Essay

Offen für Bewegung. Bettina Hartz über jüngere deutschsprachige Gegenwartslyrik.

Anarchie, gebändigtes Chaos, Erleuchtung (Cotten, Rinck, Utler)

Wie auch immer man die Anziehung, die ein Kunstwerk auf uns ausübt, nennen will, Reibung, ästhetischen Eigensinn, Geheimnis, erfahren wird er als eine Verrückung, eine Erschütterung unserer denkenden und fühlenden Beziehungen zur Welt. Die Qualität eines Gedichts (wie jedes Kunstwerks) bestimmt sich vor allem daraus: Ob es diese Erschütterung immer wieder neu herzustellen, sie zu verwandeln, zu steigern vermag, ob es, trotz der zunehmenden Vertrautheit im Detail, immer von neuem überrascht und irritiert. Die Schwierigkeit für die Literatur, die Lyrik insbesondere, besteht darin, dass diese Erfahrung in einem Medium gemacht wird, das sinnliche (Laut, Prosodie, Rhythmus) und sinnhafte Elemente vereint, das Klang- und Bedeutungsträger ist.

Das lyrische Potential auszuschöpfen, gelingt nur, wenn das Gedicht diesen Doppelcharakter der Sprache zum Vorschein bringt, und zwar auf beiden Ebenen: klanglich und thematisch. Damit einher geht das Aufscheinen seines Gemachtseins. Nur wenn dieses in seiner Struktur, die, wenn es gelungen ist, gleichzeitig eine gedankliche wie formale ist, aufscheint, kommt es nicht zu isolierter Betrachtung von Inhalt oder Form, sondern das Gedicht als Gedicht tritt in seiner Essenz hervor, transzendiert sich selbst, ist ein Integral, vollkommen offen und gleichzeitig unverfügbar. Wie bei der Kleinschen Flasche Innen und Außen ununterscheidbar sind, durchdringt es sich selbst, aber nicht als etwas Fertiges, als Produkt, sondern als Prozess. Der Ort, von dem aus sich diese Bewegung vollzieht, der Schreibort, Artikulationsort, ist dabei ebenso anwesend wie der des Hörenden, Lesenden. Sie befinden sich in einem Raum, einer Zeit: im hochkonzentrierten, gespannten Präsens des Textes, der seine Grenzen mit jeder Begegnung weiter ins Unendliche verschiebt.

Auf je eigene Weise haben Ann Cotten, Monika Rinck und Anja Utler einen solchen durch und durch präsentischen lyrischen Raum geschaffen. Der von Cotten ist wild, anarchisch, überschießend, verspielt. Ihre Gedichte sind nicht Resultate, sondern Versuche, frühromantischer Ästhetik folgend, die immer das Unfertige dem Fertigen, das Fragment dem Werk, die Heterogenität der Homogenität vorgezogen hat. Dass die zunächst empfundene Unordnung nicht ästhetischem Scheitern geschuldet, sondern vor allem Ausdruck der Überforderung des Rezipienten ist, zeigt sich nicht nur an Cottens erstem Band, den 2007 erschienenen „Fremdwörterbuchsonetten“ (Suhrkamp), die zwischen ??? und strenger Form frech Balance hielten und einer Neuerfindung der Gattung in Einzelgedicht wie Zyklus (Sonettenkranz) gleichkommen, sondern vor allem in den Prosa und Lyrik kombinierenden „Florida-Räumen“ (Suhrkamp 2010). Erst durch wiederholte Lektüren bilden sich hier allmählich die Wahrnehmungsstrukturen heraus, die in der scheinbaren Unordnung den hochkomplexen, alles andere als Willkür und Zufall gehorchenden Bau zu erkennen vermögen. „Wenn man (. . .) nicht erkennt, wie ein Werk sich wiederholt, dann ist dieses Werk beinahe buchstäblich unkenntlich und deshalb zugleich unverständlich. Es ist das Erkennen der Wiederholung, das ein Werk verständlich macht“, heißt es bei Susan Sontag. Die allmähliche Entdeckung der Muster, der Verschränkung von Mikro- und Makrostruktur aber verschaffen die Lust, die Ausdruck der Verwandtschaft von Lesen und Schreiben als schöpferischem Erleben ist.

