Essay
Offen für Bewegung. Bettina Hartz über jüngere deutschsprachige Gegenwartslyrik.
Mai 2013 | Hamburg
Die Lyrik, wie jede Kunstgattung, macht immer wieder dürre Zeiten durch. Die letzten zehn Jahre aber haben geleuchtet. So sehr, dass es selbst dem lyrikfernen und immer lyrikferneren Feuilleton auffiel und es sich hin und wieder zu panegyrischen Sonderseiten hinreißen ließ; die „Zeit“ druckte gar ein Jahr lang Gedichte, die sich auf mehr oder weniger aktuelle politische Ereignisse und Vorgänge bezogen. Den Versuch, die ästhetische Qualität der entstandenen Texte zu bestimmen, unternahm sie jedoch nicht.
Das gilt fast allgemein. Gedichtabdruck und PoetInnenporträts machen zwar auf das Phänomen des neugewonnenen dichterischen Reichtums, auf Zeitschriften- und Verlagsneugründungen, die sich nicht nur der Vielfalt der poetischen Stimmen verschrieben, sondern gar die „Poesie als Lebensform“ (Kookbooks) entdeckt haben, aufmerksam, gehen aber über bloßes hinweisendes Staunen selten hinaus – und schon gar nicht ersetzen sie die (literarische) Kritik. Ihre Aufgabe wäre es ja, nicht nur zu sammeln, sondern zu sichten, und das Gesichtete einzuordnen und zu bewerten.
Dass ein sprachliches Kunstwerk so sehr einzuschüchtern vermag, und zwar umso mehr, so scheint mir, je größer seine Qualitäten sind, ist verwunderlich. Ein Gedicht verlangt ja erst einmal nicht mehr, als dass wir uns für seine Bewegung öffnen, das heißt seinem Klang, seiner syntaktischen Struktur, der Offenheit oder Geschlossenheit seiner Form, der Polyvalenz und Schönheit seiner Sprache sowie den Assoziationen, die sie in uns auslöst, überlassen, ihm vertrauen und unseren eigenen Emotionen uns anvertrauen: Freude, Verwirrung, Langeweile, Begeisterung, Erschauern, Furcht. Etwas, was uns beim Hören eines Musikstücks vollkommen klar ist. Seinen ästhetischen Überschuss zu reduzieren auf eine Bedeutung, seine emotionale Spannung, seine sinnliche Verführungskraft aufzulösen in kommunizierbares Verständnis käme uns nicht in den Sinn.
Auch das Gedicht will keine Verständigung über den „Inhalt“ herstellen. Es will vielmehr, wovon es spricht, erzeugen. Was es sagt, sagt es an der Oberfläche, nicht in einem Dahinter, das erst mehr oder weniger umständlich zu entbergen wäre – und das man dann hat. Sprache dient dabei nicht, wie in der Alltagskommunikation, als Mittel, sondern als Material. Je lyrischer ein Gedicht ist, das heißt, je mehr es sich von den erzählenden Gattungen, der Ballade zum Beispiel, entfernt, je dichter seine innertextuellen Fäden gesponnen, je feiner und reicher seine lautlichen Strukturen, je vielfältiger und komplexer seine formalen Bezüge sind, desto schwieriger (und fragwürdiger) wird es, es auf seinen Inhalt zu reduzieren, nach seiner Bedeutung oder seinem Sinn zu fragen. Die Paraphrasierung der Lyrik zerstört, was sie ausmacht: grafische Gestalt, Metrum, Rhythmus, Stil, Klang, Metaphorik. Ein wesentliches Merkmal der Lyrik, die Wiederholung (Metrum, Reim, Refrain etc.) etwa, ist rein inhaltlich betrachtet irrelevant, sie dient vor allem dem ästhetischen Vergnügen. Das sinnliche Material ist nicht ablösbar von seinem Inhalt, der Inhalt nicht ablösbar vom sinnlichen Material. Zu fragen wäre eher, wie und warum es wirkt.
Einen ersten Überblick über die jüngere deutsche Gegenwartslyrik konnte man bereits in der 2003 von Jan Wagner und Björn Kuhligk herausgegebenen Anthologie „Lyrik von jetzt“ gewinnen. Hier wurde die neue Generation der Dichterinnen und Dichter mit je vier Gedichten in ihrer Formenvarianz und Vielstimmigkeit erkennbar. Natürlich haftet einer Auswahl immer etwas Willkürliches an, nicht nur mit Blick auf die Aufgenommenen, sondern auch durch die Behauptung, die Autoren und ihre Texte würde mehr verbinden als ihr Geburtsjahr, das sich zufällig innerhalb der gleichen Jahrgangsspanne findet. Die Inszenierung von Generationalität hat auch stets die Funktion, sich abzugrenzen von den (wenig) Älteren, der Tradition, in der man steht, und ist Ausdruck des Versuchs, eine neue zu beginnen.
