften des Nichts ab, in das hinein die Dinge zu existieren beginnen. Mathematik beantwortet für sich diese Frage ganz klar: es gibt das Nichts und es macht die Eigenschaften. Das ist eine metaphysische Art, die Welt zu sehen. Sie operiert mit Nicht-Beweisbarem. Ich persönlich ziehe folgende Idee vor: Es gibt die Dinge und sie bewirken sich.

Die Existenz der Zahl Null führt beim Gebrauch unserer physikalischen Theorien zu äußerst dramatischen Lösungen, zu Singularitäten wie dem Schwarzen Loch, wo ungeheure Massen den Raum Null einnehmen. Alles, was dorthin gerät, bleibt für immer in der Null verborgen. Eine ähnliche und mathematisch gleichrichtige Lösung sind die Weißen Löcher. Sie spucken all diese Materie wieder aus, die das Schwarze Loch in der Null verbirgt. Es ist also ein Vulkan wie ein Urknall. All diese Effekte sind mathematische Implifikationen, die aus der Theorie entwickelt werden und damit zu tun haben, welche Lösungen wir zulassen oder nicht und welche Metriken wir dafür verwenden (inklusive der Null). Es gibt heute andere Theorien wie die der Schleifengravitation, die solche Singularitäten gar nicht erst erzeugen, weil sie eine Mindestgröße realmöglicher Raumzeit einführen und damit eine Realexistenz der Null ausschließen.

Unsere Theorien prägen nicht nur unsere Science Fiction Romane sondern auch das Bild von der Welt, das wir haben und Wissenschaft spiegelt, so erinnere ich den Ausspruch eines Kabarettisten, den aktuellen Stand des Irrtums. Ein Irrtum ist: die Realexistenz der Null. Ich denke nicht, dass irgendjemand irgendwo auf der Welt jemals einem Ding „Null“ begegnet ist. Aber wir sind so klug und rechnen ständig damit. Wir rechnen die Null in die Welt hinein. Wahrscheinlich weil wir es besser wissen als die Natur.

Ironie beiseite: Wir werden immer etwas finden. Und dieses tatsächlich existierende Etwas ist wichtiger als das nicht existierende Nichts. Das, was da ist, formt unsere Welt. Deswegen brauchen wir eine Mathematik mehr der Qualität der Form statt der quantifizierbaren Veränderlichkeit. Vieles muss neu gedacht werden. Je weniger wahr wir auf die Welt antworten, umso weniger gut sind wir drin im Spiel. Wenn wir darauf bestehen, dass das, was wir schon immer denken, die weiterhin richtigen Antworten enthält, dann kicken wir uns raus - wie eine Mannschaft, die auf dem Platz  aufopferungsvoll fightet, aber nach den falschen Regeln spielt, sie macht und tut, hetzt, kämpft und rackert, aber am Ende verliert sie, weil sie einem Ball hinterherlief, der gar nicht da war.


Frank Milautzcki hat zuletzt »Der Zufall von plic oder plex« auf Fixpoetry geschrieben.

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