Essay

Offen für Bewegung. Bettina Hartz über jüngere deutschsprachige Gegenwartslyrik.

Naturlyrik und (modernes) Biedermeier (Bossong, Wagner, Poschmann, Gumz, Schulz, Falb)

Obwohl, ähnlich wie in der Neuen Musik, auch in der Lyrik die Verbots- und Gebotsschilder, was Avantgarde, was Zopf ist, gefallen sind, die zwei, lange Zeit unversöhnlichen Blöcke, konventionell gegen experimentell, sich mehr und mehr aufeinander zu bewegt haben und eine große Unverkrampftheit gegenüber Metrum, Reim, strengen Formen wie eine Lust an Regel und Regelbruch herrscht, lassen sich doch noch immer zwei Tendenzen oder Pole ausmachen, zwischen denen sich das vielfarbige Spektrum der Dichtung bewegt: eine eher dem Erzähl- als dem Materialcharakter zuneigende Dichtung, die auf die Wiederbelebung alter Formen zurückgreift, sich dem hohen Dichterton anlehnt, auch wenn sie ihn zuweilen ironisch modernistisch bricht, im Ganzen betrachtet aber etwas brav wirkt, und einer formengebärenden Dichtung mit einer frechen, manchmal rotzigen, aus Vergangenheitssättigung und Gegenwartshingabe geborenen Sprache, die überrascht, vor den Kopf stößt, verführt.

Nora Bossong, Jan Wagner und Marion Poschmann neigen zweifellos dem ersten der beiden Pole zu. Ihre Gedichte sind weniger in einem klassischen als einem biedermeierlichen Sinne schön, zu sehr vertrauen sie darauf, dass Schönheit entsteht, indem man schöne Wörter aneinanderreiht, gebrochen durch eine Pointe hier und da. Das beginnt dann schon bald zu säuseln, weil zu wenig quersteht, blockiert, den Lesefluss, Zuhörfluss aufhält, schmirgelt, durchlöchert. Es irritiert, wenn Bossong, deren Gedichte gern in fragil-weichem Licht zittern, eine Vorliebe für irisierende Töne hat, diese Töne doch immer ähnlich schwebend hält, gleich, ob sie über drei verblühte Rosen schreibt, über drei tote Wachteln auf einem niederländischen Stillleben – oder den Ort, an dem Mussolinis Leichnam und der seiner Geliebten Claretta Petacci, kopfunter an den Träger einer Tankstelle gebunden, geschändet wurden.

 

Duce

Ins Klirren der Kirchen, Klingeln der Trams

schaukelt der Körper vom Dach einer Tanke,

plustert sich auf in der Hitze, ein stinkendes Pendel.

Wir stehen dabei, Jahrzehnte zu spät, zeitlich verzogen

unser Blick zur Traufe, und jetzt landen Möwen

auf dem balzheißen Bau, ein Gurren, ein Flattern.

Der Körper kopfüber umtänzelt die Zwergin,

zwei salzweiße Leichen, der Geruch von Benzin.

Drei Kugeln kehlig, vier in der Schulter,

ferner sind Lenden und Arm ruiniert,

ein Sieb, eine Siebesfeier, die wir beäugen,

den letzten Ball der beiden Bälger

und wir, zwei dahergelaufene Zeugen,

wissen wir denn, was Liebe war.

 

Das Gedicht, das Geschichte nur als Reservoir für nostalgische Sentimentalität benutzt, evoziert kaum mehr als eine Stimmung, deren konkreter Anlass im Grunde austauschbar ist – und hinterlässt, wie der ganze Band („Sommer vor den Mauern“, Hanser 2011), einen allzu abendlichtweichgezeichneten Eindruck.

Jan Wagner, inzwischen mit vier Lyrikbänden präsent, ist zupackender und konturenreicher. Aber auch bei ihm findet sich ein ungebrochenes Vertrauen in alte Formen und ein Ton, der mehr an C. F. Meyer erinnert als an einen Dichter des 21. Jahrhunderts.

 

chamäleon

älter als der bischofsstab,

den es hinter sich herzieht, die krümme

des schwanzes. (. . .)

                   die augenkuppeln, mit schuppen

gepanzert, eine festung, hinter der

nur die pupille sich bewegt, ein nervöses

flackern hinter der schießscharte (. . .)

 

In der geschliffenen Anwendung erprobter Mittel hat sich Wagner von Beginn an als begabt erwiesen, auch die „wir“-Mode der Aufbruchsjahre hat er mitgemacht, nur wirkt seine Lyrik, die die eigene Historizität kaum reflektiert, angestaubt und brav. Trotz virtuos gesetzter Endreime und swingendem Metrum ist er letztlich ein der narrativen Deskription huldigender Prosaiker – was fehlt, ist der Irritation auslösende Schwindel, ein Aussparung, die nicht leer ist, sondern eine Spannung herstellt zwischen zwei Elementen, die den Leser ins Gedicht zieht, als Mitbauenden, nicht ihn draußen stehen lässt als bloß zur Bewunderung angehaltenen Betrachter. Schönheit, will sie ergreifen, darf nicht Wiederholung eines Effekts, darf nicht intendiert sein, sondern muss sich im Prozess der Rezeption immer erst herstellen, nur so kann sie berühren, verwandeln. Die Perfektionierung des Bekannten macht aus Gedichten Gebrauchsgegenstände, im schlimmsten Fall Parodien.