Neben dieser vordergründigen Grenzziehung, die sich mehr oder weniger subtil gegen das Etablierte, Fad-Bekannte, die allzu lang gestrickte Masche richtet, findet eine solche scharfe Markierung aber darin ihre Berechtigung, dass sie rein subjektiv anmutende Erfahrungen, individuelle Erschütterungen zu denen einer (mit-)geteilten Gemeinsamkeit bündelt. Dies zeigte sich an dem zu Beginn des Jahrzehnts schon fast inflationär gebrauchten lyrischen „wir“, bei dem man oft nicht so recht wusste, wie und aus wie vielen Einzelnen es sich zusammensetzte, ob das nur ein Du und ein Ich war oder eine ganze Gruppe, eine auf Distinktion und Exklusion bedachte In-Group, denn ziemlich selbstreferentiell und undialogisch wirkte dieses Wir, allzu scharf seine Abkapselung vom Leser. „Wäre das bereits die kleinstmögliche Gruppe, wenn ich mit meinem lyrischen Ich unterwegs bin, mit meinem Subjektivitätsdummy, mit meinem persönlichen Container für Metrik und Fleiß?“, fragte Monika Rinck („Ah, das Love-Ding!“, Kookbooks 2006). Und ja, kaschierte dieses ominöse lyrische Wir nicht eine überindividuelle schizoide Haltung: sich der Welt gegenüber solipsistisch einzuspinnen, während es doch eine Verständigung von Ich zu Ich versucht? Damit aber wäre es ja gerade Ausdruck der Gegenläufigkeit der Bestrebungen, die am Beginn einer jeden sich konstituierenden künstlerischen Strömung steht: das individuelle künstlerische Potential zu verbinden mit dem einer Gruppe. Und so ist die Sammlung von Wagner und Kuhligk eben nicht nur Abbild des vorgefundenen Materials, sondern auch Steinbruch für weitergehende Auseinandersetzung und Entwicklung.
Und diese war, wenn man den Wagner-Kuhligk-Band als Gründungsdokument der jetzt Endzwanziger bis Anfangvierzigjährigen nimmt, von denen eine ganze Zahl inzwischen mit eigenen Lyrikbänden hervorgetreten ist, eine glückliche. Nicht nur mit Blick auf ihre primäre poetische Produktion, sondern auch poetologisch. Die Selbstverständigung, die ab der Mitte des zurückliegenden Jahrzehnts die lyrische Produktion zunehmend begleitet und reflektiert hat und in der es immer wieder darum ging, das Dichterische an der Dichtung, das „lyrische Potenzial“, wie Anja Utler es nennt, zu bestimmen, zeigt dabei – wie die Dichtung selbst – nicht nur eine genaue Kenntnis der lyrischen Tradition und des undogmatischen Umgangs mit ihr, sondern auch eine fruchtbare Entgrenzung: Nicht nur dass die deutsch-deutsche Vereinigung unter den jungen Lyrikern gelungen ist, auch was die Dichterinnen und Dichter seit jeher getan haben, zu übersetzen, hat mit der internationalen Vernetzung der literarischen Szenen noch zugenommen und wird mit Lust betrieben – und anders als in der Prosa, wo der angloamerikanische Kulturraum kaum verlassen wird, gehen die Streifzüge der deutschen Dichterinnen und Dichter auch ins Romanische, Slawische, Arabische, Ostasiatische. Der Gewinn aus diesem polyphonen Anregereservoir ist groß, an jeder fremden Sprache hängt schließlich eine ganze Kultur – deren Töne sich dann in den eigenen Texten niederschlagen: vordergründig als Fremdsprach-Implantate, hintergründig als metrische Struktur, syntaktische Verknappung, Versschema, Bildbrechung. Der Höhenflug der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartslyrik hat sich nicht zu geringen Teilen dieser Durchlässigkeit für die fremdsprachige Dichtung zu verdanken.
Zugute kommt den Dichterinnen und Dichtern dabei, dass die Lyrik eine Kunstgattung ist, die sich der kommerziellen Verwertbarkeit fast komplett entzieht. Die geringe Rezipientenzahl, die oft bedauert wird, hat zumindest den einen großen Vorteil: dass sie keinen Kompromiss im Anspruch erzwingt. Dass in der Literatur alles erlaubt ist – die Prosaschriftsteller haben es weitgehend vergessen (ein Band wie Ann Cottens „Florida-Räume“ ist rühmliche Ausnahme). Die Lyrik aber zeigt: Es gibt andere Realitäten, gleich nebenan, wagemutige, irrlichternde, verträumte, gespannte, freche, verrückte, intelligente, kopfverdrehende, sinnliche, welterzeugende.