Diese Lust findet man auch bei Monika Rinck – und in noch gesteigertem Maß. Was eine Vielzahl von Lyrikern im Einzelnen versucht, formal, tonal, thematisch, in ihren jüngst erschienenen „Honigprotokollen“ (Kookbooks 2012) ist all das zur Synthese geführt. Verblüffend und beglückend, wie sie in den Gedichten Mehrstimmigkeit erzeugt. Jedes Wort, jeder Vers, jeder Reim, jeder Klang (nirgendwo finden sich überraschendere, gelungenere Assonanzen, Konsonanzen, Alliterationen als bei Rinck, wie auch ihre Verbneologismen auf ganz neue Pfade verführen) ist mit dem ihm Benachbarten verknüpft, öffnet einen Sprachraum, in dem alles allem begegnet: die Tradition der Zukunft, der Ernst dem Humor, die Romantik der Klassik der Moderne, die Naivität der Analyse der Reflexion dem Hohn, die Poesie der Prosa der Poesie.   So lange ein solcher Text nicht in der Welt ist, ist er nicht vorstellbar, vorstellbar nicht mal, dass es ihn geben könnte. Ein klassisches Werk, in dem die gesamte abendländische Dichtungstradition mitschwingt, in die Texte hinein-, aus ihnen herauswachsend, was nichts anderes heißt als: ihre organische Struktur bildend.

„Man macht Gedichte aus Gegenständen, zu denen / man zärtlich für die Zeit der eigenen Verschiebung“, schreibt Cotten in den „Florida-Räumen“. Dichten heißt aufmerksam sein für das, was sich ereignet. Und zwar nicht als teilnehmender Beobachter, sondern als Liebender. Die Liebe aber folgt keinen Regeln, sondern gibt sich eigene. Und der Dichter, der dem organischen Wachstum des schöpferischen Prozesses als Liebender gegenübertritt, ebenso. Er wird dann nicht die Sprache benutzen für das Gedicht, sondern die Sprache selbst zur Sprache bringen.

Anja Utler ist weder an Mimesis noch Fiktion interessiert, sie braucht keine Vergleiche, keine Metaphern, sie überlässt sich in ihrer Dichtung ganz den Klangbewegungen. Es „geschieht“ nichts – außer in der Sprache. Der Leser aber erfährt gerade dadurch, was Sprache ist: Speicher einer Körperlichkeit, einer Gewalt, die sich in ihrem Gebrauch offenbart. Die, wie in „marsyas, umkreist“ oder „für daphne: geklagt“ („münden – entzüngeln“, Edition Korrespondenzen 2004), sich ihm, lesend, einzeichnet als Körpermarter, als grausame Verwandlung. Oder als das Unterholz durchpirschender Gang – der sich öffnet in eine Erleuchtung:

 

dann: auffalten, alles, dem hals und dem

dickicht ins: holz dringen, weiter, sich

abzweigen: finger, vom brustkorb, und

bloß gelegt, ordnen, die adern sich:

neu bahnen, werden zu: ausläufern

– folgen – sie zeigen auf: röhricht auf:

fasrig auf: ins gestrüpp münden – sickern –

den rippen nach, ästeln, dazwischen

– inmitten – erzeugt sich: der teich

 

Utlers Gedicht erzeugt, wovon es spricht. Wir müssen uns nur für seine sprachliche Bewegung öffnen, das heißt seinem Klang, seiner syntaktischen Struktur, der Offenheit seiner Form, der Polyvalenz und Schönheit seiner Sprache sowie den Assoziationen, die sie in uns auslöst, überlassen, ihm vertrauen und uns den eigenen Emotionen anvertrauen: Freude, Verwirrung, Begeisterung, Erschauern, Furcht. Es versetzt uns zurück an den Ursprung aller Dichtung, ihr Verwurzeltsein in Kult, Beschwörung, Magie. Macht aus uns, seinen Leserinnen und Lesern, exzentrischen Beobachtern, Erkunder von Relationen, Schwellenbewohner, durchlässig für neue Erfahrungen.

 


Der Beitrag erschien am 28.4.2013 in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" in gekürzter Form.


Bettina Hartz, 1974 geboren, arbeitet als Schriftstellerin und freie Kulturjournalistin, u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, »Die Zeit«, den »Freitag« und »Literaturen«. 2006 war sie Stipendiatin der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquium Berlin, 2013 Writer in Residence in Kroatien und Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin im Döblin-Haus. Ihr Reisebuch »Altfundland – Ansichten von Italien« erschien 2006, 2012 "Auf dem Rad" – eine Poetik des Radfahrens. Bettina Hartz lebt in Berlin. Sie wird in Zukunft regelmäßig für Fixpoetry schreiben. (Foto: Bettina Hartz © Alexander Berg)


Veranstaltungstipp:

Mi, 29. Mai 2013 | 20 Uhr | Berlin
Lesung aus "Auf dem Rad – Eine Frage der Haltung"
Bettina Hartz
Buchhandlung "LeseGlück"
Eintritt: 3 Euro
Ohlauer Straße 37, 10999 Berlin
Tel. 030/32 51 86 41

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