Auch Marion Poschmann zieht es zu strengen Formen, symmetrischem Strophenbau, festem Metrum; aber ihre lyrische Welt ist komplexer gebaut. Wenn sie mit Wagner auch einiges, wie den narrativen, deskriptiven Trieb gemeinsam hat, ihre Sprache ist weniger gewiss, linear strukturiert, gibt den Assoziationen mehr Raum. Erkauft wird die größere Offenheit und Durchlässigkeit jedoch durch eine Vagheit des Stils, die zwar beabsichtigt sein mag (ihr letzter Gedichtband, „Geistersehen“, Suhrkamp 2010, variiert nicht nur thematisch Unschärfen, Vexierbilder, Erinnerungen), oft aber unsouverän wirkt. Geradezu inflationär ist der Gebrauch der Vergleichspartikel („etwas wie“, „wie“), das Fehlen von Verben und Artikeln oder eines spezifizierenden Attributs selten befriedigend („uns blieben Spuren von Bewegung“). Verstärkt wird der Eindruck durch das großzügige Ausstreuen von Unbestimmtheits-Adverbien („beinahe“, „fast“, „wohl“, „irgendwie“), die zwar das Zittrig-Verwischte flüchtiger Gefühle, Erinnerungen, Gedanken hervorrufen, jedoch nicht überzeugen, da die Mittel allzu sehr in Ohr und Auge fallen. „herbstlich und kühl ist es / herbstlich und kühl“, beginnt das Gedicht „Erinnerungen an was“, eine Leerzeile folgt, und mehr brauchte es nicht: hier beginnt der Aufflug. Das Sinnlich-Konkrete, Gegenwärtige hat Verführungskraft. Stark ist Poschmann da, wo sie die strenge Form, die sie zu oft mit überflüssigen Partikeln füllt, aufgibt, stattdessen einem Bild vertraut und diesem folgt:

 

Rheinisches Schiefergebirge

ich hatte versehentlich Teflon

zerkratzt, mit Metallbesteck

Umrißlinien prähistorischer Tiere

in eine unserer Pfannen gezogen

(. . .)

ins Spülwasser tropften

Mammute, Auerochsen, trafen auf die

verzerrte Spiegelung von Riesenhirschen

ich blieb ein Schwamm,

der uns bis hinter das Licht führte

triefend vor Müdigkeit

sie trocknete ab, faltete Ewigkeiten

auf Handtuchformat

 

Es mag auf den ersten Blick seltsam anmuten, eine ganze Phalanx von Dichtern, die den bereits eingangs erwähnten elitär-arroganten, urbanistischen Wir-Kult pflegen und von denen hier nur Tom Schulz, Daniel Falb, Alexander Gumz als Protagonisten genannt sein sollen, den Traditionalisten anzureihen. Ihre Verse, prosanah, emotionsscheu, lapidar, sind eine Sammlung von Oberflächenbeobachtungen, kühle parataktische Narrationen in räumlicher wie zeitlicher Unbestimmtheit („da gab es“, „oder ein anderer ort“, „einmal“, „dann“), mit großer Vorliebe für neutralisierende Plurale („foyers oder lobbys“, ,,knorrige damen“, „männer“), Passivkonstruktionen und neugefügte Komposita. Die Syntax wird nur wenig variiert, ebenso wie das Metrum, so entsteht ein dünner stakkatohafter Sound, der das lyrische Sentiment trockenlegt.

Handwerklich ist das so gut gemacht, dass sich die Wiederholung eine Zeit als Innovation ausgeben kann. Auf die Dauer aber wirken diese Gedichte, die zu viele nur behauptete Gewissheiten aneinanderreihen, wie dekorative Fertigkost. In ihr drückt sich, wenn auch in zeitgeistigem Vokabular, letztlich ein ähnlicher Konservativismus aus wie bei den Traditionalisten, nur nüchterner, freudloser. Er spiegelt das Lebensgefühl einer idiosynkratischen Generation, die ihre Erfahrungen vorrangig medial vermittelt macht, selbst die Ahnung, das Echo eines Gefühls als Bedrohung wahrnimmt und sogleich rationalisierend auf Distanz geht. Dass die Texte zweidimensional bleiben wie die Welt, die sie verhandeln, folgt aus der Logik ihrer mimetischen Poetologie. In ihr spiegelt sich eine Fin-de-Siècle-Existenz, geführt als Lebenssimulation, mit Ehrgeiz, aber ohne Enthusiasmus. Sie bildet ein homogenes Cluster aus Minimalbewegungen, an das nur noch das Ähnliche andocken kann.