weitere Infos zum Beitrag
Essay
Kurz nachgedacht: über Stolterfohts seltsame Parolen
Gregor Dotzauer schlägt in einer Rezension zu der von Thomas Geiger herausgegebenen Anthologie „Laute Verse“ ob der Vielfalt der lyrischen Sprechweisen vor, sich auf einen Satz von Max Bense zu einigen, den Ulf Stolterfoht für „unangreifbar“ hält: „Literatur ist Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand.“ Das hört sich nach einer hochintelligenten, kaum zu überbietenden Feststellung an und ist, wenn man gründlich darüber nachdenkt, ein kurzgebratener Quatsch mit doppelter Käsesoße – Die Zustände, die Sprache in der Literatur annimmt, sind alles andere als unwahrscheinlich, sondern werden je nach Verursacher und Betreiber immer wahrscheinlicher. Ein Stolterfohtsches Gedicht ist nur jenseits von Stolterfoht unwahrscheinlich. Je mehr wir uns seiner Person und seiner Art der Sprachhandhabung und seinen Verfahren beim Umgang mit Sprache nähern, um so wahrscheinlicher wird es.
Man kann diesen Satz verändern: Literatur ist Sprache, die spezielle Motivationen spiegelt und in einem Zustand ankommt, zu dem das Fragen des Einzelnen hin will. Wer natürlich nach Un-Sinn fragt, wird im Un-Sinn ankommen, sehr wahrscheinlich oder sagen wir: ziemlich sicher sogar. Literatur ist so gesehen der wahrscheinlichste Zustand der Sprache des Einzelnen, der schreibend mit der Sprache umgeht. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß jemand, der poetische Momente in der Welt beschaut und sie beschreiben will, das unliterarisch tun würde. Und es ist sehr unwahrscheinlich, daß bspw. der Dichter Stolterfoht den aller unwahrscheinlichsten Zustand der Sprache, nämlich den nicht gesprochenen, wählen und vor sich hinschweigen würde, wenn er damit beschäftigt ist, ein Gedicht zusammenzubasteln, das sehr beredt und ganz bewußt Sprachnetze konstruiert. Er wird – sehr wahrscheinlich- ein literarisches Verfahren anwenden, das ihm das Gefühl vermittelt, damit ein Gedicht zu erzeugen.
Literatur ist auch der Zustand der Sprache, in dem die Wahrheit über ihre Möglichkeiten deutlicher zu Tage tritt als in der Alltagssprache, auch die Wahrheit über das Stolterfohtsche Gedicht – sie ist sehr viel wahrscheinlicher im Stohlterfohtschen Gedicht zu finden als in einer Boulevardzeitung. Der wahrscheinlichste Zustand der Sprache für das Stolterfohtsche Gedicht ist das Stolterfohtsche Gedicht.
In der „Poetologie in Bruchstücken“, die Ulf Stolterfoht 2008 für den Südwestfunk als Hörspiel geschrieben hat, ist das auch so in einem Zitat angedeutet: „Man kann nie mit Gewißheit behaupten, daß ein bestimmtes Wort in einem Text auftritt, höchstens mit Wahrscheinlichkeit. Das Auftreten ist abhängig von der Entscheidung des schreibenden Autors, die positiv oder negativ ausfallen kann. In trivialen Texten ist die Zahl der Entscheidungen gering, da der Konventionalismus, der Tropismus der Umgangssprache den Text von der Entscheidung des Autors suspendiert und das Auftreten eines Wortes also stark vorbestimmt ist. Aber in künstlerischen Texten fällt im allgemeinen der Autor Wort für Wort eine Entscheidung über ihr Auftreten, was ein Anwachsen ihrer Information bedeutet, also des Grades ihrer Unwahrscheinlichkeit.“
Das Ganze ist ein Allgemeinplatz. Natürlich wächst die Informationsmenge eines Textes mit fortschreitender Spezifizierung (die übrigens genauso eigenen autorinternen Tropismen oder Abstoßungen unterliegt), sie wächst nicht nur durch das Anschwellen der materiellen Quantität, sondern vor allem durch die Ausweitung der Bedeutung zu poetischen Möglichkeitsräumen mit bisweilen enormer Zusammenhangsvielfalt. Ein Text beginnt mit der Zunahme von Syntax semantisch zu leben, ganz unweigerlich. Es ist mir völlig neu, daß das ein unwahrscheinliches Geschehen ist.